Die Oralität im Werk von Horacio Castellanos Moya

Leonor Abujatum, Katja Hesse, Daniela Kozian, Daniel Nadig, Christian Rhode

 

1. Warum Oralität?

2. Allgemeine Theorie zur Oralität

3. Entstehung der Oralität in Lateinamerika

4. Oralität bei Horacio Castellanos Moya

5. El asco: Monodialog als Provokation

6. La diabla en el espejo

7. El arma en el hombre: Robocop als Figur der Stille

8. Insensatez

9. Fazit

Quellen

 

Las costumbres y normas guajiras son numerosas
Son algo así como las palabras que ustedes escriben
Ustedes escriben todas las cosas
Nosotros escribimos el nombre de las cosas con nuestra lengua
No las vemos sobre papel
Ellas están aquí, en nuestra garganta
Ellas son nuestras palabras, las cosas que nosotros decimos

Too´tra Pushaina, chamán guajiro, 1977

1. Warum Oralität?

Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit Oralität oder der gesprochenen Sprache im Werk von Horacio Castellanos Moya? Diese Frage ist im Grunde einfach zu beantworten. Schon nach kurzer Lektüre seiner Romane wird man entweder mit ungewohnt langen Sätzen konfrontiert, man liest einen Monolog oder wird Zeuge eines Gesprächs. Umgangssprache ist allgegenwärtig, seine Protagonisten erzählen und fluchen in den buntesten und wildesten Begriffen. Was bewirkt jedoch diese Verwendung der gesprochenen Sprache? Was für eine Reaktion ruft diese unkonventionelle Literatur hervor? Wir gehen erst auf allgemeine Theorien zur Oralität ein, um diese direkt oder in erweiterter Form auf ausgewählte Romane Castellanos Moyas anzuwenden.

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2. Allgemeine Theorie zur Oralität 

Was versteht man eigentlich unter Oralität? Im Alltag meint Oralität jeglichen Akt des Sprechens. Wir sind tagtäglich von Oralität umgeben, sei es in einem Gespräch, durch das Radio, das Fernsehgerät, das Telefon, ... Die Real Academia Española gibt folgende Definition zum Adjektiv oral:

oral. (Del lat. os, oris, boca). 1. adj. Que se manifiesta o produce con la boca o mediante la palabra hablada. Lección, tradición oral. 2. adj. Perteneciente o relativo a la boca. 3. adj. Fon. Dicho de un sonido: Que se articula expulsando el aire exclusivamente por la boca.

In der Theorie unterscheiden Pacheco (1995: 57ff.) und Osorio (1991: 243ff.) mindestens folgende Arten der Oralität: die Oralität bedingt durch Analphabetismus, die technologische Oralität, die traditionelle Oralität und die fiktionale Oralität. Die Oralität bedingt durch Analphabetismus findet sich in den Bevölkerungsschichten, denen Bildung verwehrt worden ist und die deshalb auf orale Ausdrucksweisen angewiesen sind. Die technologische Oralität wird durch audiovisuelle Massenmedien wie Fernsehen oder Radio vermittelt. Diese Medien greifen auf orale Ausdrucksformen zurück, da sie nicht in schriftlicher Form konsumiert werden. Die traditionelle Oralität ist ein kulturbedingtes Phänomen, das vor allem in indigenen Kulturen auftritt, in denen Geschichten mündlich weitergegeben werden und so das kollektive Gedächtnis der Gemeinschaft bilden. Dieses kulturelle Kapital wird von Generation zu Generation in Geschichten überliefert, was als Verfahren in der Fachsprache economía cultural, also kulturelle Ökonomie, genannt wird. Das Entscheidende dieser Art der Weitergabe ist, dass traditionelle Oralität kein bloßes Kommunikationsmodell, sondern ein Phänomen darstellt, das besonders die lateinamerikanische Gesellschaft kennzeichnet und zur soziokulturellen Dynamik beiträgt.

Die Art der Oralität, mit der wir uns beschäftigen, ist die fiktionale Oralität oder orale Literatur. Fiktionale Oralität besteht darin, auf verschiedenste Arten Oralität in schriftlichen (literarischen) Texten nachzuahmen. Hierbei ist anzumerken, dass eine authentische Mündlichkeit in der Literatur nicht möglich ist, sondern ein Paradox darstellt. Vielmehr handelt es sich hier um eine fiktionale Oralität, eine simulierte Oralität. Der Leser sollte sich bewusst sein, dass gerade diese narrative Strategie hochgradig konstruiert ist, da es sich um die Niederschrift eines natürlichen Gespräches handelt. In dem Moment, in dem Worte zu Papier gebracht werden, spricht man von einer narrativen Strategie, die zum Beispiel das Ziel verfolgen kann, den dominanten, allein auf Schriftlichkeit ausgerichteten Literaturdiskurs zu unterwandern.

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3. Entstehung der Oralität in Lateinamerika

Martin Lienhard vertritt in seinem Buch La voz y la huella (1992) den Standpunkt, dass die Einführung der alphabetischen Schrift durch die Europäer in Lateinamerika die Kultur eines ganzen Kontinents veränderte, eine Kultur, die bis zur conquista fast ausschließlich von Oralität geprägt war. Dieses Zusammentreffen zweier Kulturen hatte den Prozess der Transkulturierung zur Folge, ein Prozess, in dem sich Kulturen wechselseitig beeinflussen und eine neue entsteht. Im Falle der fiktionalen Oralität handelt es sich um die Vermischung von schriftlicher und mündlicher Form in der Literaturproduktion. Durch dieses Aufeinandertreffen von Europäern und indigenen Völkern ergaben sich nach langer Zeit alternative Literaturen, die sich durch das Hybride charakterisieren lassen. Einerseits entstammen diese Literaturen einer oralen Tradition, andererseits bedienen sie sich der Technik der alphabetischen Schrift, mit all ihren rhetorischen und kulturellen Bedeutungen (Vgl. Pacheco 1992: 18).

