ÜberLebenswissen bei Horacio Castellanos Moya
Julian Drews, Katharina Einert, Felipe Gajardo, Anna Verena Isberner, Johann Strese
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1. Der Tod und das Wissen
In seinem 2004 erschienen Band ÜberLebenswissen: Die Aufgabe der Philologie lotet der Potsdamer Romanist Ottmar Ette die Möglichkeiten einer neuen Sicht der Literaturwissenschaft auf ihren Gegenstand aus. Literatur soll als Speicher von Lebenswissen begriffen und genutzt werden. Von den zahlreichen Facetten dieses Projektes können hier nur einige wenige entscheidende dargestellt werden. Neben einer inhaltlichen Neuorientierung der eigenen Disziplin, der romanistischen Literaturwissenschaft, verfolgt Ette auch ein nach außen gerichtetes, wissenschaftspolitisches Ziel. Den Biowissenschaften, die in den letzten Jahren den Begriff der Lebenswissenschaften (lifesciences) für sich okkupiert haben, soll die Literaturwissenschaft als gleichberechtigte Disziplin, die mit eigenen Mitteln der Frage des menschlichen Lebens nachgeht, an die Seite gestellt werden.
Inhaltlich fordert diese Ausrichtung eine verstärkte Aufmerksamkeit der Forschenden für das Zusammenspiel der sozialen, politischen, psychologischen, philosophischen, wirtschaftlichen und biologischen Bedingungen anthropologischer Konstanten wie der Geburt, des Sterbens oder der Liebe in ihrer literarischen Verdichtung.
Weiter bietet dieser Ansatz die Möglichkeit die Frage nach dem Autor des literarischen Textes neu zu stellen. Das Augenmerk gilt dabei nicht der möglichen Intention, sondern der Kommunikation zwischen der Biografie des Autors und der literarisierten Lebenswirklichkeit.
Besonders fruchtbar ist dieser Ansatz im Bezug auf die Texte des seit 1997 im Exil lebenden salvadorianischen Autors Horacio Castellanos Moya.[Vita] Seine vier zuletzt veröffentlichten Romane La diabla en el espejo (2000), El arma en el hombre (2001), Donde no estén ustedes (2003) und Insensatez (2004) stehen auf unterschiedlichen Ebenen in Verbindung zueinander. Sie sind verknüpft im Hinblick auf die Protagonisten, auf die Ereignisse der Handlungsebene und auch was den eher konnotativ erschlossenen Bereich der Thematik, der die Verbindung der Motive Tod und Wissen zum dominanten Moment jedes einzelnen Textes macht, betrifft. Allerdings folgen die Relationen auf der Handlungsebene keinem erkennbaren Muster. Das zentrale Motiv eines Romans kann zu einem Detail im Folgenden werden. Ein Protagonist kann in einem Text Statist, im nächsten Hauptperson und im dritten lediglich namentlich erwähnt sein. Auf diese Weise wird ein intertextuelles Szenario entwickelt, welches gerade durch die Nicht-Linearität seiner Bezüge, die auf der Ebene der histoire die verschiedenen Erzählungen eher kreuzen als sie zu erläutern oder gar chronologisch fortzusetzen, Zusammenhänge der Lebenswirklichkeit in all ihrer Zufälligkeit und Vieldeutigkeit aufzeigt.
Hat es der Leser bei diesen Texten also mit einer bewusst als Mosaik angelegten Struktur zu tun? Horacio Castellanos Moya selbst erklärt, dass die wiederholte Einbeziehung der Charaktere keinerlei vorliegendem Plan entspränge:
… ich schreibe ziemlich nach Gefühl, meine Erzählwelt gestalte ich in dem ich mich vorantaste, ohne diese Idee eines Mosaiks, wie sie es beschreiben im Kopf zu haben. Ich selbst entdecke erst nach und nach Schicksal und Begegnungen dieser Figuren … (Ortiz Wallner, Moya 2006: o. S.)
Das Element des Zufalls scheint also nicht nur innerhalb der Texte sondern auch extradiegetisch auf der Ebene der Texterstellung wirksam zu werden. Mit Hinblick auf dieses Element sagt Ottmar Ette über Erich Auerbachs Buch Mimesis, es handele sich hierbei um Wissenschaft „die sich im Leben weiß und ihr Wissen vom Leben nicht zufällig auch in der Form reflektiert“ (Ette 2004: 61). Dies gelte, so Ette, unabhängig davon, ob der Zufall inszeniert, also literarisches Motiv ist, oder ob er tatsächlich konstitutiv für den Produktionsprozess ist, wie es sowohl Moya als auch Auerbach behaupten (Ebd.).
