El asco

Thomas Bernhard en San Salvador

 

Anna Verena Isberner, Katharina Einert

 

(span., Ü: Der Ekel). Dieser Roman erschien erstmals 1997 im Editorial Arcoiris in San Salvador, El Salvador. – Das Buch zeichnet sich aus durch stilistische knappheit und inhaltliche Konzentration aus. Es erregte kurz nach seiner Veröffentlichung großes Aufsehen in El Salvador. Mit dem Werk scheint Moya, der als politischer Autor gilt, zu versuchen, über realistische Beschreibungen hinausgehend ein überspitztes Bild der salvadorianischen Gesellschaft zu zeichnen, in dem so gar nichts beschönigt oder verherrlicht wird. Im Gegenteil, der Autor arbeitet mit bewussten Wiederholungen, oft in Form von abfälligen Bezeichnungen. Diese Stilmittel weisen schon auf den im Titel des Buches erwähnten österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard hin, der ebenfalls von diesen sprachlichen Besonderheiten in seinen Werken Gebrauch gemacht hat. Möglicherweise wollte Moya mit seiner Art Beschreibung der salvadorianischen Gesellschaft eine Polemik antreiben, um den Menschen den gesellschaftlichen Zustand ins Bewusstsein zu rufen. So bleibt es nicht aus, dass die Unbeliebtheit, die einem Thomas Bernhard bei der österreichischen Oberschicht zu Teil wurde, auch Castellanos Moya in San Salvador nicht erspart blieb. Über die Thematik seines Werkes äußerte Moya: „In El asco griff ich das Bild eines Landes an, das gewisse Eliten zu verkaufen suchen. Das hassten sie und das verstehe ich auch.“ [1] Aufgrund mehrfacher Morddrohungen musste der Autor 1997 nach Erscheinen von El asco El Salvador verlassen.

Genau wie seine anderen Romane beginnt auch diese Erzählung in der Zeit nach den Friedensverträgen und handelt von dem Zustand der Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg. Inhalt des Buches ist ein ca. zweistündiges Gespräch zwischen dem 18 Jahre zuvor nach Kanada ausgewanderten Edgardo Vega, der eigentlich nie wieder nach El Salvador zurückkehren wollte, und seinem alten Schulfreund Moya, den er zuvor auf der Beerdigung seiner Mutter wieder getroffen und mit dem er sich in einer Kneipe in San Salvador verabredet hatte. Der Tod seiner Mutter und der Antritt des Erbes haben ihn zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in San Salvador gezwungen. Die Figur Moya übernimmt die Rolle eines homodiegetischen Erzählers, der von seinem Gesprächspartner Vega bei ein paar Gläsern Whisky der Schilderung seinen Erfahrungen und Eindrücken in San Salvador zuhört, diese jedoch unkommentiert lässt. Der Leser hat es also mit einem „falschen Dialog“ zu tun; die Distanz zu dem Monologisierenden wird erreicht [Oralität], indem das Erzählte von dem stillen Zuhörer sozusagen aus zweiter Hand wiedergegeben wird.

Im Laufe des Gespräches bringt Vega seine geballte Abneigung gegenüber El Salvador, seiner Gesellschaft, seiner Politik, seinem Essen und Trinken, den Salvadorianern etc. zum Ausdruck. Angefangen beim einheimischen Bier, welches er als „líquidoasqueroso“ und „cochinadade cerveza“ (S. 11 und 12) beschreibt, um schließlich die Bezeichnung „Bier“ für dieses „aguasucia“ (S. 12) völlig abzulehnen. Er ist vor allem entsetzt über die Tatsache der völligen Identifikation seitens der Salvadorianer mit diesem Bier und die darauf basierende Empfindung von salvadorianischem Nationalstolz.

Des Weiteren verabscheut er die salvadorianische Gesellschaft: „Un verdadero asco, Moya, es lo único que siento, un tremendo asco, nunca he visto una raza tan rastrera, tan sobaleva, tan arrastrada con los militares, nunca he visto un pueblo tan energúmeno y criminal, con tal vocación de asesinato, un verdadero asco” (S. 23). Die Gleichsetzung zwischen dem salvadorianischen Volk und dem Militarismus resultiert aus einer vom Sprecher empfundenen, sich permanent gesellschaftlich manifestierenden Gewaltbereitschaft im Volk; da diese krtische Haltung der literarischen Figur so nachdrücklich formuliert wird, konnte es nicht ausbleiben, dass diese massive Sozialkritik von vielen (salvadorianischen) Lesern als direkter politischer Kommentar des Autors missverstanden wurde.

