(Stadt-)Orte

Urbanität, Raum und Bewegung in Horacio Castellanos Moyas Donde no estén ustedes, La diabla en el espejo und El arma en el hombre

Jens Frederic Elze

 

Symbolic representation serves to maintain social
relations in a state of coexistence and cohesion. It
displays them while displacing them - and thus
concealing them in symbolic fashion - with the
help of, and onto the backdrop of nature.

Henri Lefebvre, The Production of Space

 

The generative source for a materialist interpretation of
spatiality is the recognition that spatiality is socially
produced and, like society itself exists in both substantial
forms (concrete spatialities) and as a set of relations
between individuals and groups, an embodiment
and medium for social life itself.

Edward Soja Postmodern Geographies

 

Schon bei einer ersten Lektüre fällt auf, dass Orte und urbane Räume in den Romanen Donde no estén ustedes, La diabla en el espejo und El arma en el hombre des salvadorianischen Autors Horacio Castellanos Moya eine gewichtige Rolle spielen. Die intertextuell aufeinander bezogenen Texte El arma en el hombre und La diabla en el espejo spielen hauptsächlich in San Salvador, der Hauptstadt und mit gut 520.000 Einwohnern bevölkerungsreichsten Stadt des Landes El Salvador. Als Agglomeration hat San Salvador 2,2 Millionen Einwohner und ist wie die meisten lateinamerikanischen Städte dieser Größenordnung von starken sozialen, wirtschaftlichen-, und daraus resultierenden, diese aufrechterhaltenden, architektonischen und städtebaulichen Gegensätzen geprägt. Die besondere Form dieser Texte, in der die Sicht auf und die Bewegung durch die Stadt durch zwei sich kontrastierende Blicke repräsentiert wird, lässt diese realen Differenzen lebhaft hervortreten, reflektiert aber auch die verschiedene Wahrnehmung von Raum und Stadt. Laura aus La diabla en el espejo bewegt sich fast ausschließlich in Räumen der Oberschicht, wie man sie auch aus (post-)industriellen Nationen Europas und Nordamerikas kennt. Sie verbringt Zeit in gehobenen Cafés und Cocktailbars, besucht regelmäßig einen Schönheitssalon, geht in neumodische Einkaufszentren und hat hierbei immer ein abfälliges Wort für die Unterschicht und untere Mittelschicht übrig, mit denen sie befürchtet, sich diese Räume zunehmend teilen zu müssen. Sie vertritt ein architektonisches Modernitätsstreben, wie es in Europa in den 60-80er Jahren üblich war, welches sich darin äußert, dass sie neue, moderne Gebäude historischen Altbauten vorzieht. 

Die Bewegung durch die Stadt erfolgt für Laura immer im eigenen Auto. Dies trifft, bis auf eine Busfahrt, auch auf Robocop aus El arma en el hombre zu, mit dem Unterschied, dass er die Autos rauben muss um in deren Besitz zu gelangen. Die einzige Szene, in der Robocop den Bus benutzt, deutet nicht darauf hin, dass dies ein bei der salvadorianischen Mittelschicht akzeptiertes Transportmittel ist. Über ein leistungsfähiges schienengebundenes Massentransportmittel verfügt die Stadt nicht.

Durch die Räume, in denen sich Robocop im Gegensatz zu Laura bewegt, zeichnet Moya eine interessante und vielschichtige Geographie der Stadt San Salvador. Diese Räume sind getrennt von denen Ninas, und wenn er sich doch in den gleichen wohlhabenden Gegenden aufhält, dann als Eindringling, Fremdkörper und Bedrohung. Während sie im Westen der Stadt im Edelbezirk Escalón (Kartenausschnitt San Salvador, 251 kB) lebt, wohnt er bei seinem Vetter in Soyapango (Kartenausschnitt San Salvador, 111 kB), einem großen Vorort im Osten San Salvadors, der aber noch zur Metropolregion gehört. Soyapango ist eine so genannte Schlafstadt, die größtenteils ohne eigene kulturelle Infrastruktur auskommt und nur dazu dient, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Behausungen und Gastronomie sind hier eher einfach, während Laura in einem großen Haus mit Haushälterin lebt und, im Partyviertel Zona Rosa, in Bars verkehrt, die auch aus westeuropäischer Perspektive gehobenes Niveau haben dürften.

