Insensatez

Nina Kohl


Der Autor Horacio Castellanos Moya wurde 1957 in Honduras geboren und lebte in El Salvador, Guatemala, Mexiko, USA und Europa. In den Jahren 2004/2006 hielt er sich in Deutschland auf [Zur Vita]. Er schrieb bisher unter anderem acht Romane, der vorletzte Roman Insensatez, der 2004 von der mexikanischen Filiale des Tusquets Verlags veröffentlicht wurde, erschien ein Jahr später in Spanien. Der 150 Seiten umfassende Roman orientiert sich stark an historischen Begebenheiten. Sein beherrschendes Thema sind die Folgen der Massaker, die in Guatemala in den Jahren des Bürgerkriegs vor allem an den Maya-Völkern verübt wurden.
In Guatemala wurde am 24. April 1998 ein Bericht über diesen Genozid an den Maya veröffentlicht. Er trägt den Titel Guatemala. Nunca más! Informe proyecto interdiocesano de recuperación de la memoria histórica, ist aber auch bekannt unter Informe REMHI. Einer der Initiatoren dieses Berichts, der Bischof Juan José Gerardi Conedera (1922-1998), wurde zwei Tage nach der Veröffentlichung ermordet [Gewalt].

Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans ist ein namenloser Journalist mittleren Alters, der kurz vor Beginn der Handlung aus El Salvador nach Guatemala fliehen muss, weil er einen kritischen Artikel über den dortigen Machthaber geschrieben hatte. Ein Freund Namens Erick, den er im Exil in Mexiko kennen gelernt hatte, bietet ihm an, im offiziellen Auftrag einen Bericht über den Genozid in Guatemala redaktionell zu bearbeiten. Er nimmt, unter anderem aus Geldmangel, den Auftrag an.

Es handelt sich hierbei um ein Projekt der katholischen Kirche, sein Freund arbeitet in der Verwaltung des Erzbistums. Die Kirche hat über ihre Katecheten Tausende von Berichten, Interviews und Aussagen über die Massaker an der indigenen Bevölkerung gesammelt, die von fachkundigen Kräften ins Spanische übersetzt und verschriftlicht worden waren. Diese Materialien soll der Protagonist nun im Auftrag des Bischofs zusammenfassen, damit sie in einem abschließenden Bericht veröffentlicht werden können. Für diese Arbeit wird eine Zeit von drei Monaten vereinbart.

In dem Roman werden die Arbeit und das Leben des Protagonisten während der Abfassung des Berichts beschrieben. Er bekommt ein Büro in dem Palast des Erzbischofs zugewiesen, in dem er sämtliche Unterlagen vorfindet, und wird verschiedenen Mitarbeitern vorgestellt. Er beginnt mit der Durchsicht der Berichte, die von grässlichen Gräueltaten wie Hinrichtungen, Folter und Vergewaltigungen handeln, und erkennt schnell die ungeheure Bürde, die er übernommen hat. Er ist so schockiert von der Grausamkeit, dass er sein Büro verlassen muss und sich mit seinem Freund Toto trifft, der ihn bei einigen Gläsern Bier wieder beruhigt.

Dennoch beginnt er schon bald unter Verfolgungswahn zu leiden. Auf der Straße dreht er sich ständig um, weil er sich beobachtet fühlt. Er wird fortan von wilden Träumen verfolgt und ihn überkommen Panikattacken. Diese haben durchaus einen realen Hintergrund, denn unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts wird der Bischof ermordet. Der Erzähler überlegt, auch einen Roman aus der Sicht eines der Opfer zu schreiben, der auf einer Zeugenaussage basiert. Aber er verwirft diese Idee wieder.