Auch wenn dieser Prozess bereits zur Zeit der conquista begann, ist die fiktionale Oralität erst seit den 1960ern in der lateinamerikanischen Literatur zu finden. Grund dafür war das hegemoniale Literaturkonzept der Europäer, das auch das Verständnis für Literatur in Lateinamerika prägte. Dieses Verständnis schloss orale Traditionen aus. Angel Rama etwa analysiert in La ciudad letrada (1992) den fundamentalen Beitrag der urbanen lateinamerikanischen intellektuellen Elite auf soziokultureller Ebene. Die Herrschaft der Eliten wird mit der Schrift in Verbindung gebracht, schon seit Beginn der conquista. Sie waren “los dueños de la escritura en una sociedad analfabeta” (Rama, Zitat nach Pacheco 1992: 16). Die Schrift wird als Instrument der Macht genutzt, nicht nur in der Literatur, sondern auch als administrativer Text oder als Schulbuch.

In der neueren Literatur wurde dieser Fokus verschoben. Die Autoren der Generation nach dem Boom sehen sich einer immer schneller verändernden Welt gegenüber. In dieser Welt reichen die konventionellen Ausdrucksmittel nicht mehr aus, um sie adäquat zu beschreiben. Sie versuchen nun, eine desacralización der konventionellen Literatur vorzunehmen, um so den immer vielfältiger werdenden Stimmen in der lateinamerikanischen Gesellschaft Raum zu bieten (Vgl. Osorio 1991: 248). Desacralización heißt in diesem Zusammenhang Entweihung und ist als Rebellion gegen die rigiden Normen der Literaturproduktion zu verstehen. Unter den vielfältiger werdenden Stimmen werden zum Beispiel die literarischen Produkte der Indios, der Frauen oder der sozial Ausgegrenzten gesehen. Diese Entweihung greift die Essenz des bisherigen Literaturverständnisses an, das sich vor allem über das Schriftliche definiert.

Diese Autoren brechen das hegemoniale Literaturkonzept auf. Osorio (1991) erkennt binäre Oppositionen zwischen der Welt des Zentrums und der der Peripherie, die beispielsweise folgende Gegenpole beinhalten: Stadt vs. Land; Zivilisation vs. Barbarei; männlich vs. weiblich; Erwachsener vs. Kind, Jugendlicher, Verrückter, Marginaler; weiß vs. schwarz, braun, gelb; heterosexuell vs. homosexuell. In der Literatur stehen sich das Schriftliche und das Orale, die aufgeklärte Kultur und die Populärkultur gegenüber. Dabei wird das Schriftliche dem Zentrum zugeordnet und die Oralität der Peripherie.

Die Kulturproduzenten des Zentrums legen fest, was gute Literatur ist und was nicht. Das Zentrum kann also als Produzent von klassischer Literatur angesehen werden. Auf der Seite der Peripherie wird diese andere Kultur von Akteuren produziert, die wenig kulturelles, ökonomisches oder institutionelles Kapital besitzen und deshalb vom dominanten Diskurs ausgeschlossen sind. Diese nehmen die marginalen Wertvorstellungen der Peripherie als Maßstab, um die Welt zu beschreiben. Es wird nicht mehr über das marginale Objekt geschrieben, wie in der klassischen Literatur üblich, sondern das Objekt selbst erzählt und erlangt so die Subjektposition. So bekommt es eine eigene Stimme.

Da diese Stimme der oralen (peripheren) Welt zugeordnet ist, versucht der Autor der fiktionalen Oralität dem Gesprochenen so nahe wie möglich zu kommen. Dadurch wird die literarische Oralität ihrem Ziel gerecht, eine heterogene, transkulturelle Multimedialität zu schaffen. So wird die orale Tradition zu einer Innovation.

Um Oralität in einem Text zu simulieren, werden verschiedene Strategien angewandt. Bevorzugte mögliche Stilmittel zur Erzeugung von Oralität sind zum Beispiel der Monodialog (Vgl. Pacheco 1995: 61) und der enunciador básico (Vgl. Osorio 1991: 251).

Der enunciador básico versucht dem syntaktischen Modell der Oralität so nahe wie möglich zu kommen. Damit kann sowohl ein unmittelbarer Erzähler gemeint sein, der ohne weiteren Filter zum Leser spricht, als auch eine Erzählung oder Grundinstanz (enunciación básica), die die Basis des Textes darstellt.

Der Monodialog, der den Eindruck erweckt, dass die Erzählfigur sich mit einem Gesprächspartner unterhält, ahmt das spontane Sprechen einer Person nach. Dieser Gesprächspartner kommt allerdings nicht zu Wort, obwohl die Erzählfigur ihn mit Fragen und Bemerkungen adressiert. Dessen Antworten werden, wenn überhaupt, nur von der Erzählfigur paraphrasiert oder so beantwortet, dass der Leser sich die Frage aus dem Kontext erschließen kann. So wird zum einen der Eindruck des Unmittelbaren erweckt, zum anderen die Glaubwürdigkeit, dass das Niedergeschriebene ein authentisches Gespräch ist. Der Leser wird zum virtuellen Zeugen eines Dialogs, wird aber nie direkt angesprochen.

Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, Oralität literarisch zu simulieren. Auch wenn diese Oralität nur simuliert ist, so ist sie doch ein effizientes Mittel, um Neues in der Literatur zu schaffen. Ferner zeigt sie, dass auch oder gerade in der Postmoderne der Prozess der Transkulturation noch nicht abgeschlossen ist und immer neue hybride Kulturformen entstehen.

