Die Bedeutung von Gedächtnis und Identität in zwei Werken von Horacio Castellanos Moya

Anke Schünemann, Andreas Rothe, Josephine Schiller, Heidi Titze, Jens Elze

 

1.     Warum Memoria und Identität?

2.     Zur Memoria

2.1.  Theoretische Annäherung an Memoria

3.     Zur Identität

3.1.  Identitäten im historischen Wandel

3.2.  Identitätskonstruktionen in Zentralamerika

4.     Erinnerungen und Identitäten in Donde no estén ustedes

4.1.  Erinnerung als Strohhalm

4.2.  Spiel mit Identitäten

5.     Erinnerungen und Identitäten in Insensatez

5.1.  Verschwiegene Erinnerung

5.2.  Fragmentierte Identitäten in Zeiten des Chaos

6.     Erweiterung des Gedächtnisses

7.     Quellen

7.1.  Primärliteratur

7.2.  Sekundärliteratur

 

„¿Adónde pertenezco, entonces?
¿Cuál es el cimiento de mi identidad como hombre y como escritor?
La única respuesta que se me ocurre es ésta: la memoria.“
Horacio Castellanos Moya: Breves palabras impúdicas.

1. Warum Memoria und Identität?

Die folgenden Kapitel untersuchen die Rolle der Erinnerungen und der Identität in der Literatur Castellanos Moyas. Beide Begriffe stehen in engem Zusammenhang und spielen im Leben eines Jeden eine zentrale Rolle. Nur zu oft fragen wir uns wer wir sind und wo wir hingehören. Wir organisieren uns in Vereinen, um uns dort einzubringen und eine Position innerhalb der Gesellschaft einzunehmen. Am Arbeitsplatz wissen wir, wer einer anderen Abteilung angehört und wer der eigenen, und definieren uns so gegenüber unseren Kollegen. Wenn wir in eine neue Stadt kommen, sind wir Der oder Die aus Potsdam oder Berlin, wenn wir ins Ausland fahren, sind wir die Deutschen und müssen an einigen Grenzen unsere Identity Card vorzeigen, also den Ausweis, der unsere nationale Identität bescheinigen soll. Überall definieren wir unsere Identität über unsere Herkunft oder unseren Status und grenzen uns dadurch von den Anderen ab. Vor allem aber fühlen wir uns unsicher, wenn wir an unserer Identität zweifeln, uns unsere Position unklar ist.

Die empfundene Identität wird außerdem maßgeblich von Erinnerungen beeinflusst. Um uns einzuordnen, blicken wir zurück auf das, was wir erlebt haben und was uns andere gesagt haben. Nach der Frage, Wer bin ich? beginnen wir in der Vergangenheit zu suchen und zu schauen, wer wir früher waren. Begebenheiten, die wir in unserer Erinnerung tragen, binden uns emotional an die Menschen, mit denen wir diese Ereignisse erlebt haben.

In den zentralamerikanischen Post-Bürgerkriegsgesellschaften hat die Frage nach der Identität für den Wiederaufbau der Nationen eine große Bedeutung. Fühlt sich die Bevölkerung Guatemalas und El Salvadors in ihr widergespiegelt oder gibt es vielmehr Brüche zwischen der nationalen und individuellen Identität? Auf welchen Erinnerungen beruhen diese Identitäten, welche Ereignisse aus der Vergangenheit werden als relevant empfunden und weitervermittelt? Welche Geschehnisse sind Teil der offiziellen Geschichtsschreibung? Und wie wirkt sich im Umkehrschluss diese Selektion von Erinnerungen auf die Identitätskonstruktion aus? In den Werken von Horacio Castellanos Moya werden diese Fragen thematisiert und nach einer neuen, vielschichtigen kollektiven Identität Ausschau gehalten.

In El arma en el hombre stellt Robocop seine Identität als Auftragskiller über die Moral als Mensch, die Protagonistin von La diabla en el espejo lebt in ihren Erinnerungen. Besonders starke Rollen spielen Gedächtnis und Identität jedoch in Donde no estén ustedes und Insensatez. Daher werden in den folgenden Kapiteln diese beiden Romane genauer auf ihre Erinnerungs- und Identitätsbeschreibungen betrachtet. Zuvor werden jedoch beide Termini im derzeitigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs vorgestellt.

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2. Zur Memoria (vgl. Theis)

In den letzten Jahrzehnten ist der Begriff der Memoria als gesellschaftsrelevantes Gedächtnis von Einzelpersonen und Gruppe zum zentralen Bestandteil der Gesellschafts- und Literaturkritik avanciert. Im Folgenden seien die wichtigsten Theorien darüber vorgestellt.

2.1. Theoretische Annäherung an Memoria

Die Erinnerung des Menschen spielt eine zentrale Rolle für die Identitätsbildung eines Individuums. Es ist davon auszugehen, dass Menschen im Großen und Ganzen lieber ein positives als ein negatives Selbstgefühl haben (Brows: 56). Um dies zu erreichen, steuern wir unterbewusst unser Gedächtnis. Wir erinnern uns oft und gern an angenehme Ereignisse und verdrängen oder beschönigen unangenehme. Daher erscheinen durchlittene Zeiten der Not später als gar nicht so schlimm, schöne Ereignisse werden hingegen verstärkt und rücken in der Erinnerung in den Mittelpunkt.

Die menschliche Erinnerung ist sozial bedingt. Für uns Menschen ist es generell schwierig, sich ohne soziale Anhaltspunkte an Ereignisse zu erinnern. Diese, im sozialen Kontext funktionierenden Erinnerungen, nennt Maurice Halbwachs das kollektive Gedächtnis. Weiterhin sei davon auszugehen, dass dieses kollektive Gedächtnis die Grundlage für eine eigene Gruppenidentität ist. Schauen wir uns unsere eigenen Erfahrungen an, scheint das leicht verständlich. Kaum etwas schweißt eine Gruppe derart zusammen, wie ein gemeinsames, prägendes Erlebnis, z. B. das Erledigen einer schwierigen Arbeit, das gemeinsame Durchstehen einer gefährlichen Situation oder eines Schicksalsschlages. Dabei kommt die Frage auf, ob dieses Konzept des kollektiven Gedächtnisses auf ein Nationalgedächtnis ausgeweitet werden kann. Mehr dazu im Kapitel 3.2.