Eine Möglichkeit der Ablenkung ist für ihn die Beschäftigung mit Frauen. Bei dem Anblick hübscher Frauen hat er sexuelle Phantasien. Nach einigen Tagen lernt er Pilar, eine in Spanien geborene Mitarbeiterin kennen. Er versucht sie zu verführen, scheitert bei seinem Unternehmen jedoch. Bald lernt er ihre Mitbewohnerin Fátima kennen, mit der er eine Nacht verbringt. Er gerät in Panik, als er erfährt, dass sie einen General zum Freund hat. Er fürchtet, dass dieser sich rächen könnte. Seine Anspannung verstärkt sich, als er mitbekommt, dass Erick ihm offenbar misstraut und ihn über viele Dinge im Unklaren lässt.

Auf der Feier eines Mitarbeiters glaubt er den Freund von Fátima zu erkennen und flieht aus Angst vor diesem durch das Toilettenfenster. Im folgenden wird er durch Zufall Zeuge eines Treffens zwischen dem Gastgeber, seinem Freund Erick, und einem hohen Vertreter des Militärs. Damit er den Bericht in einer Atmosphäre der Ruhe beenden kann, wird ihm ein einsames Haus zur Verfügung gestellt. Auch dort berühren ihn die Zeugenaussagen so stark, dass er Ablenkung in dem umliegenden Wald sucht. Aber auch hier meint er verfolgt zu werden, in Panik verlässt er das Haus und flieht zu seinem Freund Toto.

Das letzte Kapitel spielt einige Wochen später in einem europäischen Land zur Zeit des Karnevals. Nachdem er in einer Bar zusammen mit seinem Cousin einige Gläser Bier getrunken hat, meint er einen General aus Guatemala zu erkennen, worauf er fluchtartig das Lokal verlässt. Von Toto erfährt er, dass der Bischof, nachdem er den Bericht im Namen der katholischen Kirche veröffentlicht hat, am nächsten Tag ermordet worden sei. Mit dieser Information endet der Roman.

Der Protagonist von Insensatez ist ein homodiegetischer Erzähler. Das heißt, der Roman, dessen Handlung sich in der Hauptstadt Guatemalas vollzieht, ist sein Monolog. Beschrieben wird ein Zeitraum von einigen Monaten Ende der neunziger Jahre. Es gelingt Castellanos Moya den Leser zu fesseln, indem die Entstehung des Berichts mit den Ereignissen des Lebens seines Protagonisten verknüpft ist. Die Spannung ergibt sich aus der Frage, ob es dem Erzähler gelingen wird, seinen Bericht fertigzustellen. Besonders belastet ihn die Grausamkeit der Ereignisse, die die Indígenas bezeugen, beschreibt sie immer wieder sehr ausführlich, zum Teil auch anhand von Zitaten aus den Zeugenaussagen. Der Erzähler lässt dabei seine Emotionen einfließen und beginnt, sich Situationen auszumalen, in denen er selbst ähnliche Gewalt ausübt:

...poco a poco me fue penetrando hasta poseerme por completo cuando me ponía de pie y empezaba a pasearme en el reducido espacio de la habitación, entre la mesa de trabajo y la litera, como poseído, como si yo fuese ese teniente que irrumpía brutalmente en la choza de la familia indígena, tomaba con mi férrea mano al bebé de pocos meses por los tobillos, lo alzaba en vilo y luego lo hacía rotar por los aires, cada vez a más velcocidad, como si fuese la honda de David desde donde saldría desparada la piedra, lo hacía girar por los aires a una velocidad de vértigo, frente a la mirada de espanto de sus padres y hermanitos, hasta que de súbito chocaba su cabeza contra el horcón de la choza, revetándola de manera fulminante, salpicanado sesos por todos lados, … .[1]