In der von Moya dargestellten Gesellschaft ist Wahrheit in hohem Maß verhandelbar. Die Sichtweisen der Protagonisten ergänzen sich und bilden einen Horizont von Möglichkeiten, der nach vielen Seiten offen ist. An dieser Stelle gilt es jedoch vorsichtig zu sein und nicht einem spontanen Reflex folgend Moyas Romane an eine europäische, konstruktivistisch geprägte Literaturtheorie anzudocken. Seine Texte bieten keine Poetik diskursiv erzeugter Realitäten. Stattdessen verdichten sie die Erfahrung einer Gesellschaft, in der das Interesse an der Rückverfolgung tatsächlich wirksam gewordener Handlungsmotive von keiner wirkungsrelevanten Institution vertreten wird. Exemplarisch wird das vorgeführt in La diabla en el espejo anhand der Geschichte des Mordes an der Figur Olga María und der Frage nach seinen Gründen.
Indem er diese innerdiegetische Struktur tatsächlich offen gestaltet, kreiert Moya ein entscheidendes Charakteristikum seiner Romanwelt; eine nahezu unbegrenzte Anzahl an Gründen gewaltsam zu Tode zu kommen. Hier wirken Kausalitäten, die so kompliziert sind, dass selbst den Tätern die grundlegenden Motive ihrer Taten nicht klar sind, wie das Beispiel des Protagonisten Robocop in El arma en el hombre deutlich macht.
Vor diesem Hintergrund könnte man mit Donde no estén ustedes den Ort der Wahrheit bezeichnen. Einen oftmals tödlichen Ort, den ein Gegenüber, sofern es noch ansprechbar ist, nicht betreten haben kann.
Nur Überlebende sind ansprechbar und nur Überlebende können berichten. Insofern deutet schon die Erzählsituation der genannten Romane auf Distanz oder Nähe zu diesem Ort.
Die Handlungen werden fast sämtlich in der ersten Person erzählt und belegen so schon das Überleben eines Ichs. Heterodiegetisch ist einzig die Schilderung der letzten Stunden Alberto Aragóns, welche dem Leser von Anfang an deutlich macht, dass der ehemalige Botschafter im Laufe seiner Karriere zwischen den Fronten, jenem Ort zu nahe gekommen ist, als dass er seine Geschichte noch selbst erzählen könnte.
Moya konstruiert das Panorama einer Gesellschaft aus den Stimmen von Subjekten, die als Überlebende sprechen. Die zahlreichen weißen Flecken dieser narrativen Landkarte sind notwendig. Nicht als Ergebnis des Subjektiven, das seine Bedingtheit auch im Plural der Perspektiven nie gänzlich überwindet, sondern weil das Überleben immer auch eine Frage des Nicht-Wissens ist.
In Moyas Welt kann das Wissen um die Zusammenhänge genauso Fluch wie Ressource sein. Die Grenze ist fließend und worum es sich jeweils handelt, hängt nicht unwesentlich von der eigenen sozialen Stellung ab. Der Wissenstransfer von der individuellen auf die kollektive Ebene und von dieser auf die offizielle ist hochgradig problematisch und nicht selten gefährlich, wie der Roman Insensatez nur zu deutlich macht.
Die Protagonisten sind dabei stets doppelt gefährdet. Während die Gefährdung ihrer physischen Unversehrtheit oft nur erahnt wird, ist ihre psychische Verfassung in den meisten Fällen ungleich prekärer. Manchmal scheint der Verlust der seelischen Gesundheit geradezu der Preis des körperlichen Überlebens zu sein.
2. La diabla en el espejo – Schizophrenes Wissen
In diesem Roman sind Wissen und Tod als literarische Motive stark präsent. Die Protagonistin Laura wird mit dem Mord an ihrer besten Freundin Olga María und den anschließenden Ermittlungen konfrontiert. Im Dialog mit einer imaginären Gesprächspartnerin entwickelt sie ein Bild ihrer Beziehung zu Olga María, das zu einem Portrait ihrer sozialen Schicht gerät. Strukturierendes Element ihrer Darstellung sind die Verläufe der Informationsflüsse, die für verschiedene Personen zu verschiedenen Graden an Informiertheit und damit zu Kriterien für Zugehörigkeit und Ausschluss werden. Interessant ist die Entwicklung der Protagonistin Laura, die parallel zu ihrem Wissen über ihre tote Freundin verläuft. Zu Beginn des Buches erscheint es Laura unmöglich, den Tod Olga Marías zu erklären, die Möglichkeit, jemand hätte sie ermorden wollen, ist für die Protagonistin nicht existent. „Algo me huele raro, en especial porque Olga María no podía tener enemigos.“ (Moya 2000: 15) Die Ermordung kann für Laura also nur das Resultat eines Irrtums, einer Verwechslung gewesen sein. Der Tod einer Person gibt hier Anlass, über das „wahre“ Leben – sollte es ein „wahres“ und ein „unwahres“ Leben überhaupt geben – derselben zu recherchieren.