Weiterhin trennt Halbwachs klar Memoria von Geschichte. Geschichtsschreibung könne erst dann beginnen, wenn ein Ereignis (Krieg, Naturkatastrophe etc.) aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist. Menschen, die in einem Krieg gelebt haben, können keine objektive Schilderung darüber geben, da sie emotional zu stark darin verwickelt sind. Erst nach dem Ableben der Gruppe können „Geschichtsbilder und Fakten festgelegt werden” (Theis: 71). Geschichte ist hingegen das, was nicht mehr in den Bereich einbegriffen ist, in den sich noch das Denken aktueller Gruppen erstreckt. Demnach müssen die Mitglieder alter Gruppen ausgestorben und ihre Gedanken und ihr Gedächtnis erloschen sein, bevor Memoria zur Historie werden kann (Halbwachs: 103). Es könne z.B. erst nach dem Sterben der Zeitzeugen der zentralamerikanischen Bürgerkriege die wahre Geschichtsschreibung beginnen. Das kollektive Gedächtnis wird bewusst in Abgrenzung vom positivistischen Geschichtskonzept konstruiert. Sämtliche Werke Castellanos Moyas enthalten demnach nicht die Geschichte Zentralamerikas, sondern Szenen aus dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung.

Diese Betrachtungsweise bietet reichlich Diskussionsstoff. Die Realität zeigt, dass Geschichte sehr wohl geschrieben wird, bevor die Zeitzeugen ausgestorben sind. Wir lesen in heutigen Geschichtsbüchern vom Fall der Mauer und vom Ende des Kalten Krieges. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass eine frühe Kodifizierung brisanter Themen stark von Interessengruppen geprägt und anfällig für Kritik ist.

Ein wichtiger Faktor beim Dokumentieren und Aufarbeiten von Ereignissen ist die so genannte Oral History (Theis: 76). Durch akustische Aufzeichnung von Zeitzeugen können alle gesellschaftlichen Schichten zu Wort kommen, nicht mehr nur wenige (häufig vom Staat engagierte oder kontrollierte) Autoren oder andere, über der Gesellschaft stehende, Stimmen. Die Oral History ist eine nicht-intellektuelle konkrete, episodische, emphatische Form der Dokumentation und steht der Geschichtsschreibung durch Historiker gegenüber, die sich als abstrakt und objektiv distanziert sieht. Innerhalb der Oral History kann die epische Geschichtsaufarbeitung eine besondere Stellung einnehmen. Der Schriftsteller, der historische Ereignisse in sein Werk aufnimmt, dokumentiert Geschehnisse, stellt aber im Gegensatz zum Historiker oder Journalisten keinen Wahrheitsanspruch an seine Texte. Das Besondere an der oralitätsnahen Literatur eines Castellanos Moyas ist, dass hier verschiedene Konzepte vermischt werden. Die Oralität der von der indigenen Bevölkerung stammenden Texte der Testimonien aus Insensatez erweckt beim Leser den Eindruck, Zeitzeugenberichte zu lesen. Dieser bekommt somit das Gefühl vermittelt, das zu erfahren, was wirklich passiert ist. Da die Berichte aber in einen literarischen Text eingewoben sind, werden sie fiktionalisiert [Oralität].

Den Konflikt der mutmaßlichen Unmöglichkeit, Geschichte zu schreiben, bevor das kollektive Gedächtnis erloschen ist (Theis: 79), umgeht Jan Assmann mit der Trennung des kollektiven Gedächtnisses in kommunikatives Gedächtnis und kulturelles Gedächtnis. Laut Assmann unterscheiden sich der Stellenwert, sowie Form und Inhalte des kollektiven Gedächtnisses von Kultur zu Kultur (nach Assmann 79).

Das kommunikative Gedächtnis umfasst einen Zeitraum von ca. 80 Jahren. Es beinhaltet Geschichten, die individuelle Biographien beschreiben und somit auf eigenen Erfahrungen beruhen bzw. im Hörensagen kursieren. Es deckt sich also weitestgehend mit dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses. Das kulturelle Gedächtnis hingegen bildet den Rückbezug auf die Vergangenheit vor dem kommunikativen Gedächtnis. Es befasst sich mit der Gründungsgeschichte der Gesellschaft, ist immer konstruiert und auf externen Medien gespeichert. Dies können Medien sprachlicher und nicht sprachlicher Natur sein: Rituale, Tänze, Mythen, Muster, Tätowierungen, Schrift, Monumente, Schmuck oder Bilder etc. Dazu werden jedoch immer so genannte Täter (Autoren, Musiker, Schamanen) benötigt, die die Speicherung vornehmen bzw. interpretieren. Die Art und Weise der Interpretationen ist maßgeblich von den gesellschaftlichen Schichten der Akteure geprägt.

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3. Zur Identität

Sólo la ficción sabe, sólo la imaginación puede tocar,
con la punta de los dedos, un retazo de verdad.
Dante Liano, El misterio de San Andrés
(Kohut et. al. 2005: 197)

Die Werke von Horacio Castellanos Moya kritisieren die zentralamerikanischen Nachkriegsgesellschaften, die sich trotz aller Krisen und Brüche weiterhin als homogene Nationalkulturen präsentieren. Der Verlust von sozialem Prestige, die fortschreitende Desintegration marginalisierter Gesellschaftsschichten, das Aufdecken von Scheinwelten, das Entlarven einer gescheiterten Aufarbeitung der Vergangenheit eingebettet in einer Scheindemokratie sind einige der Themen, anhand derer Castellanos Moya die Brüche homogener nationaler wie auch individueller Identitäten aufdeckt. Um Identitätsdarstellungen in literarischen Werken zu analysieren, erscheint es zunächst notwendig, die Identitätskonzepte näher zu bestimmen.

3.1. Identitäten im historischen Wandel

Im Alltagsverständnis ist mit Identität die Unverwechselbarkeit jedes Einzelnen gemeint. Identität wäre somit in einem monolithischen Sinne zu verstehen, nämlich, dass jede Person einen wahren Kern in sich trägt und eine persönliche Identität zu besitzen scheint, deren Kontinuität und Gleichheit von jedem selbst, wie auch von den anderen wahrgenommen werden. In neueren Ansätzen der Identitätsforschung werden aber auch Elemente wie Entfremdung, Widersprüchlichkeit oder Diskontinuität mit Identität in Verbindung gebracht.