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4. Oralität bei Horacio Castellanos Moya

Die theoretischen Ansätze zur Oralität sind nur bedingt auf das Werk von Castellanos Moya anwendbar, unter anderem deshalb, weil er Teil einer Literatur nach dem testimonio sein möchte. Im Gespräch mit uns betonte er mehrmals, dass er Oralität nicht bewusst eingesetzt habe. Trotzdem kann diese in seinem Werk gefunden und auch in der Analyse verwendet werden, wenn auch aus einer erweiterten Perspektive. Auf die Frage, warum in seinen Erzählungen die Verwendung von Umgangssprache so prägend stark präsent sei, antwortete Castellanos Moya:

Ich denke es gibt zwei Typen von Schriftstellern: die visuellen und die auditiven. Ich glaube zu der zweiten Gruppe zu gehören, wo der Ton, der Rhythmus und die Intensität der erzählenden Stimme, die Struktur und die Erzählgeschwindigkeit am wichtigsten sind, diese stehen vor der Fähigkeit zur Beschreibung von Räumen und Charakteren. Ich setze mich nur dann ans Schreiben, wenn ich die erzählende Stimme gehört und verinnerlicht habe, sei es in der ersten oder in der dritten Person. Und diese erzählende Stimme ist am Anfang gerade mal eine Intuition, dann wird sie zu einem  anschwellenden Murmeln, das schließlich aufbraust, und erst jetzt bekommt sie einen präzisen Ton und Rhythmus. Wenn diese Prosa einmal in Gang kommt, müssen Aktion und Abenteuer aus ihrem Rücken reiten (Ortiz Wallner 2006: 8).

Diese auditiv geprägte Schreibweise kann auch als eine Art der Oralität betrachtet werden.  Der Autor hört die Geschichten in seinem geistigen Ohr, was sich dann in der Struktur einiger seiner Werke wiederfinden lässt. Auf diese Weise verleiht er seinen Charakteren mehr Lebendigkeit und Authentizität.

Als Beispiel führte er im Gespräch während dem Seminar den Roman La diabla en el espejo an. Für ihn ist die Protagonistin Laura keine visuelle Figur, sondern vielmehr eine auditive. Hätte er sie in der dritten Person beschrieben, oder mit der indirekten Rede wiedergegeben, wäre sie seiner Meinung nach nicht mehr authentisch. Aus diesem Grund ist der Roman im Monodialog verfasst, um der Protagonistin eine eigene Stimme zu verleihen. Hier findet sich eine Parallele zu der Theorie der binären Opposition zwischen Zentrum und Peripherie von Osorio (1991). Auch wenn einige von Castellanos Moyas Protagonisten nicht unmittelbar marginalisiert sind, so kommen trotzdem Personen zu Wort, die sonst nicht wahrgenommen werden. Über Laura sagt er, einer Frau aus gutem Hause, „Nadie la oye porque habla tanto.“ In diesem Fall zeigt sich deutlich, dass es nicht immer eine soziale Marginalisierung sein muss, die durch Oralität aufgezeigt wird, sondern dass durch sie auch ein Individuum in einem angeblich funktionierenden sozialen Umfeld dargestellt werden kann.

Wie in einer mündlichen Erzählung treten die Protagonisten in Castellanos Moyas Werk als höchst subjektiv charakterisierte Personen auf. Einige können somit als enunciadores básicos gesehen werden, die die Welt aus einer ungefilterten Perspektive beschreiben. Die Erzählerin Laura in La diabla en el espejo und der Protagonist Edgardo Vega in El asco sind gute Beispiele zweier enunciadores básicos, da sie dem syntaktischen Modell der Oralität mit Hilfe des Monodialoges sehr nahe kommen. Als orale Grundinstanz, als enunciación básica, können die testimonios in Insensatez gesehen werden. Die zu Papier gebrachten oralen Aussagen von guatemaltekischen Indios stellen die Basis des Romans dar und bestimmen in der Folge das Leben des Protagonisten.

Ein weiteres Merkmal der fiktionalen Oralität sind Mikro- oder Minigeschichten (Vgl. Alemán Ocampo 1999: 154). Wie bei Gesprächen üblich, springt der Erzählende von einem Thema zum nächsten, ohne dass ein direkter Zusammenhang unter den einzelnen Geschichten zu erkennen ist. Bei Castellanos Moya sind solche Mikrogeschichten am besten innerhalb der Monodialoge in El asco und La diabla en el espejo zu erkennen. In El asco springt Vega nahezu nahtlos, jedoch auch sehr willkürlich, von einem Thema zum nächsten, während Laura in La diabla en el espejo immer wieder vom Hauptstrang – der Mord an ihrer Freundin Olga María – abweicht und sich über Nebensächlichkeiten auslässt.

Ein wichtiger Aspekt der Oralität in Castellanos Moyas Werk ist der Rhythmus der erzählenden Stimme. Die Art und Weise zu sprechen, charakterisieren die Ich-Erzähler oder Protagonisten in vielen seiner Romane. So kennzeichnet in El arma en el hombre die syntaktisch einfache Sprache den Erzähler Robocop als Figur der wenigen Worte, während der bedenkliche Geisteszustand des Protagonisten in Insensatez durch seinen stream of consciousness unterstrichen wird. Laura aus La diabla en el espejo charakterisiert sich durch ihre Sprache als typische lateinamerikanische Frau aus der Mittelschicht und in Edgardo Vegas atemlosen Abriss über die salvadorianische Gesellschaft in El asco erkennt man seinen Zorn und Ekel über diese.

Da der Ton und Rhythmus der erzählenden Stimme die Erzählung dominieren, rückt die für den Leser objektivierbare Beschreibung des Umfeldes in den Hintergrund. Die subjektive Wahrnehmung des Umfelds durch die Protagonisten erschwert es dem Leser, sich einen realistischen Eindruck desselben zu verschaffen. Nur über Bemerkungen, die aus dem Rahmen der eigentlichen Unterhaltung fallen, kann er sich ein Bild von der Umwelt der Protagonisten machen.

Die einzelnen Schicksale, die Castellanos Moya in seinen Romanen konstruiert, vervollständigen sich erst nach und nach, wenn man sein Gesamtwerk betrachtet und die Verknüpfung der Geschichten untereinander erkennt: mehrere Figuren treten nämlich in verschiedenen Texten auf, einmal als Haupt-, dann als Nebenfigur. So eröffnet sich dem Leser eine immer differenziertere Geschichte, die sich aus verschiedenen, oft mit Hilfe der Oralität dargestellten Perspektiven der Protagonisten zusammenfügt. Laura zum Beispiel erzählt in La diabla en el espejo ihre Sicht des Todes ihrer besten Freundin Olga María, dessen Hintergründe in El arma en el hombre aufgeklärt werden. Weitere Personen, die in mehreren seiner Romane auftauchen, sind zum Beispiel der Privatdedektiv Pepe Pindonga, Unterkommissar Handal  und die Reporterin Rita Mena (genauere Betrachtung dieses Aspektes bei ÜberLebensWissen).