Durch die genaue Schilderung des Entstehungsprozesses des Berichts werden die Leser des Romans direkt mit den Zeugenaussagen konfrontiert – und mit dem Prozess, in dem aus Zeugenaussagen durch sprachliche Bearbeitung (Übersetzung und anschließende Redaktion) der Bericht entsteht. Insofern ist auf die Sprache selbst Gegenstand von Insensatez, und Castellanos Moya unterstreicht, dass auch vermeintlich authentische Aussagen durch viele Filter gehen, bevor sie einen Leser in Buchform erreichen. In seiner subjektiven Erzählweise springt der Erzähler von einem Thema zum anderen und schachtelt Exkurs in Exkurs. Es ist manchmal schwierig, zwischen den Phantasien des Protagonisten und den realen Geschehnissen zu unterscheiden. Er erzählt nicht chronologisch, was das Verständnis der Geschichte erschwert. Die Sprache des Erzählers ist an mancher Stelle vulgär. An anderer wiederum ist anhand seiner Ausdrucksweise ein gewisser trockener Humor zu erkennen.

Der Erzähler wandelt manche Zeugenaussagen der Opfer, die in seinen Augen besonders poetisch klingen, in Gedichte um. Seiner Meinung nach kann er somit das Unsagbare besser zum Ausdruck bringen und den Aussagen eine besondere literarische Qualität verleihen. Für ihn stellen sie das unbeschreibliche Leiden der Opfer eindringlicher dar. Die Wahl der Textsorte, also die Umformung der Aussagen durch einen intellektuellen Erzähler in Gedichtform, kann möglicherweise eine breitere Gesellschaftsschicht erreichen und diese mit dem Bürgerkrieg in Guatemala konfrontieren [Bürgerkrieg]. Diese sprachliche Aufwertung der Zeugenaussagen der überlebenden Maya-Indianer kann auch als Honorierung durch den Erzähler verstanden werden.[2] Das Verhältnis des Protagonisten zu den Frauen gestaltet sich in diesem Roman so, dass er sie nur als Gegenstände betrachtet, die ihm zur Ablenkung dienen. Dies wird auch durch seine drastische Sprache in diesem Zusammenhang verdeutlicht:

„... la chica que empezaba a dormitar a mi lado era el coño propiedad de un milico, caramba, que yo estaba a punto de deslizarme en el tobogán del terror y buscaba a tientas una mínima agarradera para sostenerme,…”.[3]

Der Titel des Romans Insensatez kann mit „Unvernunft“ oder „Kopflosigkeit“ übersetzt werden. Vermutlich spiegelt der Titel die im Buch geäußerte Meinung des Protagonisten wieder, dass niemand, der nicht geistig verwirrt ist, sich für ein solches Buch interessieren dürfte. Deshalb verwirft er seine Idee, einen Roman über das Schicksal der Indígenas auf Grund deren Zeugenaussagen zu schreiben. Das Romanprojekt des Erzählers unterscheidet sich also durch die Erzählperspektive von dem Roman Insensatez: Castellanos Moya schreibt aus der Sicht eines Intellektuellen und nicht, wie es der Erzähler geplant hatte, aus der Sicht eines Indígenas.

Der Erzähler, der wie die meisten Leser den Bürgerkrieg in Guatemala selbst nicht miterlebt hat, also selbst ein Außenseiter ist, ist eine geschickt gewählte Identifikationsfigur für den von außen kommenden Leser.[4] Der Roman beginnt mit dem Satz: „Yo no estoy completo de la mente“, der sinngemäß mit „Ich bin nicht ganz bei Sinnen“ übersetzt werden könnte. Da der Satz aber im spanischen Original nicht idiomatisch ist, könnte eine Übersetzung auch lauten: „Ich bin nicht ganz im Kopf“, womit die nicht idiomatische Struktur erhalten bliebe. Der Erzähler wiederholt diesen Satz zwanghaft immer wieder. Ursprünglich ist er ein Zitat aus einer Aussage eines Kaqchiquel- Indianers, der bei seiner Zeugenaussage den Satz auf die Tatsache bezog, dass er zusehen musste, wie seine Frau und seine Kinder vor seinen Augen zerstückelt wurden.