Stuart Hall unterscheidet drei Konzepte von persönlichen Identitäten (Hall 2005: 10ff.). Die Vorstellung vom Subjekt der Aufklärung kommt dem traditionellen Alltagsverständnis sehr nahe, versteht sie doch unter Identität einen festen Kern, an dem sich der rational handelnde Mensch orientiert. Ein weiteres Konzept ist das soziologische Subjekt. Es basiert auf der Annahme, dass sich ein Individuum nicht gänzlich autonom entwickelt. Vielmehr ist Identität ein komplexes Geflecht von Fremdzuschreibungen und Eigenverständnis. Dabei spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Durch Interaktionen mit den Gruppenmitgliedern werden Werte, Symbole, Moralvorstellungen und Bedeutungen vermittelt. Ähnlich dem Verständnis vom aufgeklärten Subjekt, trägt das Individuum einen festen Kern in seinem Innersten, das sich nun allerdings auf Grund des Dialoges mit seiner Außenwelt entwickelt. Durch die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Werte bildet das Individuum eine kulturelle Identität aus und trägt zur Konstruktion einer scheinbar homogenen Gemeinschaft bei. Das Individuum wird zum tragenden Element der Gesellschaftsstruktur.

Das Ende des Kalten Krieges und die Globalisierung führten zu tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen. Es sei nur exemplarisch auf das veränderte Verständnis von Nationalität und nationalen Grenzen, die fortschreitend weniger durch territoriale denn durch ökonomische Kriterien bestimmt werden, die zunehmende Individualisierung und der Verlust eindeutiger politischer Ideologien hingewiesen. Diese damit einhergehende Unschärfe gesellschaftlicher Abgrenzungen macht ersichtlich, dass traditionell homogene Identitätszuschreibungen in den Kategorien Nationalität, Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Ethnie nicht mehr aufrecht zu halten sind, sondern sich gegenseitig überlagern.

Identitäten sind nicht biologisch determiniert, sondern etwas „das sich mit der Zeit ereignet, das niemals völlig stabil ist, das dem Spiel der Geschichte und dem Spiel der Differenz unterliegt” (Hall 1999: 91) und somit unter unterschiedlichen Umständen, gänzlich neue Ausprägungen entwickeln können bzw. müssen. Das Konzept der persönlichen Identität von einem postmodernen Subjekt präsentiert sich als fragmentiert und dezentriert - das Eigenverständnis von einem feststehenden und sich fortschreitend entwickelnden Subjekt ist nur noch eine bequeme Phantasie.

Betrachtet man die Einbindung persönlicher Identitäten in einen gemeinschaftlichen Rahmen, stellt sich die Frage nach den kulturellen Identitäten. Kulturelle Identität wird im Allgemeinen als etwas verstanden, das Menschen mit gemeinsamen historischen Erfahrungen, einer kollektiven Erinnerung und gemeinsam genutzten kulturellen Codes miteinander teilen.

In modernen Gesellschaften sind nationale Kulturen die Hauptquellen kultureller Identitäten, die, auch wenn sie nicht genetisch bedingt sind, als ein Teil der wesenhaften Natur eines Jeden wahrgenommen werden. Stuart Hall verdeutlicht, dass eine nationale Identität keineswegs auf territorialen Besonderheiten beruht und beschreibt den konstruktiven Charakter von Diskursen, die zur Vorstellung von einer homogenen Nationalkultur führen. „Nationale Kulturen konstruieren Identitäten, indem sie Bedeutungen der Nation herstellen, mit denen wir uns identifizieren können; Sie sind vielmehr in den Geschichten enthalten, die über die Nation erzählt werden, in den Erinnerungen, die ihre Gegenwart mit ihrer Vergangenheit verbinden und in den Vorstellungen, die über sie konstruiert werden” (Hall 1994: 201). Nationalkulturen speisen sich demnach aus einer Selektion realer und/oder fiktionaler Elemente aus der Vergangenheit, die zur Konstruktion einer kollektiven Erinnerung beitragen.

Eine Nationalkultur ist ein diskursives Konstrukt, das den Unterschied negiert und sich als Träger einer einheitlichen Identität präsentiert. Gerade aber die Homogenisierung einer kulturellen Identität geht mit dem Ausgrenzen und Verstummen der vielfältigen Stimmen einher, die in einem Nationalstaat zu finden sind.

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3.2. Identitätskonstruktionen in Zentralamerika

Die Darstellung der Identitätskonstruktionen beschränkt sich im folgenden Abschnitt auf El Salvador und Guatemala, da die analysierten Romane mit diesen Ländern in enger Verbindung stehen. In beiden Staaten ist die oben beschriebene Tendenz der Homogenisierung der kulturellen Vielfalt stark ausgeprägt und spiegelt sich in der offiziellen Geschichtsschreibung und Nationalliteratur wieder. Die zentralamerikanische offizielle Version von kultureller Identität beschrieb die Gesellschaften lange Zeit als einheitlich und homogen aus weißer, konservativ-liberaler Perspektive. Ein Großteil des kulturellen Reichtums und der Vielfalt wurde gänzlich ausgeschlossen.

In den Bürgerkriegsjahren Zentralamerikas stellte sich eine neue politische Kraft dieser Darstellung entgegen: die revolutionäre Guerilla. Ihr literarisches Zeugnis war die literatura testimonial. Die Autoren waren zumeist auch politische Führer und hatten das Ziel, einen kulturellen und historischen Leerraum zu füllen (Ortiz Wallner 2005: 2), die verstummten Stimmen zu repräsentieren und jene Geschichten zu erzählen, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossen waren. Sie kreierten eine nationale (Gegen-) Identität aus dem Blickwinkel der Unterdrückten, mit dem Ziel, den Leser vom revolutionären Kampf zu überzeugen. Zweifel, Schwächen und persönliche Misserfolge fanden in dieser Literatur keinen Raum.

Die Ende der 1980er Jahre einsetzende Nachkriegszeit führte zum Bruch mit den vorherigen so genannten gesellschaftlichen Wahrheiten. War die Bürgerkriegszeit stark ideologisch geprägt (die Guerilla vom Marxismus, Konservative von der katholischen Kirche), so erscheint die neue Realität eher ernüchternd: das Morden und die Ungerechtigkeit setzen sich fort, nun allerdings ohne politische Ideale und Moral (Schönherr 2003). Es wird nicht mehr gemeinsam für eine höhere Utopie gekämpft, vielmehr kämpft jeder für sich allein um das blanke Überleben. In Zeiten gescheiterter zwischenmenschlicher Beziehungen, des Verlustes allgemeiner Orientierungsmuster und der Enttäuschung über die fehlgeschlagene transición, befinden sich die Gesellschaften auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität. Einer Identität, die keine Stereotypen reproduziert, sondern einem offenen Verständnis von Nation folgt, in dem auch die dunklen Seiten der Vergangenheit und marginalisierte Bevölkerungsschichten Teil des kollektiven Gedächtnisses werden.