Die unterschiedlichen Arten, Oralität zu simulieren, haben im Werk Castellanos Moyas eine gemeinsame Wirkung: sie schaffen Realitätsnähe. Im Gegensatz zum magischen Realismus, zum Beispiel, beschönigt die Sprache bei Horacio Castellanos Moya nichts. Durch die Verwendung von Umgangssprache und anderer narrativer Strategien wird geschickt Authentizität erzeugt. Seine fiktionale Oralität hilft, ein überzeugendes Bild der (brutalen) politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse Zentralamerikas nach den Bürgerkriegen darzustellen.

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5. El asco: Monodialog als Provokation

In El asco wird der Leser Zeuge eines Monologes, gehalten von Edgardo Vega, der von Erfahrungen und Eindrücken seines unfreiwilligen Aufenthaltes in San Salvador berichtet. Vega ist vor 18 Jahren aus dem zentralamerikanischen Land nach Kanada ausgewandert, musste aber auf Grund des Todes seiner Mutter zurückkehren, und unterhält sich nun mit Moya in einer cervecería in San Salvador.

Nicht Vega ist der Erzähler in El asco, sondern der fiktive Gesprächspartner „Moya“. Dieser erzählt aus der Ich-Perspektive (homodiegetischer Erzähler), kommt aber während der gesamten Erzählung selbst nicht zu Wort. Er gibt ausschließlich den Monodialog Vegas wieder. Dem Leser wird der Erzähler durch die permanente Wiederholung der Phrase „me dijo Vega“ unablässig in Erinnerung gerufen.

Der Autor Castellanos Moya greift in El asco bewusst das Bild El Salvadors an, indem er die Gesellschaft, die Kultur und die Politik des Landes in einem äußerst negativen Licht erscheinen lässt. Nach der Veröffentlichung des Romans musste er angesichts mehrerer Morddrohungen 1997 das Land verlassen. Wie kam es zu dieser extremen Reaktion innerhalb  El Salvadors?

In erster Linie provoziert die Thematik: Vega empört sich zum Beispiel über die Ungenießbarkeit des lokalen Biers und des Nationalgerichts, über salvadorianischen Fußball, über Parkanlagen, Monumente und Strände San Salvadors, aber auch über die Bewohner, sogar über seine früheren Schulfreunde und Verwandte. Neben dem inhaltlichen Affront provoziert auch die Art und Weise, in der Vega die unterschiedlichen Themen behandelt. Die Umgangssprache Vegas, eingebettet in einem Monodialog, der sein Gegenüber nicht zu Wort kommen lässt, verstärkt diese Provokation. Die narrative Strategie des Monodialogs wird in El asco als Mittel zur Provokation eingesetzt. Der Leser wird sehr nah an die Geschichte herangeführt, bekommt aber nicht die Möglichkeit, selbst aktiv am Gespräch teilzunehmen, zu ergänzen oder zu widersprechen. Der rasante und flüssige narrative Stil bewirkt außerdem, dass dem Leser das Ausmaß der Provokation erst gegen Ende der Lektüre bewusst wird.

Der Monodialog verstärkt die Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit des Gesagten. Der Leser von El asco bekommt den Eindruck, Zeuge der Abrechnung Vegas mit El Salvador zu sein, als ob er selbst in der cervecería am Nebentisch säße und das Gespräch mithören würde. Intensiviert wird dieser Eindruck durch die Gleichzeitigkeit zwischen der erzählten Zeit (ca. 2 Stunden) und der Erzählzeit. Außerdem betont die cervecería als Ort die Alltagssituation des Gesprächs und unterstreicht dadurch den realitätsnahen Charakter der Begegnung.

Besonders prägnant in El asco ist der rasante Erzählfluss Vegas. Dieser wird wiederum durch den Monodialog gesteigert. Vega redet ununterbrochen und gibt seinem Gegenüber keine Möglichkeit, ihn zu unterbrechen oder zu widersprechen, obwohl er die Figur „Moya“ mit Fragen und Bemerkungen in seinen Monodialog miteinbezieht: „[...] sólo vos, Moya [...]“ (Castellanos Moya 1997: 14); „¿te parece poco, Moya?“ (16). Ähnlich ergeht es dem Leser, der glaubt, unmittelbarer Zeuge des Gesagten zu sein. Noch mehr als der fiktive Moya sieht er sich dem Erzählfluss hilflos ausgeliefert. Die Geschwindigkeit und Atemlosigkeit des Monodialogs bewirkt darüber hinaus, dass er ununterbrochen weiterlesen muss, um erst am Ende des Romans die wahren Ausmaße des Gesagten, der direkten Provokation, zu realisieren. Dem Leser wird kaum Zeit gegeben, den Inhalt von El asco zu verdauen, sich der Flut der Informationen bewusst zu werden.

Diese Realitätsnähe des Monodialogs wird dadurch unterstützt, dass Vega sich willkürlich über verschiedene (Mikro-) Themen auslässt, die in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen scheinen. Das Nichtvorhandensein einer logischen Struktur in der Abfolge der Themen unterstreicht – ähnlich wie in La diabla en el espejo – den oralen Charakter von El asco. Vega brüskiert sich über die Themen, die ihm spontan einfallen. So wechseln sich Banalitäten wie Essen oder Beschreibungen der Landschaft (Parks, Strände) mit Patriotismus, Bildung oder der Geschmacklosigkeit der gesamten Nation ab.