Indem sich der Erzähler diesen Satz zu eigen macht, ändert sich seine Bedeutung, die als paradigmatisch für den Umgang von zunächst unbeteiligten Dritten mit den Erfahrungen der überlebenden Opfer des Bürgerkriegs gelten kann. Nach Castellanos Moyas Darstellung haben die verheerenden Folgen des Bürgerkriegs Traumata bei Opfern und Tätern zur Folge, eine geistige Verwirrung der Überlebenden, die sich auf alle, die sich näher mit dem Bürgerkrieg beschäftigen, ausweite. Der Satz „Yo no estoy completo de la mente“ könnte aber auch eine Anspielung auf die bis jetzt noch unvollendete Vergangenheitsbewältigung sein. Des Weiteren ist es möglich, dass der zwanghafte Umgang des Erzählers mit diesem und anderen Sätzen aus den Zeugenaussagen explizit die „unvollkommene“ Erinnerung der Intellektuellen an dem Bürgerkrieg anspricht.[5]

Die Rolle der Kirche stellt der Protagonist als zwiespältig dar. Einerseits wird deutlich, dass sie sich für die Opfer einsetzt, andererseits ist die Kirche Teil des herrschenden Systems, in dessen Verwaltung nur „Weiße“ arbeiten. Außerdem wird im Laufe der Handlung deutlich, dass offenbar Verbindungen zum Militär bestehen. Die Ermordung des Bischofs lässt vermuten, dass er sich tatsächlich jedoch für die Angelegenheiten der indigenen Bevölkerung eingesetzt haben muss. Interessant ist auch der Umschlag des Buches, der einen Ausschnitt aus Williams Blakes El cuerpo de Abel descubierto por Adán y Eva zeigt. Hier ist Adam zu sehen, wie er die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Das Bild lässt eine Allegorie zur Bibel vermuten. Der Bürgerkrieg wird zur Ermordung des eigenen Bruders, zur Ermordung Abels durch Kain in Beziehung gesetzt.[6]

Insensatez selbst ist ebenfalls ein literarisches Zeugnis für die Geschehnisse in Guatemala: So wie der oben genannte Bericht des Protagonisten auf Basis der Zeugenaussagen eine wichtige politische Funktion hat - denn er macht etwas lesbar, was zuvor nur wenigen zugänglich war -, ist auch Insensatez ein Buch von (gedächtnis-) politischem Gehalt. Die Beschreibung der Gesellschaft Guatemalas - der Name des Landes wird nicht explizit erwähnt - weist über sich selbst hinaus und ist so auf andere Länder auch außerhalb Zentralamerikas übertragbar, die nach einem Bürgerkrieg oder nach einem Genozid traumatische Erfahrungen bewältigen müssen. Vielleicht werden in dem Buch eben genau aus diesem Grund keine Namen genannt, weder der des Landes, noch der des Erzählers oder des Bischofs. Ihre Namen sind weniger wichtig als die der Täter, und so lautet ein mehrmals wiederholter Schlüsselsatz des Buches: „Todos sabemos quienes son los asesinos!“.[7]

 

[1] Castellanos Moya 2004: 137

[2] Vgl. Ginberg Pla 2005: 8f.

[3] Castellanos Moya 2004: 100f.

[4] Vgl. Grinberg Pla 2005: 4f.

[5] Vgl. Grinberg Pla 2005: 8.

[6] Vgl. Grinberg Pla 2005: 3.

[7] Castellanos Moya 2004: 153.

Quellen

Castellanos Moya, Horacio (2004): Insensatez. Barcelona.

Grinberg Pla, Valeria (2007): (Un-)möglichkeiten der Erinnerung: der Genozid an den Maya in Horacio Castellanos Moyas Roman Insensatez, in: Bandau, A./ Buschmann A./ von Treskow, I. (Hrsg.): Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin: trafo Verlag. [im Druck]

externer link http://www.iglesiacatolica.org.gt/mgerardi.htm

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Horacio Castellanos Moya, fotografiert von Moramay Herrera Kuri (Mexiko)