Horacio Castellanos Moya schreibt der Literatur in diesem Prozess der Suche nach einer heterogenen nationalen Identität eine essentielle Funktion zu. „Una izquierda que busque renovarse, que se plantee como proyecto libertario, debería entender que la ficción es una rica fuente de conocimiento y proyección nacional“ (Castellanos Moya 1993 (1): 67). Literatur kann keine Kriege verhindern, nicht den Hunger stillen, aber „transmitirnos la experiencia ajena, darnos conciencia de que el otro existe, y sobre todo preservar la memoria” (ebd.: 75). Literatur hat die besondere Eigenschaft, keine absoluten Wahrheiten zu vermitteln, sondern Möglichkeiten zum Verständnis und der Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Vergangenheit anzubieten (Kohut et.al. 2005: 194f.). Sie nimmt im Gegensatz zur Geschichtsschreibung keine autoritäre Position ein, kann diese allerdings auch nicht ersetzen.

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4. Erinnerungen und Identitäten in Donde no estén ustedes

In Donde no estén ustedes werden exemplarisch Geschichten der Verlierer der Bürgerkriege in Mittelamerika nachgezeichnet. Der Ex-Botschafter, der nicht wahrhaben will, dass er endgültig zerbrochen ist, der Privatdetektiv, der einen Beruf hat, der in seiner Gesellschaft nicht gebraucht wird. Beide suchen Zuflucht im Rausch und beim Sex. Zusätzlich stehen die verschiedenen Identitäts- und Memoriakonzepte in engem Zusammenhang mit diesem Werk.

4.1. Erinnerung als Strohhalm

Für den Protagonisten Alberto Aragón in Donde no estén ustedes spielen die Erinnerungen eine zentrale Rolle. Er selbst stellt fest, dass „Nada queda de lo vivido sino en la memoria“ (22/23). Es gibt zwei Ebenen in seiner Erinnerungswelt, eine materielle und eine personenbezogene. Erstere betrifft seine Güter, die er bei sich hat und die er nach und nach verliert. Kleine Gegenstände werden in einen geradezu heiligen Status erhoben. Zum Beispiel die rote Blechtasse, die er niemals außer Reichweite lässt, und die ihm gleichsam Medium zur Nahrungsaufnahme und treuer Begleiter ist „…el rojo vaso de latón con el que se paseó por los puestos fronterizos“ (12). Der wichtigste Gegenstand ist jedoch seine libreta, das Adressbuch, die ihm als Erinnerungsträger, sowohl für emotionale Erinnerungen (Kontakte alter Freunde usw.), als auch für rationale Fakten (Telefonnummern und Adressen) dient. “Saca la libreta de su bolsillo a fin de buscar el nombre de la calle.” (87) Das Adressbuch bekommt hier die Funktion eines Vermittlers zwischen der materiellen und der sozialen Welt. Eine Serie von Verlusten dieser Gegenstände spiegelt seinen Abgang wider. Alles, was ihm als Verbindung zu seiner Vergangenheit blieb, verschwindet nach und nach. Diese Serie von Verlusten findet ihren Höhepunkt, als er sein Adressbüchlein in einer Kneipe liegen lässt. Denn mit diesem Büchlein verliert er komplett die Beziehung zu seiner zweiten Erinnerungsebene. Diese basiert auf seinen Bekannten und mutmaßlichen Freunden, auf die er vertraut. Sie helfen, ihm zu überleben und der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen. Immer wieder flüchtet er in seine Vergangenheit, in seinen Status als Botschafter. Er vertraut auf seine alten Freunde, die ihm wieder auf die Beine helfen sollen. Er glaubt an sein Glück und daran, dass er immer noch eine Niederlage in einen Sieg zu wenden versteht: „Es una muestra de que puede convertir una derrota en victoria“ (32). Regelmäßig flüchtet er in Phantasien, die ihm helfen sollen, über seine ausweglose Situation hinwegzusehen. Er blendet alles Schlechte aus seinen Gedanken aus, wünscht als „ex-embajador” angesprochen zu werden und sieht sich weiter als der Verführer junger Mädchen (51). Auch als er merkt, dass keiner seiner alten politischen Kumpanen ihm hilft, gibt er nicht auf, sondern flüchtet weiter in seine Erinnerungen und Hoffnungen, dass es ihm bald wieder gut gehen werde. Immer wieder wühlt er in seinen Erinnerungen, versucht, sich an die alten Zeiten und Abenteuer zu erinnern und alles in Gedanken zu ordnen. „¿Cuántas mujeres se ha llevado en la lista? ¿Hace cuánto tiempo no hace una lista? […] clasificarlas geográficamente, ordenarlas por el color del cabello o de la piel…“ (52). Hier wird deutlich, wie seine Erinnerungen an Gegenstände oder Ereignisse gekoppelt sind.

Schlechte Erinnerungen hingegen schließt er aus und „no seguirá pensando en [ella]” (53). So zum Beispiel die Erinnerung an seinen Sohn Albertico, der von Regierungstruppen umgebracht wurde. Solche Erinnerungen schmerzen ihn, aber er versteht es, sie zu unterdrücken. Soweit sogar, dass er sechs Monate nach dem Mord eben für diese Regierung die Arbeit als Botschafter in Nicaragua (103) antritt. So sitzt Aragón im sinkenden Ruderboot mit der Überzeugung eine Luxusjacht mit leichtem Getriebeschaden zu fahren.

Die Erinnerungen, die Aragón Mut machten und in einer Scheinwelt leben ließen, werden von dem Detektiv José Pindonga genau entgegengesetzt betrachtet. Hier wird Aragóns Geschichte aus den Blickwinkeln der Anderen geschildert. Esther zum Beispiel (159ff) sieht in ihm den Liebhaber, den sie gleichzeitig liebevoll und lächerlich muñecón (etwa: großes Püppchen) nennt. Für ehemalige Kollegen war er ein großer Mann. Aber alle sehen auch den Alberto Aragón, der verfallen ist: körperlich und dem Alkohol. Von Henry Highmont, seinem Auftraggeber, erfährt Pindonga, dass er sich - entgegen Aragóns Schilderung - von seinen salvadorianischen Freunden abgewendet habe und nicht umgekehrt: „La cuestión era que el ex embajador Alberto Aragón había roto todo el contacto con sus amigos salvadoreños” (161-162).

Eine dritte Sichtweise, und hier gelangen wir wieder zu Halbwachs‘ Memoriakonzept, ist die, zu der Pindonga am Ende gelangt. Er kennt alle Geschichten über Aragón. Die Geschichten seiner alten Freunde, die Geschichten seiner späten Freunde, kennt von dem Toten selbst aber nicht mehr als ein Foto. Er deckt die Schattenseiten und die dunklen Geheimnisse der ehemaligen politischen Elite auf. Somit wird er zum Geschichtsschreiber, zu demjenigen, der das Ereignis nicht selbst erlebt hat, daher auch nicht emotional involviert ist. Ganz frei von persönlichen Emotionen ist jedoch auch Pindonga nicht. Schließlich stellt er der Tochter Aragóns nach und beschützt sowohl sie als auch sich selbst vor Repressalien, indem er seinem Auftraggeber gegenüber Fakten verheimlicht.