Genauso groß ist seine Ablehnung gegenüber den Salvadorianern selbst, „que todos caminan como si fueran militares, se cortan el pelo como si fueran militares […] todas traen las ganas de matar en la mirada“ (S. 22). Salvadorianer seien jederzeit bereit, aus materiellen oder anderen marginalen Gründen zu morden: „Todos traen las ganas de matar en la mirada“ (S. 22). „Son capaces de matarte a la menor provocación“ (S. 23), was ein weiterer Grund für Vegas Distanzierung von der salvadorianischen Gesellschaft ist.

Der Bruder Vegas, Familienvater mit zwei „infantesperniciosos“(S. 69 ff), wird als Prototyp des durchschnittlichen Mittelklassebürgers in Salvador beschrieben, der nichts weiter kennt als materielle Werte, Fußball und Frauen. Diese „mit dem IQ eines Neandertalers“ ausgestattete Person, so erzählt Vega, ließ ihn teilhaben an einem „klassisch salvadorianischen Männerabend“ „irajoder“, dessen drei verschiedenen Etappen (sich in einer Kneipe betrinken, danach in eine Diskothek und schließlich ins Bordell gehen) er Moya sehr detailliert erläutert.

Die Beschreibungen des Erzählenden demonstrieren in all ihren Details eine Nichtidentifikation (seinerseits) mit der salvadorianischen Gesellschaft, was durch die Annahme der kanadischen Staatsbürgerschaft und schließlich der Ablegung seines eigenen Namens verdeutlicht wird. Zu Ende des Buches erfahren wir vom Erzählenden, dass er, während er mit seinem Bruder unterwegs war, glaubte, seinen kanadischen Pass verloren zu haben – was eine Verlängerung seines Aufenthaltes in San Salvador zu Folge gehabt hätte – und daran fast verzweifelt wäre. Schon früher  erfährt der Leser, wie wichtig ihm sein kanadischer Pass, also seine Identität als Kanadier ist: „mi pasaporte canadiense es mi garantía“(S. 18). Seine Schilderungen münden schließlich in einer kompletten Leugnung der Existenz des Landes und seiner Gesellschaft: „Este país no existe, te lo puedo asegurar yo que nací aquí.“ (ebd.) Folgendes Zitat verdeutlicht recht gut, wie Vega in seinem „neuen“ Leben versucht, sich von seinem Alten zu distanzieren bzw. jegliche Verbindung zu San Salvador zu negieren, auszulöschen: „Allá no me llamo Edgardo Vega, Moya, un nombre por lo demás horrible, un nombre que para mí únicamente evoca al barrio La Vega, un barrio execrable en el cual me asaltaron en mi adolescencia, un barrio viejo que quién sabe si aún exista. Mi nombre es Thomas Bernhard, me dijo Vega, un nombre que tomé de un escritor austriaco al que admiro y que seguramente ni vos ni los demás simuladores de esta infame provincia conocen”(S. 119).

Mit diesen beiden Sätzen schliesst der Roman El asco und der Leser findet hier den einzigen – abgesehen vom Titel – expliziten Verweis auf Thomas Bernhard. Doch nicht ohne Grund wird dieser Text Horacio Castellanos Moyas als Thomas Bernhard-Paraphrase bezeichnet, denn das gesamte Buch ist geprägt von intertextuellen Bezügen zum Werk des österreichischen Schriftstellers.

Die im Roman realisierte Sprache zeichnet sich durch zahlreiche Vulgarismen („como para vomitarse“) und drastische Beschreibungen des gesellschaftlichen und politischen Zustandes in El Salvador aus. Die gesamte Schilderung ist geprägt durch einen hohen Grad an Subjektivität (aus der Sicht Vegas). Wie bei Thomas Bernhard haben wir es bei Horacio Castellanos Moya meist mit Monologen von Einzelgängern zu tun, so dass die Sprache durch einen hohen Grad an Mündlichkeit und teilweise sehr langen Sätzen charakterisiert ist. Der Erzähler in El asco fungiert als stummer, nicht kommentierender Zuhörer des Monologes von Edgardo Vega, durch Einschübe wie „dijo Vega“ wird eine gewisse Distanzierung erreicht. Ein Mittel, welches wir auch häufig bei Thomas Bernhard finden.