Die Erzählerin Laura lässt den Leser nach und nach an ihrem Wissen teilhaben. Dabei bleibt offen, ob die Informationen, welche sich Laura im Laufe der Handlung erschließen, gänzlich neu für sie sind oder ob es sich eher um die Bewusstmachung von bereits bekanntem, verdrängtem Wissen handelt, das ihre Entwicklung bedingt. Die Dinge, die Laura über Olga María und ihr Leben erfährt, führen dazu, dass sich ihr Bild von der Toten nach und nach wandelt.
Sie berichtet von den Affären mit verschiedenen Männern, die sie zum Teil selbst deckte und nimmt Olga María in Schutz. Im Laufe der Geschichte erfährt sie, dass auch ihr Ex-Ehemann Alberto eine dieser Affären war, die noch während ihrer Ehe stattfand. Nach und nach erfährt der Leser außerdem, dass Laura neidisch auf Olga María war – „Fue a la hora del postre cuando le dije que me daba envidia la intensidad con que él parecía estar enamorado de Olga María, que nadie estaba enamorado de mí de esa manera.” (Ebd. 26) –, da ihr die Männer reihenweise verfallen, deren Liebe bzw. deren Verliebtsein in Obsession umschlägt. „Un animal resultó el tal Julio Iglesias: no le importaba que Marito fuera su socio y amigo, estaba obsesionado, la llamaba sin ninguna prudencia, aparecía por la boutique como un energúmeno.“ (Ebd. 24)
Außerdem überrascht Laura die Entdeckung, dass ihre Freundin pornographische Fotos von sich hat machen lassen, von denen jedoch nur eines übrig ist, welches Handal, der ermittelnde Polizist, ihr zeigt. Die Affäre Olga Marías mit Alberto gibt einen Hinweis darauf, dass sie möglicherweise in die Finanzaffäre Finapro verstickt war, oder zumindest darauf, dass sie über mehr Informationen verfügte, und dass sie selber dort Geld angelegt hatte. Ob für Olga María dieses Wissen tödlich gewesen sein könnte, bleibt offen, da der Auftraggeber nicht bekannt wird und auch Laura selbst unter Verdacht gerät.
Das Wissen, welches Laura über Olga María erlangt, ist möglicherweise der Grund für ihre Paranoia und ihre Schizophrenie. Man kann sagen, dass auch Lauras Wissen – analog zu ihrer „gespaltenen Persönlichkeit“ – gewissermaßen gespalten ist: das Wissen, zu dem sie steht, welches sie weitergibt, und jenes, welches sie erst nach und nach erlangt und eventuell nicht wahrhaben möchte. Interessant ist, dass sie selbst Olga María eine gespaltene Persönlichkeit unterstellt, als sie mit Aspekten ihres Wesens konfrontiert wird, die nicht in ihr bisheriges Bild passen. Dabei bleibt zu hinterfragen, ob es überhaupt ein Wissen über Olga María gibt, welches der Realität entspricht, da der Leser es im gesamten Roman nur mit Aussagen über sie zu tun bekommt, die nach ihrem Tod von verschiedenen Personen gemacht werden.
Erst der Tod ihrer besten Freundin hat Laura dazu veranlasst, sich ein Bild der „wahren“ Olga María zu machen. Dies führt zu einem Nervenzusammenbruch. Der Leser wird erst zum Ende des Buches darüber informiert, dass die Gesprächspartnerin Lauras nicht als reelle Person existiert, sondern ein Teil ihrer eigenen Persönlichkeit ist: ihre Rede ist ein Monolog. [Oralität] Man könnte es also auch einen Konflikt nennen, in den Laura durch den Tod Olga Marías geraten ist – einen Konflikt um das Wissen über Olga Marías Leben, über sich selbst und ihre soziale Klasse, die Oberschicht des Landes. Der Leser wird zum Zeugen dieses Konflikts gemacht. Je mehr Laura erfährt oder je mehr ihr bewusst wird, desto nervöser und unausgeglichener wird sie, bis sie schließlich einen Nervenzusammenbruch erleidet.
Am Ende scheint Laura, die Angst um ihr Leben hatte, physisch außer Gefahr zu sein. Die Bedrohung hat sich als Hirngespinst erwiesen. In diesem Sinne ist sie eine Überlebende. Allerdings ist sie psychisch derart beschädigt, dass sie, offensichtlich schizophren, in eine geschlossene Anstalt gebracht wird, so dass ihr Überleben allein ein physisches ist, das kaum als Erfolg erscheint.
Dieses Fazit auf der Personenebene lässt sich auf die salvadorianische Gesellschaft übertragen. Diese ist auch nach 12 Jahren Bürgerkrieg noch physisch existent. Innerlich ist sie allerdings so gestört, dass ihre Elite vom Ganzen der Gesellschaft nur noch ein schizophrenes Wissen erlangen kann. Die ganze Wahrheit ist nicht zu ertragen.