Horacio Castellanos Moya schildert das Lebensende Aragóns aus zwei Perspektiven. Einerseits durch die von Aragóns Kopf gefilterten Erinnerungen (erzählt in der dritten Person) und andererseits durch die Erinnerungen derer, die ihn begleitet haben (erzählt in der ersten Person). Die Erinnerungen der einzelnen Figuren dienen hier als Auslöser, die Geschichten zu erzählen. So kommt es, dass der eigentliche Handlungsstrang, verglichen mit dem Erzählten, in beiden Teilen recht kurz ist.

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4.2. Spiel mit Identitäten

In Donde no estén ustedes gibt es drei verschiedene Identitätsmuster. Die klar definierte und gleichwohl zerbrechliche Identität Alberto Aragóns, die undefinierte Identität Pepe Pindongas und die geheime Identität Margot Highmonts, Aragóns Tochter. Castellanos Moya zeigt hier, wie fragil Identität ist. Je stärker sich eine Figur an ihre Identität klammert, desto weniger profitiert sie davon. Aragón kann nicht vorwärts kommen, solange er sich selbst als Botschafter sieht. In der Realität ist sein Leben jedoch weiter gegangen und er ist dem Alkohol zum Opfer gefallen. Dabei spielt der Alkohol bis zum Schluss eine identitätstiftende Rolle, wenn Aragón zum Beispiel seinen Status an den Schnapssorten festmacht, die er früher getrunken hatte: „He aquí una decisión estratégica que debe tomar esta misma noche: ¿seguirá bebiendo vodka Botrán, tal como lo hizo los dos años que vivió en San Salvador, o volverá al brandy Presidente, su bebida de cabecera durante sus once años de exilio méxicano?“ (42). Er weigert sich, anzuerkennen, dass sein früheres Umfeld, seine alte Identität, nicht mehr existiert. Nach Halls Modell (Abschnitt 3.1) ignoriert Aragón die dezentrierte Identität, zugunsten der erhofften persönlichen Identität, glaubt also an den festen Kern und nicht an den gesellschaftlichen Einflussfaktor, der schnell zum Wandel von Identitäten führen kann.

Pindonga hingegen ist auf der Suche nach einer Identität. Weder die Arbeit als Journalist, noch eine Anstellung in der Polizeiakademie schmeckten ihm, sodass er sich als Privatdetektiv versucht. Doch auch dieses Projekt scheint zum Scheitern verurteilt, da er entweder unlösbare Aufträge in Zusammenhang mit der Drogenmafia oder gar keine erhält. Im Gegensatz zu Aragón befindet er sich aber auf einem Weg. Er bekommt schließlich einen Auftrag, trinkt nicht mehr (auch wenn er sichtlich darunter leidet) und löst seinen Fall.

Die geheime Identität Margots ist eine persönliche Identität, die sie mit sich trägt und die sie nicht ablegen kann. Sie ist die uneheliche Tochter Aragóns und sie wird es immer sein. Nur, wenn das Geheimnis zu Tage träte und sie dadurch Repressalien erlitte oder vielleicht auch davon profitiere, würde sich ihre Identität ändern, denn dann wäre sie nicht mehr geheim und somit angreifbar. Auch wenn sie die leibliche Tochter Aragóns bliebe, müsste sie sich in der Gesellschaft neu definieren.

Alle drei spiegeln die Situation Mittelamerikas aus verschiedenen Perspektiven wider. Die Bevölkerungen Nicaraguas, Honduras’, Guatemalas und El Salvadors haben zum einen eine nationale, oder zumindest regionale Vorstellung ihrer Identität. Diese ist aber von Diktatur, Bürgerkrieg und fehlender Demokratie zerrüttet. Gleichzeitig suchen die Menschen nach einem neuen Heimatgefühl, mit dem sie sich identifizieren können. Die Identität der Völker ist so geheim wie Margots Identität. Nämlich gar nicht. Henry Highmont weiß wohl, dass er nicht wirklich der Vater Margots ist. Aber wie in Insensatez beschrieben: „¡Todos sabemos quiénes son los asesinos!” (151), wird Wissen dergestalt ignoriert und deformiert, dass es für die direkt Beteiligten möglichst ungefährlich ist.

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5. Erinnerungen und Identitäten in Insensatez

Der Roman Insensatez bettet sich in den Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung Zentralamerikas ein. Aus dem Blickwinkel eines salvadorianischen Journalisten wird die Erstellung eines Berichtes über die während des Bürgerkrieges, vorrangig an der indigenen Bevölkerung, begangenen Menschenrechtsverletzungen beschrieben. Auch wenn im Roman kein spezifisches Land benannt wird, sind geographische, gesellschaftliche, wie auch historische Hinweise zu finden, die auf das Nachkriegs-Guatemala am Ende des 20. Jahrhunderts hindeuten. Der Text enthält Zitate verschiedener Zeugenaussagen aus dem Wahrheitsbericht Guatemala. ¡Nunca más! Informe proyecto interdiocesano de recuperación de la memoria histórica, der von der UNO in Auftrag gegeben und in Zusammenarbeit mit der guatemaltekischen katholischen Kirche erstellt wurde. Ziel dieses Wahrheitsberichtes war es, auf der Basis von Opferbefragungen „dar voz a las víctimas de las violaciones de Derechos Humanos, para que construyan sus relatos como parte de esa memoria histórica silenciada” (Yánez 2005: 285).

Der namenlose Ich-Erzähler und Protagonist nimmt eine kulturelle Sonderrolle ein. Als Zentralamerikaner teilt er eine ähnliche Vergangenheit und besitzt ein profundes, fast weissagendes Wissen über die gesellschaftlichen Zusammenhänge, was ihm letztendlich das Leben rettet. Gleichzeitig nimmt er als Ausländer eine distanzierte Position ein. Seine kritischen, häufig sogar zynischen Einschätzungen entlarven verkrustete, traditionelle Identitätsvorstellungen und ermöglichen dem Leser einen vielschichtigen Einblick in die guatemaltekische Gesellschaft im Nachkriegszustand.

5.1. Verschwiegene Erinnerung

Die tägliche Aufgabe des Protagonisten ist das Lesen, Ordnen und Redigieren der 1100 Zeugenberichte. Er nimmt somit Teil an der Endredaktion des fiktiven Wahrheitsberichtes.