Der Text erwähnt zwar nicht explizit das Vorhandensein von externer link zu einer Zusammenfassung über gated communities gated communities, doch haben einige der beschriebenen Wohnviertel einen, für diese Lebensform typischen, eigenen Wachschutz. Gated communities sind eine Wohnform, in der meist Besserverdienende in Gegenden, die durch einen Zaun und/oder Wachpersonal von der restlichen Stadt und dem sozialen Umfeld abgeschnitten sind, leben können. In den Romanen scheint dies noch eine moderatere Form zu sein, aber in der Realität gibt es vielfach radikalere Ausprägungen, welche über eine eigene Kanalisation, eigene Stromaggregate und schwer bewaffnetes Wachpersonal verfügen. Diese Siedlungsform ist in den letzten zehn Jahren auch in Lateinamerikaverstärkt aufgetaucht und muss daher bei einer Analyse der kontemporären Stadt immer mitgedacht werden. Sie belegt ein Verlangen der wohlhabender werdenden Oberschicht sich gegen die (zumindest nominal) größer werdende Gruppe von Armen zu „schützen“. Wenn auch der Begriff gated communities nicht explizit genannt wird, so schwingt doch das Lebensgefühl, welches sie vermitteln, in den Romanen mit und durch die inneren Monologe wird deutlich, wie sehr sich Laura eine solche Lebensform in einer radikalen Ausprägung herbeisehnt, da sie immer wieder übermäßige Nähe zur Unter- und Mittelschicht beklagt. Stadtkritiker gehen davon aus, dass gated communities in erster Linie Angst und Paranoia reproduzieren und erhöhen. Eine Paranoia, die besonders deutlich in der Szene des Trauerumzuges hervortritt, in der Laura in einem ihr unbekannten Viertel mit schlechtem Ruf, länger im Auto stehen muss und in Panik verfällt. Aber auch in den sonstigen Text haben sich Paranoia und Verfolgungswahn tief eingeschrieben und brechen am Ende massiv hervor.

Lohnenswert scheint auch eine Analyse der kontrastierenden Bewegungen außerhalb der Stadt. Während Robocops Existenz von erzwungener Bewegung (Flucht) geprägt ist, die bis hin zu multiplen Grenzüberschreitungen nach Guatemala und schließlich in die U.S.A. reicht, so ist die einzige Bewegung Lauras außerhalb der Stadt eine freiwillige privilegierte Bewegung, die sie zu ihrem hochklassigen Ferienhaus an der salvadorianischen Pazifikküste führt. Diese kontrastierenden Arten der privilegierten und freiwilligen Bewegung auf der einen und der ökonomisch, beziehungsweise politisch erzwungenen Bewegung auf der anderen Seite, reflektieren die gegensätzlichen Arten der Mobilität im Kontext zeitgenössischer Migrationsströme. Ein Kontext, der in besonderem Maße in Zentralamerika im Allgemeinen und San Salvador im Konkreten prekär ist. Man bedenke, dass die eigentliche größte salvadorianische Siedlung der Großraum Los Angeles ist, in dem über eine Million Flüchtlinge und Immigranten aus El Salvador leben. Bezeichnenderweise endet auch Robocops Odyssee, wie schon angedeutet, in den Vereinigten Staaten.

Der mit diesen beiden Texten ebenfalls verknüpfte Donde no estén ustedes spielt zwar auch teilweise in San Salvador, größtenteils jedoch in Mexiko Stadt. Auch hier können die Stadträume als Indikator für gesellschaftliche Stellung gelesen werden. Der reiche Auftraggeber des Detektivs Pepe Pindonga, Henry Highmont, wohnt, wie schon die Oberschicht in den anderen Texten, im Stadtteil Escalón, der geprägt ist von gehobenen Einfamilienhäusern und Villen. Auch der ehemalige Botschafter Alberto Aragón wohnte in seinen erfolgreichen Tagen in dieser wohlhabenden Gegend, muss aber nach seinem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Abstieg diese Gegend im Westen der Stadt verlassen und in die Siedlung San Luis im Nordosten der Stadt (Kartenausschnitt San Salvador, 256 kB) umsiedeln. Hier lebt er in einer für seine Verhältnisse ärmlichen Unterkunft, in einer Gegend, die der unteren Mittelschicht vorbehalten scheint. Interessanterweise lebt auch Pepe Pindonga, der den Auftrag erhält, Nachforschungen über Aragóns Tod anzustellen, in eben diesem Viertel.

In Mexiko Stadt wohnt Alberto Aragón in einer ärmlichen Dachkammer im Viertel Santa Maria de la Ribera (Kartenausschnitt Mexiko Stadt, 286 kB), einem innerstädtischen Gebiet, zwei Metrostationen westlich der Almeda Central, einem touristischen Zentrum der Stadt. Mexiko Stadt wird im ersten Teil des Buches als urbaner Moloch beschrieben, geprägt von Armut, Menschenmassen und Verfall. Gebündelt  wird dies in einer kurzen Metrofahrt, während der Aragón nur vom Druck der Menschenmassen gehalten stehen bleibt, während beinlose Bettler zu seinen Füßen vorbeikriechen.