Dieser willkürliche und zornige Abriss einzelner (Mikro-) Themen bedingt zwangsläufig eine umgangssprachliche Bewältigung. Durch den Einsatz von Umgangssprache als Stilmittel wird die Provokation stilistisch verstärkt. Neben vulgären Begriffen und Kraftausdrücken finden sich auch unzählige Wiederholungen von Phrasen:

 

A mí me encanta venir al final de la tarde, sentarme aquí en el patio, a beber un par de whiskis, tranquilamente, escuchando la música que le pido a Tilín, me dijo Vega, no sentarme en la barra, allá adentro, mucho calor en la barra, mucho calor allá adentro [...]. Es el único lugar donde me siente bien en este país, el único lugar decente, las demás cervecerías son una inmundicia, abominables, llenas de tipos que beben cervezas hasta reventar, no lo puedo entender, Moya, no puedo entender cómo esta raza bebe esta cochinada de cerveza con tanta ansiedad, me dijo Vega, una cerveza cochina, para animales [...] (11)

 

San Salvador es horrible, y la gente que la habita peor, es una raza podrida, la guerra trastornó todo, y si ya era espantosa antes de que yo me largara, si ya era insoportable hace dieciocho años, ahora es vomitiva, Moya, una ciudad realmente vomitiva, donde sólo pueden vivir personas realmente siniestras, o estúpidas [...] (21f.) (Herv. v. Verf.)

Trotz Realitätsnähe, die der Monodialog erzeugt, trotz des Ortes und der Thematik bleibt eine gewisse Distanz zum Gesagten. Nicht Vega, sondern „Moya“ erzählt in El asco. Es besteht eine doppelte Brechung, geprägt einerseits von der Distanz durch die Perspektive der stummen Figur „Moya“ und andererseits von der durch den Monodialog erzeugten Nähe zum Erzählten. Der Autor Castellanos Moya kann nicht direkt zur Rechenschaft für den Inhalt in El asco gezogen werden, da er nichts, was im Roman steht, selber sagt. Trotzdem verwischt der Text die eindeutigen Grenzen zwischen dem Autor, der Erzählinstanz und der Figur „Moya“. Dies fördert die Verwechslung zwischen dem Autor Castellanos Moya und der Figur „Moya“. Das Vorwort unterstützt zusätzlich die Verwirrung zwischen Realität und Fiktionalität:

Edgardo Vega, el personaje central de este relato, existe: reside en Montreal bajo un nombre distinto –un nombre sajón que tampoco es Thomas Bernhard. Me comunicó sus opiniones seguramente con mayor énfasis y descarno del que contienen en este texto. Quise suavizar aquellos puntos de vista que hubieran escandalizado a ciertos lectores. (9)

Auf die Frage, warum der Autor eine Figur namens „Moya“ als Erzähler benutzt, antwortete er: „Usé el narrador Moya para molestar.“ Er selbst ist als erster Hörer von Vegas Monolog im Text präsent, und indem er schweigt, indem er nicht widerspricht, bestätigt er implizit die Tirade des Sprechenden. Es war Castellanos Moya offensichtlich bewusst, dass der Roman in dieser Form besonders provozierend ist und die Aussagen Vegas auf seine Person bezogen werden.

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6. La diabla en el espejo

Wie in El asco wird der Leser in La diabla en el espejo Zeuge eines Monodialogs, in diesem Falle jedoch aus der Perspektive einer Frau aus einer höheren Schicht. Die Ich-Erzählerin Laura schildert ihre subjektive Sicht auf die Vorgänge, die den Mord an ihrer Freundin Olga María betreffen. Auch hier nimmt fiktionale Oralität eine besondere Bedeutung ein und verleiht dem Werk eine besondere Tiefe.

Auf der sprachlichen Ebene fallen die kurzen und syntaktisch einfach strukturierten Sätze auf, die gekennzeichnet sind von einem einfachen Vokabular. Ferner finden sich thematische Wiederholungen. Die Protagonistin Laura empört sich unentwegt über Nebensächlichkeiten. So zum Beispiel ärgert sie sich über die Hitze in der Kirche:

Qué calor más horrible hacía en esa iglesia, niña. […] Deberían poner aire acondicionado en las iglesias. No creás que es la primera vez que lo pienso: te aseguro que si los curas pusieron aire acondicionado una iría más seguido. […] Por un momento sentí que el maquillaje se me comenzaría a correr con tanto sudor. […] Pero ahora esperemos que este aire acondicionado enfríe rápidamente. He sudado tanto […] (Castellanos Moya 2000: 45)

Wiederholungen sind typische Merkmale eines realitätsnahen Dialoges. Der jeweilige Sprecher wiederholt einen für ihn wichtigen Aspekt und unterstreicht somit dessen für ihn momentan wesentliche Bedeutung.

Das Hauptstilmittel, um fiktionale Oralität zu erzeugen, ist hier also die Anwendung des Monodialogs, in dem Laura einer Person, die sie unablässig mit niña anredet, die Vorgänge zur Aufklärung des Mordes schildert. Wie auch in El asco verstärkt die narrative Technik des Monodialogs die Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit des Gesagten. Der Leser bekommt das Gefühl, direkter Zeuge des Erzählten zu sein. Hervorzuheben ist, dass, anders als in El asco, hier mehrere Monodialoge an unterschiedlichen Orten stattfinden. Diese Reihe von Monodialogen bilden die Struktur des Romans. So ist der Roman in neun Kapitel aufgeteilt, in denen jeweils ein Monodialog an einem bestimmten Ort und zu unterschiedlichen Zeiten gesprochen wird. Die Gleichzeitigkeit zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit findet sich nur innerhalb der Kapitel.

Des Weiteren sind die Monodialoge geprägt durch Lauras rasanten Erzählfluss, der durch die Einfügung von Mikrogeschichten noch beschleunigt wird. Diese Mikrogeschichten sind Nebensächlichkeiten und Banalitäten, wie Bemerkungen über Musik oder Äußerlichkeiten anderer Personen. Sie lenken vom roten Faden ab, helfen aber, den oberflächlichen Charakter der Protagonistin zu konturieren. Trotz der Abschweifungen Lauras in Banalitäten gelingt es Castellanos Moya durch die narrative Technik des Monodialogs, durchgehend Spannung zu erzeugen.