[...] cuidar que las manos que se disponían a tocarle los huevos al tigre militar estuvieran limpias y con el manicure hecho, que de eso trataría mi labor, de limpiar y hacer el manicure a las católicas manos que piedosamente se preparaban para apretarle los huevos al tigre [...] (16f.).

Die in diesem Satz angedeutete Gefahr, den ehemaligen Machthabern die Maske der Unschuld zu entziehen, entwickelt sich im Verlaufe des Romans zu einer der prägenden Emotionen des Protagonisten. Seine psychische Last, an einem Bericht zu arbeiten, der verschwiegene Wahrheiten ans Tageslicht bringen und die Militärs zur Verantwortung ziehen soll, nimmt fortwährend zu. Gleichzeitig lebt er in einer Gesellschaft, die sich durch ein Verdrängen der Vergangenheit auszeichnet, in einer Gesellschaft, in welcher nicht die Justiz urteilt, sondern der Stärkste mit Gewalt seine Ziele durchsetzt.

Der Protagonist arbeitet an der Verbreitung und Veröffentlichung eines Wissens über die Vergangenheit, das zwar innerhalb der Gesellschaft bekannt ist („¡Todos sabemos quiénes son los asesinos!”, 151), aber aus Angst vor den Folgen verschwiegen und verdrängt wird. Dieses Wissen über die Vergangenheit ist eine Form von memoria del conocimiento. Die Differenz zwischen dem öffentlichen und dem individuellen, bzw. geheimen Wissen entwickelt sich für ihn zu einer Lebensbedrohung. Er leidet unter Verfolgungswahn und erahnt für sein Leben, was Castellanos Moya für die zentralamerikanischen Bürgerkriegsgesellschaften wie folgt beschreibt: „La osadía de ejercer la crítica del poder desde posiciones no partidistas implicaba la muerte” (Castellanos Moya 1993: 58). Seine Umwelt nimmt ihn zunehmend als „mente enfermiza” wahr, seine psychische Gesundheit scheint in Gefahr zu sein.

Auch wenn der Ich-Erzähler eine regelrechte Obsession für einige Auszüge der Zeugenberichte entwickelt, welche er in einem kleinen Buch notiert und bei jeder Gelegenheit zitiert, ist auch er nicht in der Lage, sich tiefgehend mit den Erinnerungen der Überlebenden auseinanderzusetzen. Er erkennt zwar die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Gefahren, sucht allerdings keine adäquate Auseinandersetzung mit dem Geschehenen. Auch ihn leitet die memoria del olvido, eine Verdrängungskultur. Vielmehr begeistert ihn einzig die klangvolle Sprache und Ausdrucksstärke der Indigenen, welche zumeist nur rudimentär oder gar nicht das Spanische beherrschen.

Der anonyme Ich-Erzähler steht demzufolge für ein Kollektiv, das ein gewaltvoll unterdrücktes Wissen über die Vergangenheit in sich birgt, dieses Wissen aber nicht aufarbeiten kann bzw. dazu gewillt ist und den Weg der Verdrängung wählt. An dieser Last des geheimen Wissens muss der Ich-Erzähler letztendlich zerbrechen: er wird sozial ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt, als unzurechnungsfähig abgetan. Wie das Ende des Romans verdeutlicht, kann die Veröffentlichung geheimen Wissens in instabilen Gesellschaften, wie die des Nachkriegsguatemalas, zum Tode führen.

Die Kompensierung der psychischen Last sucht die Hauptfigur im Alkohol und sexueller Befriedigung, die ihm allerdings keine wahrhafte innere Ruhe spenden können.

[...] un buen polvo, de ser posible, relajaría mis nervios y gratificaría mis sentidos luego de una semana de permanecer encerrado leyendo sólo sobre cadáveres y torturas [...] (53)

Vielmehr wird er von einer paranoiden Unruhe getrieben und erlebt Begebenheiten, die dem Leser zunehmend die Erkenntnis erschweren, ob es sich um eine reale Gefahr handelt oder dem Verfolgungswahn des Erzählers entspringt. Der Protagonist und Ich-Erzähler meint eine Verschwörung zwischen Mitarbeitern der katholischen Kirche und einem ranghohen Militär zu beobachten. Die Überzeugung, dass es sich um ein konspiratives Treffen handeln solle, entnimmt er einem „murmullo ininteligible” und meint an „el porte firme, la mueca rígida” zu erkennen, dass es sich um ein „oficial de alto rango vestido de civil” handele. Ein „circuito en mi mente” führt zu dem Schluss, dass „ese oficial de inteligencia no podía ser otro que el general Octavio Pérez Mena”(127f.), seinerseits verantwortlich für zahlreiche Folterungen und Massaker an der indigenen Bevölkerung. Der Leser ist versucht, der Wahrnehmung der Hauptfigur zu folgen, die sich selbst und durch Andere als nicht ganz zurechnungsfähig, als „no completo de la mente” (13ff.) versteht. Das Ende des Romans führt allerdings zu einer abrupten Kehrtwende dieser Sichtweise auf den Protagonisten. Nachdem er fluchtartig das Land verlassen hat, wird am Abend nach der öffentlichen Präsentation des Wahrheitsberichtes der Erzbischof, unter deren Leitung der Bericht erstellt wurde, ermordet. Die letzten Sätze des Romans „Todo el mundo está cagado. Da gracias que te fuiste” (155) deuten an, dass seine Angst berechtigt war. Letztendlich scheint alles möglich, die Gewalt bleibt alltägliches Mittel zur Regelung von Konflikten.

In diesem Zusammenhang kann auch der Romantitel Insensatez gelesen werden. Die „Unvernunft“, „der fehlende Verstand“ bezieht sich auf den Intertext, den Wahrheitsbericht und auf die Annahme, der Pazifisierungs- und Demokratisierungsprozess sei bereits soweit vorangeschritten, dass eine kollektive Aufarbeitung der Vergangenheit unter Einbeziehung der Öffentlichkeit möglich wäre. Allerdings kann eine Aufarbeitung der nationalen Vergangenheit, die ihre Impulse aus dem Ausland erhält und ohne die Veränderung der tiefer liegenden Machtverhältnisse von statten geht, die tiefe Trennung zwischen der „weißen” hegemonialen und der indigenen marginalisierten Gesellschaftsschicht nicht aufheben. Die Integration der verschwiegenen Vergangenheit in eine kollektive, nationale Erinnerung, stößt an ihre Grenzen. Ein öffentlicher Gegendiskurs, der mit der offiziellen Geschichtsschreibung bricht, ist gescheitert. Das Zitat eines Überlebenden deutet auf dieses negative Ende hin: „Después vivimos el tiempo de la zozobra” (154, kursiv im Original; Anm. d. Verf.). Der Roman zeichnet eine pessimistische Zukunftsperspektive, in der die zentralamerikanischen Heimatländer keinen Schutz mehr bieten. Die Flucht ins Ausland stellt sich als die sicherste Lebensvariante heraus.