3. El arma en el hombre – Stilles Töten als Überlebenswissen
Auch in diesem Roman stehen die Motive Wissen und Tod in engem Zusammenhang. Der Protagonist und Erzähler ist ein ehemaliger Armeeangehöriger genannt Robocop.
… las Fuerzas Armadas habían sido mi padre y el batallón Acahuapa mi madre. No me podía imaginar convertido de la noche a la mañana en un civil, en un desempleado. (Moya 2001:12)
Seine Ausbilder bei der Armee haben ihn mit dem Wissen versehen, das er braucht, um im Kampf gegen die Terroristen zu bestehen und zu überleben. Dieses Wissen wendet er den ganzen Roman über an.
Wie der Spitzname „Robocop“ bereits andeutet, vollziehen sich seine Handlungen dabei quasi mechanisch nach festen, antrainierten Mustern. Er reagiert wie ein Roboter, der sein Programm durchlaufen muss. Dieses Wissen wurde ihm in der Bürgerkriegszeit von der Armee „einprogrammiert“.
Die Wissensanwendung des Protagonisten besteht in erster Linie im Vorgang des Tötens. In seiner Logik existieren nur „schwarz“ oder „weiß“, d.h. terroristas oder Fuerzas Armadas. Im Krieg war ihm diese Einstellung von großem Nutzen, denn sie hat es ihm ermöglicht, im Gegensatz zu vielen seiner Untergebenen und Vorgesetzten zu überleben.
Nach dem Friedensabschluss aber stößt er sehr schnell an die Grenzen seiner Fähigkeiten, wie das obige Zitat zeigt. Er schafft es nicht, sich in die Zivilgesellschaft einzugliedern und verachtet die Demokratie, so dass er sich gegen sie wenden muss, um zu überleben. Er beginnt erneut von seinen Kenntnissen Gebrauch zu machen, indem er Leute überfällt und ausraubt.
Seine Fähigkeiten lassen Robocop für verschiedene Gruppierungen im El Salvador der Nachkriegszeit zu einem unersetzlichen Werkzeug werden. Er wird zu einem Auftragsmörder. Da er seine Befehle ausführt, ohne Fragen zu stellen, weiß er weder, warum seine Opfer sterben müssen noch wer eigentlich seine Auftraggeber sind. Er verfügt über praktische Kenntnisse, hat allerdings wenig Informationen und es stellt sich die Frage ob es nicht gerade das Nichtwissen sein könnte, das sein Überleben sichert.
Allerdings ist Robocop mehr als ein schlecht informierter Soldat. Vielmehr ist er direkt an der Auslöschung von Wissen beteiligt, wenn er wiederholt Zeugen seiner Handlungen umbringt. Sein ganzes Engagement, wenn auch unbewusst, dient der Verhüllung dieses Wissens, das seinen Auftraggebern zum Verhängnis werden könnte. Er umschleicht den Ort der Wahrheit wie ein Wachhund, der selbst nicht ins Haus darf. Robocops quasi „einprogrammierte“ Handlungsweise macht ihn zum perfekten Killer, und das Töten wird für ihn so existentiell, dass er hier eine über das rein Rationale hinausgehende Virtuosität entwickelt. Dies wird vorgeführt als er sich nicht damit begnügt, seinen ehemaligen Auftraggeber Mayor Linares zu erschießen, sondern ihm mit eigenen Händen das Hirn aus dem Kopf schlägt:
El mayor aún respiraba cuando le machaqué la cabeza con la culta de la pistola: me quité el guante para tomar sus sesos y restregárselos en lo que le quedaba de rostro. (Moya 2001:94)
Dieses Bild steht zudem symbolisch für die Vernichtung von Wissen durch den Protagonisten.
Der in vielen Romanen Castellanos Moyas problematisierte Wissenstransfer von der individuellen auf die kollektive Ebene und innerhalb der kollektiven auf die offizielle Ebene wird hier in seiner ganzen Gefährlichkeit vorgeführt. Figuren wie Robocop sind die realen Gefahren, die an den Übergängen lauern.
Verglichen mit anderen Protagonisten des Autors ist er eine relativ erfolgreiche Figur. Er lebt mit und von der Gewalt und überlebt ohne physisch oder psychisch ernsthaften Schaden zu nehmen. Es scheitern jene Figuren, die versuchen ein normales Leben zu führen und trotzdem immer auf die eine oder andere Weise von der Gewalt eingeholt werden: meistens in Form von Erinnerungen. Robocop dagegen bleibt bei allen Rückschlägen letztlich doch ein Sieger.