Eine weitere Strategie, um fiktionale Oralität zu erzeugen, beruht auf dem Anspruch, denjenigen in der Gesellschaft Raum zu geben, die keine Stimme haben. Zum Beispiel wird in El arma en el hombre einer Person eine Stimme gegeben, die nach der Demokratisierung des Landes keinen Platz in der Gesellschaft findet. Auf den ersten Blick scheint Laura in La diabla en el espejo nicht marginal zu sein, da es sich um eine gut situierte Frau der salvadorianischen Oberschicht handelt. Allein die Tatsache, dass sie eine Frau ist, ist unzureichend, um sie als marginalisierte Person darzustellen. Wie sich zum Ende des Romans erschließen läßt, scheint Laura verrückt geworden zu sein. Ihre Marginalität zeigt sich in ihrer verdrehten Sicht der Gesellschaft, die durch die Paranoia gegenüber dem Mörder ihrer Freundin verstärkt wird. Oder aber, sie ist die einzige, die wirklich über den Mord nachdenkt, und weil sie ihre Schicht damit stört, wird sie für verrückt erklärt und eingewiesen.

Bei La diabla en el espejo wird streckenweise der Eindruck vermittelt, als wolle Castellanos Moya eine Telenovela simulieren. Die Strukturen einer Telenovela sind ähnlich denen des Romans. Eine Frau der Oberschicht spielt die Hauptfigur und die Handlung entwickelt sich schnell. Beginnend mit dem Mord an Olga María werden dem Leser in den ersten beiden Kapitel die Beziehungen der Akteure zueinander dargelegt sowie die möglichen Täter ermittelt. Ein weiteres tragendes Element einer Telenovela ist die Dreiecksbeziehung, die sich auch in den Affären Olga Marías wiederfinden lässt. So ist zum Beispiel ihre erste Affäre, Julio Iglesia, gleichzeitig auch der Geschäftspartner ihres Mannes Marito. Außerdem lässt sich in dem Roman die für Telenovelas übliche melodramatische Grundstruktur erkennen. Die scheinbar harmonische Ordnung des Ehe- und Familienlebens Olga Marías wird durch den Mord aus den Angeln gehoben. Ihre Affären kommen erst nach ihrem Tode ans Licht.

Auf der thematischen Ebene sind ebenfalls Parallelen zur Telenovela zu erkennen. Die Personen sind schöne, reiche Menschen, wobei Männer von Laura besonders hervorgehoben werden. Hinzu kommen die klassischen Intrigen und Affären, sowie ein daraus resultierendes Machtspiel, geprägt von Misstrauen der Protagonisten untereinander.

Vor diesem Hintergrund sticht dann umso schärfer hervor, dass der Roman kein Happy- End hat, sondern mit einer paranoiden Protagonistin und einem vertuschten Mord endet.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass fiktionale Oralität dem Roman die entscheidende ästhetische Dimension gibt, um ihn aus der Banalität und Oberflächlichkeit der Protagonistin zu befreien. Durch die narrative Strategie des Monodialogs gelingt es Castellanos Moya, den Leser trotz der Einfachheit der Sprache zu fesseln.

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7. El arma en el hombre: Robocop als Figur der Stille

In El arma en el hombre wird der Leser nicht direkter Zeuge eines Monologes, sondern in die Gedankenstruktur des Ich-Erzählers Robocop eingeführt. In höchst subjektiver Form wird der Versuch des Ex-Soldaten erzählt, eine neue Rolle in der Gesellschaft der Nachkriegszeit zu finden. Dies stellt sich für ihn als schwierig heraus, da der Krieg seine Lebensaufgabe war.

In diesem Roman funktioniert die Anwendung der erläuterten Theorie nicht sofort, sie muss hier erweitert werden. Castellanos Moya hat, wie er selbst im Gespräch mit uns sagte, versucht, diesen Roman in der dritten Person zu schreiben, doch es ist ihm nicht gelungen, da es für ihn falsch klang. So hat er sich in den Protagonisten Robocop hineinversetzt und aus der Perspektive eines emotionslosen Killers, der Befehle ohne Fragen entgegennimmt, noch einmal geschrieben. Ähnlich wie in La diabla en el espejo und El asco hat der Leser es mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun, der jedoch keinen direkten Ansprechpartner hat, was einen Monodialog ausschließt. Wie bereits erwähnt, erfährt man nur die Gedanken Robocops, die aber auf Grund ihrer Struktur viele typische Merkmale der Oralität aufweisen, wie zum Beispiel Wiederholungen, einfache Struktur und kurze Sätze.

Dennoch kann man auch in diesem Roman doch von fiktionaler Oralität sprechen, denn Robocop sagt von sich selbst, er sei „un hombre de pocas palabras“ (Castellanos Moya 2001: 41), sowie „palabras no eran mi fuerte“ (82). In gewissem Sinne ist diese Nicht-Oralität, die uns Lesern als kurze und knappe Gedanken vermittelt werden, seine Art zu reden und sich mitzuteilen. Als Auftragskiller, der keine Position in der Gesellschaft findet und somit Außenseiter ist, bleibt er eine Figur der Stille. Es gibt für ihn keine anderen Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Selten vertraut er sich Personen an und redet offen, etwa gegenüber der Prostituierten Vilma, die er sofort danach tötet, da für ihn als Mörder Wissen anderer über ihn zum Tod führen kann. Zum anderen spricht er nach seiner Gefangennahme in Las Flores über sich, aber auch nur, da sein Leben ernsthaft in Gefahr ist und ihm gesagt wird, dass er ohnehin schon ein toter Mann sei: „sos hombre muerto, llegaste a un lugar que no existe“ (77). Auch die äußeren Begebenheiten für eine Unterhaltung müssen für ihn stimmen. So führt er diese nur an ihm vertrauten Orten (mit Ausnahme Las Flores). Da er ständig in Bewegung ist und so kaum an einem vertrauten Ort zur Ruhe kommt, sind Gesprächssituationen selten.

Beim Leser, der durch diese Perspektive in die Gedanken einer Figur versetzt wird, löst dies in der Regel eine Identifikation mit dem Protagonisten aus. Bei El arma en el hombre passiert jedoch das Gegenteil. Es kommt zu einer Distanzierung und Nicht-Identifikation. Der Leser kann sich dem Schrecken nur schwer entziehen, der durch die Emotionslosigkeit, mit der Robocop agiert, hervorgerufen wird. Zum Beispiel tötet er einfach einen Angestellten in einem Reisebüro für etwas Geld: „No me gustó la forma como me miraba. Tomé el dinero y le disparé en la sien” (56). Für ihn sind Überfälle und (Auftrags-)Morde lediglich Mittel um zu überleben. Die Morde an sich werden von ihm kaum beschrieben und auch auf anwesende Zeugen nimmt er keine Rücksicht. Die einzige Person, die ein Treffen mit Robocop überlebt, ist die Besitzerin des Fluchtwagens, nachdem er Olga María umgebracht hat. Ihr gelingt es, ihn durch ihr vieles Reden so zu verwirren, dass er sie nicht tötet. Sie überlebt also durch exzessive Oralität.