Auf der Handlungsebene des Romans sind demzufolge der Vergangenheitsaufarbeitung Grenzen gesetzt. Der Roman kann allerdings auf literarischer Ebene einen großen gesellschaftlichen Beitrag zur Erneuerung des kollektiven Gedächtnisses leisten, indem er die Erinnerungen der marginalisierten Indigenen einfließen lässt, ohne sie zu repräsentieren oder zu vereinnahmen. Im Unterschied zur Testimonialliteratur erhebt das Werk keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Vielmehr lässt die Unschärfe der Grenze zwischen Realität und Wahnvorstellung keine absoluten Urteile über gesellschaftliche Vorgänge zu: alles scheint möglich. Weiterhin bleiben die Bedeutung und Folgen der Opferaussagen für die indigene Bevölkerung offen. Für einige hat der Bericht eine therapeutische, heilende Wirkung, andere wünschen sich das Vergessen. Die Äußerung eines Überlebenden „Para mí recordar, siento yo que estoy viviendo otra vez” (149, kursiv im Original; Anm. d. Verf.) ermöglicht eine doppelte Lesart. Einerseits kann er als die Rückkehr zum Leben und als Beendigung des Traumas durch die Aufarbeitung der Geschichte und deren Integration in die kollektive Erinnerung verstanden werden. Auf der anderen Seite könnte auch ein erneutes Durchleben der schrecklichen Erlebnisse gemeint sein, durch welches die unerträgliche Erinnerung kein Ende findet.

Durch die direkten Zitate der Opferaussagen und deren Übernahme aus dem Wahrheitsbericht in kursiver Schrift lässt Horacio Castellanos Moya die Stimmlosen zu Worte kommen, ohne sie zu verändern und zu vereinnahmen. Die Repräsentation der ‚Anderen’ geht allerdings noch über diese Stufe hinaus. „Sacar los testimonios de aquellos indígenas testigos y sobrevivientes, la mayoría de los cuales ni siquiera hablaba castellano [...] transcribir las cintas y traducir los testimonios de las lenguas mayas al castellano en que el informe tendría que ser escrito [...] clasificación y el análisis de los testimonios [...] redacción del informe“ (18). Durch die Beschreibung des Entstehungs- und Erkenntnisprozesses des Berichtes verdeutlicht der Autor vielmehr, dass auch die Vergangenheitsdarstellung im Wahrheitsbericht selber durch Außenstehende geschrieben wird und somit kein absoluter Authentizitätsanspruch erhoben werden kann.

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5.2. Fragmentierte Identitäten in Zeiten des Chaos

In dem Roman sind zwei Ebenen von Identitätsdarstellungen zu finden. Einerseits werden durch die Vorstellungswelt des Ich-Erzählers traditionelle Denkmuster reproduziert. Diese äußern sich v.a. in seinem (Eigen-)Verständnis von Männlichkeit und der Darstellung der indigenen Bevölkerung. Gleichzeitig werden diese Diskurse im Roman dekonstruiert, verstärkt durch die zynischen Bemerkungen des Protagonisten.

Der anonyme Ich-Erzähler verkörpert den hegemonialen Männlichkeitsdiskurs, der allerdings in den Zeiten des Chaos der Nachkriegsgesellschaften nicht mehr aufrecht zu halten ist. Die konstruierte Überlegenheit des Mannes äußert sich in einem übersteigerten Anspruch und Zurschaustellung der vermeintlichen Männlichkeit, verstanden als sexueller und ökonomischer Erfolg, körperliche Stärke und rationale Intelligenz.

In der Figur des anonymen Protagonisten wird das klassische Bild des machistischen Lateinamerikaners reproduziert, der sich nicht mit seinen Problemen und Ängsten auseinandersetzt. Anstatt sich mit seiner zunehmenden Paranoia intensiv zu beschäftigen und die belastenden Erinnerungen an die verübten Massaker zu verarbeiten, flüchtet er in den Alkoholkonsum und sexuelle Phantasien. „Chicas guapas, claro está, que tampoco no eran muchas pero sí suficientes como para distraer mi atención” (42). Wobei seine besondere Orientierung klassischerweise den europäischen Frauen gilt, wohingegen die weiblichen Nachkommen der Mayas für ihn jeglicher physischer Attraktion entbehren. Insgesamt sind alle seine Beziehungen zu Frauen von einem sexuellen Interesse geleitet. Im Verlaufe der Romanhandlung verdeutlicht sich allerdings, dass er dieser Vorstellung von einem erfolgreichen Mann auf verschiedenen Ebenen nicht gerecht werden kann - so ist er nicht dazu in der Lage, eine Frau auf sexuell befriedigende Weise für sich zu gewinnen.

Neben seinem sexuellen Versagen gibt es weitere Dimensionen, die mit den traditionellen Zuschreibungen von Männlichkeit brechen. Am Ende des Romans verlässt der Protagonist fluchtartig Zentralamerika. In Europa angekommen, findet er sich in einer Situation wieder, in der er jegliche Grundlagen verloren hat, mit denen der Aufbau eines erfolgreichen Lebens möglich wäre. Arbeitslos, fremd, nur sehr beschränkt kommunikationsfähig und von seinem sozialen Umfeld als psychisch krank wahrgenommen, ist ihm das pure Überleben nur noch durch die Unterstützung eines Familienmitgliedes gesichert. Insensatez dekonstruiert demzufolge den hegemonialen Männlichkeitsdiskurs, der zwar in dem Selbstbild des Ich-Erzählers präsent ist, sich allerdings in seinem Leben nicht realisieren lässt.

In der Darstellung der indigenen Bevölkerung folgt der Ich-Erzähler den traditionellen Denkmustern und beschreibt sie als unattraktive Bedienstete: „Disfrutando la mañana luminosa en medio de esos centenares de indígenas ataviadas con sus étnicos trajes domingueros de colores festivos entre los que se imponía el rojo saltarín y contento, como si nada tuviera que ver con la sangre el dolor sino que fuera más bien el emblema de la alegría de esas centenares de empleadas domésticas que disfrutaban de su día de asueto [...] pude constatar que ninguna de aquellas mujeres de ojos rasgados y piel tostada despertaba mi apetito sexual ni mi morbo” (79f.).