Somit ist er gewissermaßen eine Figur der Stille [Oralität]: „No contaré mis aventuras en combate, nada más quiero dejar en claro que no soy un desmovilizado cualquiera.“ (Moya 2001:11), die es versteht sich aus dem Mantel der Verschwiegenheit eine Art Schutzumhang zu gestalten und somit ihr Überleben zu sichern. Er zeigt sich in gewisser Weise sogar lernfähig. Am Ende des Buches findet er sich in einem texanischen Gefängnis wieder. Hier geht er gegenüber den US-amerikanischen Drogenfahndern zum ersten Mal einen Deal ein und entscheidet sich zu reden. Ein Sprechen über die Ereignisse scheint also eine Position außerhalb der betreffenden Zusammenhänge zu fordern. Im Falle von Robocop heißt das, dass er das Staatsgebiet El Salvadors verlassen muss, um seine Erlebnisse zu berichten, im Fall von Laura in La diabla en el espejo , dass sie sich als Wahnsinnige außerhalb der Gesellschaft befindet.
4. Donde no estén ustedes – Das Leben der Marionetten
Aufgrund der Zweiteilung des Romans ergibt es sich, dass der Leser zunächst etwas über den ersten Protagonisten, Alberto Aragón, erfährt. Seine weitreichenden politischen Kontakte und damit sein politisches Wissen haben ihm in seiner Heimat El Salvador zu einer hohen politischen Stellung verholfen, nämlich der eines Botschafters in Nicaragua. Aragón ist jedoch in seiner politischen Haltung bigott. Er setzt sein Wissen beispielsweise nicht zur Erreichung eines politischen Ideals ein, sondern unterstützt sowohl die radikal linke Guerrilla als auch die extrem rechten Militärs. Motiviert wird diese Handlungsweise durch ein starkes Verlangen nach Ansehen und Reichtum.
... se impusiera en las primeras elecciones de posguerra en El Salvador y le arrebatara el poder ejecutivo a la derecha algo a lo que Alberto le apostó con un entusiasmo que reflejaba, más que sus simpatías políticas, la conciencia de que ésa era su única ruta para obtener un cargo y un salario a los que de otra forma no llegaría ... (Moya 2002: 60)
Im weiteren Verlauf der Handlung wird deutlich, dass Aragóns politisches Engagement einen hohen Tribut gefordert hat. Sein Sohn, der sich einer kommunistischen Organisation angeschlossen hat, wird gemeinsam mit seiner Freundin von den Militärs umgebracht. Der Protagonist befindet sich daraufhin für den Rest seines Lebens in einem starken Gewissenskonflikt, für den keine Lösung existiert.
Parpadea, puro reflejo, sin poder salir de ese dolor que se ha estacionado en su costado derecho con la pesadez de lo que tiene de volverse rutina, de ese dolor que ha tomado total control de su cuerpo y de su mente, un dolor que agarra a su pensamiento por los cabellos y lo arrastra al pantano de la culpa y las recriminaciones ... (Moya 2002: 81)
Das daraus resultierende Wissen um Schuld und eigene Inkompetenz sucht der Ex-Botschafter mittels krankhaften Alkoholkonsums zu verdrängen, woran er schließlich stirbt.
Es kann geschlussfolgert werden, dass der Protagonist im Umgang mit seinem politischen Wissen immer nur eine marionettenartige Funktion übernommen hat. Anders als beispielsweise bei Robocop, dem Protagonisten in El arma en el hombre, der ebenfalls eine Marionette seiner jeweiligen Auftraggeber ist, ist Aragóns Wissen in der Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg nicht nur überflüssig, sondern für verschiedene Vertreter der ehemaligen Konfliktparteien obendrein gefährlich. Während es für eine Person wie Robocop immer Verwendung gibt, bleibt für Alberto nur der Weg ins Exil und letztlich in den Tod. Im Roman lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass den anderen Figuren diese marionettenartige Funktion Aragóns durchaus bewusst ist. So benutzt beispielsweise die Ex-Schwägerin des Protagonisten, Sapuneca, für Aragón den Spitznamen el Muñecón.
Ein weiteres Charakteristikum dieser Figur ist ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht. Er unterhält im Laufe seines Lebens keinerlei emotionsträchtige Beziehungen zu Frauen. Sie stellten für ihn vielmehr schöne Eroberungen dar, von denen er möglichst viele zu sammeln suchte.
¿Cuántas mujeres se ha llevado a la cama lo largo de su vida? [...] luego dejó de importarle, y una vez que constató que había pasado la cifra de cien, ese número mítico que era la meta de sus seducciones, no volvió a contabilizarlas. (Moya 2004: 52)
Nur eine Frau, die Ehegattin seines besten Freundes Henry Highmont, Margot, wird von Aragón auch mit einem gewissen emotionalen Hintergrund beschrieben. Er fühlt sich zu dieser Frau so hingezogen, dass er bereit ist, auf die Freundschaft mit Henry zu verzichten, um mit Margot ein gemeinsames Leben zu beginnen. Jedoch Margot erwidert seine Gefühle nicht.