Wie bereits erwähnt arbeiten ausserdem beide Schriftsteller mit bewusst eingesetzten Wiederholungen und kategorisieren oft ihre Aussagen und setzen diese absolut. Ziel ist es, mit extremen Ansichten, überspitzten Äußerungen und Hyperbeln zu polemisieren.

Auffällige inhaltliche Parallelen gibt es vor allem zwischen Moyas El asco und Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, seinem letzten und umfangreichsten Roman, der 1986 erschienen ist. Auch in Bernards Auslöschung hat sich der Protagonist Franz Josef Murau nicht nur psychisch, sondern auch physisch von seinem Geburtsland stark distanziert Er lebt in Rom, und der einzige Grund, nach Österreich zurückzukehren, ist der Tod seines Bruders und seiner Eltern und der Antritt des Erbes. In dem aus zwei Teilen bestehenden Roman wird der Leser mit Schimpftiraden des Protagonisten auf sein Heimatland, dessen Kultur und vor allem dessen nationalsozialistische Vergangenheit, Beschimpfungen seiner Familie („meine Mutter ist widerwärtig, meine Schwestern sind es ebenso, der Vater ist schwach, mein Bruder ist ein Narr, alle sind sie Dummköpfe“) konfrontiert.

Franz Josef Murau erbt ein großes Anwesen in Wolfsegg, welches ihm verhasst ist. Aus diesem Grund möchte er das Erbe nicht antreten, sondern das Familiengut der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien schenken, in der Hoffnung, diese würde es annehmen. Das Familiengut in Wolfsegg steht gewissermaßen für seine Kindheit und die – österreichische – Vergangenheit, von der er sich unbedingt distanzieren und trennen will, obwohl – oder gerade weil – diese Teil seiner Existenz bzw. Identität darstellt.

„Das Ich hält sich nur in der Existenz durch radikale geistige Durchdringung und Ablehnung seiner Vergangenheit; diese Vergangenheit zu zerstören heißt sich selbst auszulöschen.“[2] Hier finden wir einerseits wieder eine Parallele zwischen Thomas Bernhard und Horacio Castellanos Moya, aber auch einen fundamentalen Unterschied. Denn Edgardo Vega in El asco möchte zwar auch seine Identität ablegen und sich von seiner ehemaligen Existenz lösen, weswegen er einen neuen Namen und eine andere Staatsbürgerschaft annimmt. Doch die Todesproblematik und die Auslöschungsmetaphorik spielt in Horacio Castellanos Moyas Roman kaum eine Rolle. Bei Thomas Bernhard dagegen ist die (Selbst-) Auslöschung des Protagonisten, an dessen Ende schließlich sein Tod steht, ein zentraler Punkt, wobei zu beachten ist, dass sich die Todesthematik bei Thomas Bernhard wie ein roter Faden durch das gesamte Werk zieht. Ursachen dafür könnten möglicherweise in der Biographie Thomas Bernards liegen, der Zeit seines Lebens unter anderem mit schweren Krankheiten und der Verarbeitung seiner Kindheit unter dem Nationalsozialismus zu kämpfen hatte.

 

[1] im Interview mit Claudia Buess und François Meienberg, Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika (21.05.2006): http://www.litprom.de/sites/castellanos_moya.htm

[2] Thomas Bernhard (1986): Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.xx [Seitenzahl wird noch nachgeliefert].

 

Primärliteratur:

Horacio Catellanos Moya: El asco. Thomas Bernhard en San Salvador. San Salvador 1997

Thomas Bernhard (1986): Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

 

Weiterführende Literatur :

Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika (21.05.2006): http://www.litprom.de/sites/castellanos_moya.htm

Sorg, Bernhard (1992): Thomas Bernhard. München: Beck.

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Horacio Castellanos Moya, fotografiert von Moramay Herrera Kuri (Mexiko)