Neben dieser traditionellen, rassistischen Sichtweise wird der indigenen Bevölkerung allerdings auch eine vielschichtigere Identität anerkannt. Sie erhalten eine fundamentale Bedeutung bezüglich der Vergangenheitsaufarbeitung. Während die Ausdrucksweise der ehemaligen linken Guerilleros als inhaltslos und unvollendet empfunden wird: „horribles versos de mediocres poetas izquierdistas vendedores de esperanza, versos escritos sin ningún recato, con letras enormes y caligrafía carcelaria” (41f.), kann einzig die klangvolle Sprache der Mayas das Unsagbare der Massaker in Worte fassen: „Ambas frases [de los indígenas; Anm. d. Verf.] deberían estar escritas en las paredes de este bar-café en vez de esos horripilantes versos de poetastros izquierdistas” (44). “La riqueza del lenguaje de sus mal llamados compatriotas aborígenes [...] en esas intensas figuras de lenguaje y en la curiosa construcción sintáctica que me recordaba a poetas como el peruano César Vallejo” (32).

In einer gefühlskalten Gesellschaft sind einzig die Nachkommen der Mayas in der Lage, ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen. Das Gefühl der Trauer weitet sich sogar so stark aus, dass es die menschliche Zuschreibung verlässt und Objekte charakterisiert. „Se queda triste su ropa.” (30) „Las casas estaban tristes porque ya no había persona dentro” (31). In Insensatez können gerade jene Bevölkerungsschichten das Unaussprechliche formulieren, die einst in den offiziellen Geschichtsschreibungen keine eigene Stimme hatten.

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6. Erweiterung des Gedächtnisses

Insensatez und Donde no estén ustedes von Horacio Castellanos Moya sind bezüglich ihrer Identitäts- und Gedächtniskonstruktionen sehr vielschichtige Werke. Die Romanfiguren sind gescheiterte Identitäten, die von der Last ihrer Erinnerungen verfolgt werden und ausgeprägte Verdrängungsmechanismen aufweisen. Alberto Aragón leidet unter Verlust seines Status und der Protagonist von Insensatez zerbricht an seinem Wissen über die Menschenrechtsverbrechen. Die Individuen sind keine starken, mächtigen, vorwärts schreitenden Personen, sondern fragmentierte Identitäten im Sinne von Stuart Hall. Nichts ist feststehend und stabil, alles ist von den sozialen Umständen und Machtstrukturen abhängig. Einzig José Pindonga scheint zumindest eine zukunftsfähige Identität zu besitzen und wirft damit einen Hoffnungsschimmer auf die Post-Bürgerkriegsgesellschaften Mittelamerikas.

Die Suche nach einer zentralamerikanischen Identität, welche die Vielfalt an Perspektiven und Lebenslagen integriert und Castellanos Moya in einem Essay wie folgt beschreibt: „un reconocimiento del rostro, una revolarización del maquillaje, de la flexibilidad necesaria para aceptar en la misma piel las arrugas del pasado precolumbino y los eczemas de la modernidad” (Castellanos Moya 1993: 48), sind zwar in den Romanhandlungen nicht möglich, finden allerdings auf literarischer Ebene ihre Umsetzung. Die Integration der Sichtweisen der traditionell Ausgegrenzten - der Arbeitslosen, Alkoholiker, gesellschaftlich als verrückt Wahrgenommene und v.a. auch der indigenen Bevölkerung - führt zu einer neuen Schreibweise. Es ist die „voz de los sin voces“, die dazu beiträgt, dem kollektiven Gedächtnis eine vielschichtige zentralamerikanische Identität zugängig zu machen. Die Werke von Castellanos Moyas tragen demzufolge dazu bei, das kommunikative Gedächtnis (Abschnitt 2.1) zu erweitern, und können möglicherweise auf die offizielle Geschichtsschreibung Einfluss nehmen und diese bereichern.

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7. Quellen

7.1. Primärliteratur

Castellanos Moya, Horacio (2003): Donde no estén ustedes. Barcelona: Tusquets.

Castellanos Moya, Horacio (2005): Insensatez,. Barcelona: Tusquets.

7.2. Sekundärliteratur

Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck.

Brows, Rupert (2001): „Beziehungen zwischen Gruppen“ in Stroebele, Jonas, Hewstone (Hrsg.): Sozialpsychologie. 4. Auflage. Berlin Heidelberg New York: Springer.

Castellanos Moya, Horacio (1993): Recuento de incertidumbres. Cultura y transición en El Salvador. San Salvador: ediciones tendencias.

Castellanos Moya, Horacio (1993): „La rueda en la bicicleta“, In: ebd. Recuento de incertidumbres. Cultura y transición en El Salvador, San Salvador: ediciones tendencias.

Castellanos Moya, Horacio (2004): Breves palabras impúdicas. Istmo.

Cortez, Beatriz (2000): La estética del cinismo: la ficción latinoamericana de posguerra, Universidad de Salvador, V Congreso Centroamericano de Historia.

Halbwachs, Maurice (1991): Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M.: Fischer.

Hall, Stuart (1994), Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument-Verlag.

Hall, Stuart (2005): A identidade cultural na pós-modernidade, X ed., Rio de Janeiro: DP&A editora.

Hall, Stuart (1999): „Ethnizität und Differenz“, In: Engelmann, Jan (Hrsg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader. Frankfurt am Main/ New York: Campus.

Kohut, Karl; Mackenbach, Werner (Hrsg.) (2005): Literaturas centroamericanas hoy. Desde la dolorosa cintura de América. Vervuert Verlag: Frankfurt am Main/ Madrid: S.194f.

Ortiz Wallner, Alexandra (2005): La estetización de la violencia en Horacio Castellanos Moya. Saarbrücken: Deutscher Romanistentag (unveröffentlicht).

Schönherr, Valentin (2003): Schlicht überleben. Interview mit Horacio Castellanos Moya, In: Die Wochenzeitung. Zürich, 04.12.2003.

Theis, Sebastian (2000): La verdadera historia es el olvido. Alterität und Poetologie der Memoria in der gegenwärtigen historischen Erzählliteratur Mexikos. Berlin: Edición tranvía. Verlag Walter Frey.

Yánez, Sol (2005): „Una metodología para la reconstrucción de la memoria colectiva con familiares de violaciones de Derechos Humanos en El Salvador“; In: Piper Shafir, Isabel (Hrsg.): Memoria y Derechos Humanos: ¿prácticas de dominación o resistencia?, Editorial ARCIS: Santiago de Chile.

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Dr. Albrecht Buschmann (V.i.S.d.P)

Universität Potsdam
Institut für Romanistik

Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam

externer link Dr. Albrecht Buschmann

Horacio Castellanos Moya, fotografiert von Moramay Herrera Kuri (Mexiko)