... lo que le quedaba de vida era el motor que mantuvo desbocado a su corazón durante tres meses hasta que a punta de frustración y dolor comprendió que ella no volvería a ser suya, sino sólo de Henry, que para ella había sido un lindo `affaire` sin posibilidad de futuro, ... (Moya 2004: 53)
Durch dieses Motiv klingt auch im emotionalen Bereich die Marionettenhaftigkeit des Protagonisten an. Für Margot war er nur eine Affäre, und das macht ihn auch im Privaten zu einem Spielzeug fremder Interessen.
Diese Emotionslosigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen trifft bei Aragón nicht nur auf Relationen mit Frauen zu. In Mexiko im Exil, völlig mittellos, muss er ebenfalls feststellen, dass niemand aus seinem engsten, politischen Freundeskreis noch für ihn da ist.
Er stirbt schließlich völlig vereinsamt, da er die ihm, zuletzt nur noch von seiner Lebensgefährtin Infanta entgegengebrachten Gefühle immer zurückgewiesen hat:
Pero [Infanta] hubo algo en sus ojos […] el instinto perverso, excitado ante la posibilidad de transgredir el candor, o dicho con una vulgaridad a la que Alberto nunca apelaría en público, [...] De otra manera nunca se hubiera fijado en ella o le hubiera durado apenas un par de noches, porque nadie ni remotamente hubiera imaginado que Alberto Aragón iba a terminar sus días con una chica con tan escasos atributos físicos y sin clase ... (Moya 2004: 51)
Dem Protagonisten ist also in jedem Fall eine Inkompetenz im Umgang mit emotionalem Wissen, bzw. eine Fehleinschätzung darüber, was sein Wissen aus dem Bürgerkrieg in der Nachkriegszeit noch wert ist, zuzuschreiben.
Im zweiten Teil des Romans, in dem die Hauptfigur, der Privatermittler Pepe Pindonga, von Henry Highmont nach Mexiko geschickt wird, um den Tod Aragóns zu untersuchen, finden sich gewisse Parallelen zum Protagonisten des ersten Teils.
Highmont beauftragt Pindonga für ihn Informationen über die Todesumstände Aragóns einzuholen. Auch Pindonga ist somit lediglich eine ausführende Instanz. Besonders auf der emotionalen Ebene wird die Parallele zum Protagonisten des ersten Teils deutlich. Pindonga investiert ebenfalls kaum Emotionalität in seine Relationen mit Frauen. Jedoch finden sich im Roman zwei weibliche Figuren, die in Pindonga gewisse Emotionen auslösen. Zum einen Rita Mena, die sich entscheidet, das Verhältnis zu ihm aufzugeben, um ein Studium in Madrid zu beginnen, zum anderen die Tochter von Henry Highmont, die ebenfalls Margot heißt und ihrer Mutter, der Geliebten von Alberto Aragón, sehr ähnlich sieht. Sie übt auf Pindonga eine große sexuelle Anziehungskraft aus. Nachdem Rita Mena Pindonga verlässt, wird ihm ebenfalls bewusst, dass er sie nicht an sich binden konnte und er versucht sein Wissen um die eigene emotionale Imkompetenz ebenfalls mit Alkohol und Kokain zu vergessen. Als er jedoch seine Untersuchungen im Fall Alberto Aragón beginnt, zwingt Pindonga sich während des ganzen Aufenthalts in Mexiko, keine Drogen und keinen Alkohol zu sich zu nehmen, was ihm in gewisser Hinsicht einen Sonderstatus verleiht, denn fast alle anderen Figuren, mit denen er im Verlauf seiner Untersuchungen in Kontakt kommt, ergeben sich tagtäglich dem Alkoholkonsum. Da für die beiden Protagonisten festgestellt werden kann, dass überhöhter Alkoholgenuss quasi zur Bekämpfung von Wissen dient, darf angenommen werden, dass die anderen Figuren des Romans diese Taktik ebenfalls anwenden.
Auch Pindonga unterhält keine wirklich freundschaftlichen Verbindungen zu den anderen Figuren. Sein von ihm so bezeichneter „Freund“, Negro Felix, hält Pindonga für langweilig und unausstehlich, wenn er keinen Alkohol trinkt.
Nachdem auch Margot Pindonga nach einer gemeinsamen Nacht fallen lässt und ihm zu verstehen gibt, dass sie keine gemeinsame Zukunft mit ihm anstrebt, fängt Pindonga erneut an zu trinken, noch bevor er seine Heimreise nach El Salvador antritt.
Abermals findet sich hier das Motiv der Bekämpfung von Wissen durch Alkoholkonsum.