Für Robocop ist die Beschreibung der von ihm verübten Gewalttaten nebensächlich. Viel genauer werden die Vorbereitungen beschrieben. Sowohl in seiner Handlung als auch in seiner Sprache hält er sich nicht mit Überflüssigem auf, sondern nur mit dem für ihn Essentiellen. Über seinen Umgang mit Sprache charakterisiert er sich, und dem Leser wird so seine Identität nahe gebracht.

Auch Robocop ist, wie viele andere Protagonisten Castellanos Moyas, als marginalisierte Person zu sehen. Er hat nichts anderes als den Krieg kennen gelernt und musste sein Leben lang nur Befehlen folgen, die bei guter Ausführung bezahlt wurden. So hat er noch niemals etwas hinterfragt und wechselt auch anstandslos die Seiten, um zu überleben. Er ist apolitisch und verfolgt keine bestimmten Ziele. Sein stilles Marionettendasein hilft ihm dabei, unbeschadet weiterzumachen und nicht den Verstand ob all der Grausamkeiten um ihn herum zu verlieren. Sein Überleben sichert er durch Schweigen, Nicht-Oralität.

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8. Insensatez

Der Roman Insensatez unterscheidet sich maßgeblich von den anderen hier analysierten Werken. Der Leser trifft weder auf einen Monodialog, noch repräsentiert der Ich-Erzähler fiktionale Oralität. Der Protagonist ist zwar auch eine marginalisierte Person, aber die eigentliche Oralität findet sich in den testimonios, niedergeschriebene Zeugenaussagen guatemaltekischer Indios über die Gräueltaten des Militärs an ihrem Volk.

Der Erzähler bekommt den Auftrag, diese testimonios redaktionell zu bearbeiten, damit sie in einem Bericht veröffentlicht werden können. Er befindet sich in einem fremden Land und soll helfen, Teile der Geschichte aufzuarbeiten. Von der Kraft der Sprache der testimonios beeinflusst, kann er sich nicht frei bewegen, da er zunehmend unter stärker werdender Paranoia leidet. Der Erzähler reagiert auf die Zeugnisse der Indios so stark, dass er sich immer mehr aus der Gesellschaft zurückzieht, bis er schließlich ins Exil flieht.

Für den Leser bleibt jedoch unklar, ob seine Verfolgungsängste gerechtfertigt oder bloß Einbildung sind. Ebenso wie in La diabla en el espejo wird eine höchst subjektive Wahrnehmung des Geschehens wiedergegeben. Im Gegensatz zu La diabla en el espejo jedoch nicht als Monodialog, sondern mittels eines homodiegetischen Erzählers, dessen Gedanken der Leser in Form eines innerer Monologes – stream of consciousness – verfolgen kann. Der Eröffnungssatz des Romans „Yo no estoy completo de la mente“ (Castellanos Moya 2004: 13), ein Zitat eines Indios, bezogen auf die Tatsache, dass er der brutalen Ermordung seiner Kinder und seiner Frau zusehen musste, spiegelt nicht nur den Geisteszustand des Überlebenden wieder, sondern auch den des Erzählers. Dieser macht sich diese Aussage zu eigen, indem er sie immerzu wiederholt (Vgl. Grinberg Pla 2005: o.s.). Dadurch wird sie für ihn fast zum Leitsatz, der ihn durch seine Arbeit in Guatemala führt.

Diesen einen Leitsatz hat er für sich einem der testimonios entnommen, die durch den Erzähler in Auszügen wiedergegeben werden. Somit ist er Mediator zwischen dem Leser und den Aussagen der überlebenden Indios. Die Oralität findet sich also in den verschriftlichten Darstellungen wieder, die folglich die enunciación básica, die primäre Aussage, ist. Allerdings werden dem Leser durch die subjektive Wahrnehmung des Erzählers nur Ausschnitte mitgeteilt, weil dieser die Möglichkeit hat, zu zensieren und zu verändern. Auch wenn er die Berichte nur grammatikalisch korrigieren soll, ist er die Instanz, die entscheidet, wie und welche Aussage schlussendlich wiedergegeben wird. Dies kann er nach persönlichen Kriterien tun. Dadurch wird die Problematik deutlich, dass die Verschriftlichung oraler Zeugenaussagen immer eine Veränderung bedeutet. Darüber hinaus schafft die Zwischeninstanz des Erzählers eine Distanz zwischen dem Leser und den testimonios, bzw. den Erfahrungsberichten der Indios.

Eine weitere Distanz zu den Zeugenaussagen ergibt sich für den Leser bei der Betrachtung von deren Sprache. Diese ist nicht wie in einigen anderen Romanen Castellanos Moyas umgangssprachlich, sondern in ihrer Anwendung für uns unüblich. Der Erzähler staunt über die poetische Kraft einzelner Sätze in den Zeugenaussagen, die er sich notiert:

Se queda triste su ropa ... (Castellanos Moya 2004: 30). […] Las casas estaban tristes porque ya no había personas dentro… (31). […] Tres días llorando, llorando que le quería yo ver. Ahí me senté debajo de la tierra para decir ahí está la crucita, ahí está él, ahí está nuestro polvito y lo vamos a ir a respetar, a dejar una su vela, pero cuando vamos a poner la vela no hay donde la vela poner… (32).

Dieser ungewohnte Umgang mit Sprache bewirkt eine gewisse Distanz zu den Aussagen und den Indios selbst. Normalerweise wird zur Beschreibung solch schrecklicher Erlebnisse eine andere Art von Sprache – kräftiger und anklagender – erwartet. Hier jedoch wird der Schrecken, der in den testimonios zum Ausdruck gebracht wird, durch die Fremdheit der Sprache verstärkt, und indem der Erzähler deren Ästhetik so betont, steht ihre (vermeintliche) Authentizität eher im Hintergrund.