Im zweiten Teil, als Pindonga nach Mexiko Stadt aufbricht, werden diese Aspekte durch dessen Blick fast vollständig ausgeblendet, und Mexiko Stadt wird als völlig andere Stadt repräsentiert. Es gibt keine Schilderung von Elend, Pindonga übernachtet in einem Vier-Sterne-Hotel und speist in hochklassigen Restaurants. Seine ehemalige Geliebte Diana, die wohl einer gebildeten oberen Mittelschicht angehört, lebt in einer großzügigen Wohnung am Paseo de la Reforma (Kartenausschnitt Mexiko Stadt, 286 kB), einer nach Vorbild europäischer Boulevards angelegten Prachtstraße, die auf über 20 Kilometern Länge durch Mexiko Stadt führt, und an der auch das Bürogebäude liegt, welches die Zeitung El Independiente, Pindongas ehemaligen Arbeitgeber, beherbergt. Es ist bezeichnend für die Koexistenz von Wohlstand und Armut, dass  die als ärmlich beschriebene Colonia Santa Maria de la Ribera, in der Alberto Aragón dahinvegetiert, nur wenige hundert Meter östlich des wohlhabenden Paseo de la Reforma liegt, und die Metrofahrt, welche im ersten Teil die Probleme der Stadt bündelte, praktisch unter den Füßen Dianas und Pindongas stattfand.

Henry Highmonts Tochter Margot lebt im südlichen Stadtteil San Angel y Coyoacan (Kartenausschnitt Mexiko Stadt und Umgebung, 301 kB), in der Nähe der Universität. Dieser Stadtteil hat eine lebhafte Geschichte und beherbergte unter anderem Leo Trotzki, Frida Kahlo und Diego Rivera. Heute ist dieses Viertel, welches früher eine eigenständige Stadt war und nach 1950 nach Mexiko Stadt eingegliedert wurde, weitestgehend gentrifiziert und beherbergt eine meist kulturell interessierte obere Mittelschicht. Somit ist auch hier der im Roman beschriebene urbane Raum wieder ein verlässlicher Indikator für den sozialen und kulturellen Hintergrund der in ihm lebenden Charaktere, da Margot dieser Schicht zweifelsohne angehört.

Der städtische Raum, in dem ein guter Teil der Texte spielt, ist von Moya recht detailliert gezeichnet. Fast auf jeder Seite fällt ein Straßenname oder der Name eines Restaurants oder Geschäftes. Moya entwirft damit ein scheinbar prototypisches Bild, welches die Charaktere auch anhand der Räume zeichnet, in denen sie sich bewegen und gleichzeitig die Räume, anhand der sich in ihnen bewegenden Charaktere mit zusätzlichen soziokulturellen Merkmalen auflädt. Für den ortskundigen Leser evozieren diese Räume somit bestimmte soziale und kulturelle Assoziationen und fungieren als zusätzliche äußere Beschreibung der Charaktere. Dem nicht ortskundigen Leser vermitteln diese Beschreibungen der urbanen Räume und des Wohlstandes, bzw. der Armut der in ihnen lebenden Menschen ein erstes Bild der sozialen und kulturellen Struktur dieser Städte und Stadtteile, aber auch der Gesellschaften im Ganzen.

Hierbei bleibt natürlich stets zu bedenken, dass die tatsächlichen Lebenswelten in diesen Stadtteile/Städten noch um einiges komplexer und differenzierter sein dürften als es meine so kurze Annäherung zulässt. Eine Reduzierung dieser Komplexität ist allerdings, notwendig, um modellhafte Aussagen über diese urbanen Räume treffen zu können und erste Erkenntnisse abzuleiten. Daher ist es auch in diesem Essay nötig, prototypische Merkmale bestimmter Räume aufzugreifen, die von einem Ortsansässigen möglicherweise als Klischees abgetan würden.

 

Weiterführende Literatur:

Eckhardt, Franz. “Soziologie der Stadt.“ Bielefeld: Trasnscript, 2004.

Glasze, Georg und Klaus Frantz. “Private Cities: Global and Local Perspectives.“ London: Routledge, 2006.

Lefebvre, Henri und Donald Nicholson Smith (trans.). “The Production of Space.“ Malden: Blackwell, 1974.

Soja, Edward.”Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theaory.” New York:Verso, 1989.

Kartenausschnitte:

o.N. (1997): México City - City Centre Map. Fürstenfeldbruck: Berndtson&Berndtson.

o.N. (1994): Plano Tematico De La Ciudad de San Salvador. San Salvador: Ministerio de Obras Públicas - Instituto Geográfico Nacional.

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Kontakt

Dr. Albrecht Buschmann (V.i.S.d.P)

Universität Potsdam
Institut für Romanistik

Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam

externer link Dr. Albrecht Buschmann

Horacio Castellanos Moya, fotografiert von Moramay Herrera Kuri (Mexiko)