Interessant ist, dass Pindonga die Parallele seines eigenen Lebens mit dem von Aragón nicht zu erkennen scheint. Stattdessen kommt er hinter die falsche Vaterschaft von Henry Highmont. Interessanterweise fällt ihm die Verwandtschaft zwischen Margot und Alberto erst auf, nachdem er wieder angefangen hat zu trinken, und den entscheidenden Hinweis erhält er nicht durch Ermittlungen oder logische Schlussfolgerungen, sondern durch seine Besessenheit von dem Gedanken Margot haben zu müssen. Durch diesen Kunstgriff inszeniert Moya eine paradoxe Situation. Die Ebene des Rausches, die vornehmlich dem Verdrängen von Wissen zugeordnet ist, fördert hier die Lösung des entscheidenden Zusammenhanges zu Tage. Der Grund, weshalb Henry Highmont Pindonga auf die Untersuchung der Todesumstände seines Freundes Aragón ansetzt, wird dem Leser erst auf den letzten Seiten des Romans präsentiert. Highmont wusste von der Affäre zwischen seiner Frau und Aragón. Deshalb investierte er keinerlei Bemühungen darin den Sohn Aragóns vor seinem grausamen Tod durch die Militärs zu bewahren. Damals setzte er also sein Wissen ein, um eigene Rachegelüste an seinem Freund auszuleben und ihm so einen Schmerz durch den Verlust seines Sohnes zuzufügen. Des Weiteren war Hihgmont sich im Klaren darüber, dass die kleine Margot nicht seine leibliche Tochter, sondern die von Alberto Aragón ist. Somit ergibt sich ein ganz offensichtliches Motiv für das Interesse Highmonts am Tod Aragóns. Er möchte sicher gehen, dass Aragón das Geheimnis um die Vaterschaft seiner Tochter mit ins Grab nimmt, um mit keinem Skandal rechnen zu müssen, der sein oder Margots privates und berufliches Fortkommen hätte in Frage stellen können. Die Verknüpfung der Motive Tod und Wissen ist hier überdeutlich.
Der zweite Grund für Highmonts Interesse ist ein emotionaler. Wie im Epilog zum Ausdruck kommt, will Highmont die Informationsbeschaffung durch Pindonga dazu nutzen, um seine Schuldgefühle am Tod des Sohnes von Aragón ablegen zu können, was ihm jedoch nicht gelingt. Wie auch den anderen Protagonisten bleibt ihm lediglich der Alkohol:
Abrirá la puerta de cristal y saldrá al patio, [...], con la idea que fue una tontería pensar que podría saldar cuentas definitivas con el Muñecón, cerrar ese enorme capítulo de su vida, y pasar limpio y fresco a otra cosa. La memoria es una tirana implacable. (Moya 2004: 269)
Wie steht es mit dem Überleben in Donde no estén ustedes? Wie in Moyas übrigen Romanen ist es auch hier an ein emotionales Scheitern geknüpft. Henry Highmont sieht sich der Gefahr entledigt, die ihm durch Albertos Wissen erwachsen ist. Doch die tyrannische Erinnerung lässt ihm keine Ruhe. Er bekämpft sie durch Alkohol und ähnelt darin sowohl Alberto als auch Pindonga. Letzterer gehört wohl zu Moyas langlebigsten Charakteren, obwohl er sich in einem sehr ungesunden Gewerbe, der Beschaffung von Informationen, betätigt. Sein ÜberLebenswissen besteht, ähnlich wie dasjenige Robocops, in einer spezifischen Form des Nicht-Wissens. Pepe ist hinter die wahre Herkunft Margot Highmonts gekommen. Wohlweislich behält er dieses Wissen für sich. Der gefährliche Transfer auf eine andere Ebene wird so umgangen. Pindonga überlebt weil man das tatsächliche Ausmaß seines Wissens nicht ahnt.
5. Insensatez – Überleben und Paranoia
Über den Lebenshintergrund des Protagonisten und homodiegetischen Erzählers von Insensatez erfährt der Leser sehr wenig. Es wird weder Name noch Herkunftsort genannt. Man weiß, dass er aus einem benachbarten mittelamerikanischen Land fliehen musste, nachdem er einen kritischen Artikel über den dortigen Präsidenten veröffentlicht hat. Nun verdient er sein Geld damit, Zeugenaussagen der indígenas zu korrigieren, die in einem Bericht über die Gewaltakte an den Ureinwohnern erscheinen sollen, so wie es in der außerliterarischen Wirklichkeit in Guatemala 1998 tatsächlich geschah. Die katholische Kirche veröffentlichte einen Bericht, der die Menschenrechtsverletzungen während des 36-jährigen Bürgerkriegs (1960-1996) dokumentiert und zu der Ansicht gelangt, dass die überwiegende Mehrzahl der Verbrechen vom Militär begangen wurde. Auch im 4-bändigen Informe del Proyecto Interdiocesano "Recuperación de la Memoria Histórica" berichten 6500 Überlebende und Zeugen der Gewaltakte von ihren Erlebnissen.