Der Erzähler ist von dieser Fremdheit fasziniert, so dass er sich einige Aussagen aufschreibt, um sie anderen mitzuteilen, da er sie für künstlerisch wertvoll hält. Mit dieser zunehmenden Identifikation stößt er allerdings auf Unverständnis, da für andere nur der Inhalt eine Rolle spielt, der helfen soll, die Geschichte aufzuarbeiten. Durch seine intensive Annäherung auf die Texte nimmt er implizit die (marginale) Position der Indios ein, die ihn an den Rand der Gesellschaft stellt.

Diese Marginalisierung wird dadurch verstärkt, dass er sich streckenweise emotional an den Schicksalen der Indios beteiligt. Durch sein Nachempfinden der erzählten Erlebnisse erfolgt eine Identifikation mit ihrem Leben, die ihn in deren periphere Welt versetzt und ihn immer mehr vom Zentrum trennt. Diese Identifikation versetzt ihn in einen Konflikt zwischen den eigenen Interessen als lohnabhängiger weißer Städter und seiner neuen Wahrnehmung der Indios. Durch diese Erweiterung seiner Sichtweise fühlt er sich von allen Seiten bedrängt und leidet unter zunehmender Paranoia, insbesondere vor dem Militär. Er soll weiterhin ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft sein und seine Arbeit zu Ende bringen, was für ihn auf Grund der Wahrnehmung seines Umfeldes nicht mehr möglich ist.

Er dringt soweit  in die von Oralität geprägte Welt der Indios ein, dass er zum Schluss  des Romans im Exil unzensiert herausschreit: „¡Todos sabemos quiénes son los asesinos!“ (153ff.).

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9. Fazit

Die fiktionale Oralität findet sich erst seit den 1960ern in der lateinamerikanischen Literatur. Ihre Autoren versuchen, eine desacralización der konventionellen Literatur vorzunehmen, um so der gesamten lateinamerikanischen Gesellschaft Raum zu bieten, zum Beispiel den Indios, den Frauen oder den sozial Ausgegrenzten. Diese neue Literatur, zum Beispiel das testimonio,  kann als Rebellion gegen die rigiden Normen der Literaturproduktion verstanden werden.

Die theoretischen Ansätze zur fiktionalen Oralität sind nur eingeschränkt auf das Werk von Castellanos Moya anwendbar, unter anderem deshalb, weil er Oralität nicht bewusst einsetzt und auch nicht Teil der testimonio-Literatur sein möchte. Trotzdem finden sich im Werk Castellanos Moyas unterschiedliche Arten, Oralität zu simulieren. Monodialoge kennzeichnen El asco und La diabla en el espejo, während der Protagonist in El arma en el hombre durch seine Gedanken charakterisiert wird, die typische Merkmale der gesprochenen Sprache aufweisen. In Insensatez wiederum dreht sich die Handlung um testimonios, niedergeschriebene Zeugenaussagen überlebender Indios nach dem Bürgerkrieg. Diese unterschiedlichen Verfahren der fiktionalen Oralität haben bei Castellanos Moya eine gemeinsame Wirkung: sie schaffen Realitätsnähe. Seine Sprache beschönigt nichts. Durch die Verwendung von Umgangssprache und anderer narrativer Strategien wird geschickt Authentizität erzeugt. So hilft die fiktionale Oralität, ein überzeugendes Bild der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse Zentralamerikas darzustellen.

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Quellen

Primärliteratur

Castellanos Moya, Horacio (1997): El asco. Thomas Bernhard en San Salvador. San Salvador.

Castellanos Moya, Horacio (2000): La diabla en el espejo. Ourense.

Castellanos Moya, Horacio (2001): El arma en el hombre. México, D.F.

Castellanos Moya, Horacio (2003): Donde no estén ustedes. Barcelona.

Castellanos Moya, Horacio (2004): Insensatez. Barcelona.

 

Sekundärliteratur

Alemán Ocampo, Carlos (1999): „Oralidad en el discurso narratológico en ‘Vida y amores de Alonso Poalomino’”, in: Rodríguez Rosales, Isolda (Hg.): Una década en la narrativa nicaragüense y otros ensayos. Managua, 145-159.

Grinberg Pla, Valerie (2007): „(Un-)möglichkeiten der Erinnerung: der Genozid an den Maya in Horacio Castellanos Moyas Roman Insensatez“, in: Anja Bandau, Albrecht Buschmann, Isabella von Treskow (Hg.): Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin: Trafo Verlag.

Lienhard, Martin (1992): La voz y su huella: escritura y conflicto étnico-cultural en América-Latina, 1492-1988. Lima.

Millay, Amy Nauss (2005): Voices from the fuente viva: The Effect of Orality in Twentieth-Century Spanish American Narrative. Lewisburg.

Ortiz Wallner, Alexandra (2006): “Überlebenskraft ist ein ‘Guanako-Gen’”, in: LiteraturNachrichten 88, 7-9.

Osorio T., Nelson (1991): „Ficción de oralidad y cultura de la periferia en la narrativa mexicana e hispanoamericana actual”, in: Karl Kohut (Hg.): Literatura mexicana hoy: Del 68 al ocaso de la revolución. Frankfurt a. M., 243-252.

Ostria González, Mauricio (2001): „Literatura oral, oralidad fictiva“, in: Estudios filológicos 36, 71-80.

Pacheco, Carlos (1989): „Trastierra y oralidad en la ficción de los transculturadores”, in: Revista de critica literatura latinoamericana 29, 25-38.

Pacheco, Carlos (1992): La comarca oral. Caracas.

Pacheco, Carlos (1995): „Sobre la construcción de lo rural y lo oral en la literatura hispanoamericana”, in: Revista de critica literatura latinoamericana 42, 57-71.

Rama, Ángel (1984): La ciudad letrada. Hannover (EEUU).

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14469 Potsdam

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Horacio Castellanos Moya, fotografiert von Moramay Herrera Kuri (Mexiko)