Im Laufe seiner Arbeit beginnt der Protagonist um seine Sicherheit zu fürchten. Dass das Projekt für die Beteiligten tatsächlich nicht ungefährlich ist, wird am Ende des Romans deutlich, als er von der Ermordung des verantwortlichen Bischofs erfährt.
Er selbst sieht sich bei seiner Tätigkeit mit einem hohen Grad an Mittelbarkeit konfrontiert. Zum einen ist das Material, das er bearbeitet, in verschiedenen Schritten vorbereitet worden. Die Zeugenaussagen der indigenen Bauern wurden auf Tonband aufgenommen, zum Teil ins Spanische übersetzt und transkribiert. Seine Arbeit könnte sowohl als Akt der Ausdifferenzierung wie auch als weiterer Abstraktionsschritt verstanden werden.
Zum anderen befindet er sich in einer emotionalen Distanz zum ganzen Projekt. Das wird deutlich, als er Streit über eine verspätete Gehaltszahlung vom Zaun bricht, als er die Möglichkeit ausschlägt eine der Zeuginnen persönlich zu treffen und aus der Tatsache, dass er sich einige Zeilen aus den Aussagen einzig ihrer exotischen Formulierungen und poetischen Schönheit wegen herausschreibt. Mit dem politischen Hintergrund des Projektes will oder kann er sich offensichtlich nicht identifizieren. Möglicherweise rettet ihm dies das Leben.
Ziel des Berichtes ist wiederum eine Art Wissenstransfer. Es geht hier nicht um die Erschließung neuen Wissens im Sinne der Kriminalistik. Das Wissen um die Verbrechen, die Morde, Folterungen und Vergewaltigungen der indígenas, ist als kollektives Wissen in der Gesellschaft bereits vorhanden: „Todos sabemos quienes son los asesinos.“ (Moya 2005: 153) Allerdings soll es durch die Veröffentlichung verschriftlicht und so Teil der offiziellen Geschichte werden.[Oralität]
Das Motiv des physischen Überlebens auf Kosten der geistigen Gesundheit, das schon für die anderen Romane herausgestellt wurde, ist in diesem Roman überdeutlich akzentuiert.
Y esta otra frase, decime, le increpé ya decididamente encarrerado yo, si no se trata de un gran verso, de una joya poética, dije antes de pronunciarla con intensidad: Porque para mí el dolor es no enterrarlo yo... Fue cuando detecté en la mirada de mi compadre Toto cierta alarma, como si yo me estuviese yendo de la boca y algún informante preciso estuviese tomando nota sin que yo me percatara, lo que me produjo cierto escalofrío y el acto reflejo de ver con nerviosismo a los comensales de las mesas que nos rodeaban, la mayoría de los cuales podía perfectamente ser informante de los militares, no me hubiera extrañado incluso que muchos de ellos lo fueran, dadas las condiciones de ese país, razón de más para guardar mi pequeña libreta de apuntes en el bolsillo de mi chaqueta y hacer una señal a la mesera para que me trajera mi tercer y último tarro de cerveza. (Moya 2005: 32f.)
Der Protagonist entwickelt einen Verfolgungswahn, der von Kapitel zu Kapitel an Intensität gewinnt und der ihn schließlich dazu bringt, nach Europa zu fliehen.
Interessant ist, dass sein Verfolgungswahn ihn dabei vor einer möglichen Gefahr bewahrt. Aus diesem inneren Konflikt scheint der Protagonist aber nicht mehr herauszukommen, denn auch in Europa will er einen der Haupttäter aus den Zeugenberichten wiedererkennen, der aber mit ihm deutsch spricht und vorgibt, nicht zu verstehen.
6. Fazit
Moyas Figuren sind auf der Suche nach einer zivilgesellschaftlichen Existenz. Die Erfahrungen und Erinnerungen des Bürgerkriegs aber machen eine solche Existenz unmöglich. [Erinnerung] Deutlich vorgeführt wird dies durch die Allgegenwart des Todes in den vier Romanen. Für die meisten Figuren tritt er als reale oder gefühlte Bedrohung auf, im Falle von Robocop als Existenzgrundlage. Die Spezifika des Todes in Moyas literarischer Welt sind seine Omnipräsenz, seine Plötzlichkeit, die unklaren Bedingungen seines Eintretens und eine gewisse Rückwärtsgewandtheit durch den Verweis auf den vergangenen Krieg, die jeden der vier Texte durchdringt.
Durch Rückgriff auf den theoretischen Ansatz Ottmar Ettes soll nun versucht werden, einzelne Aspekte dieses Motivs aus ihrer Verdichtung heraus in ein auch extradiegetisch vorhandenes Lebenswissen rückzuübersetzen. Dazu soll zunächst vergleichend auf einige Gedanken aus ÜberLebenswissen zum Motiv des Todes eingegangen werden. In dem Kapitel Todesarten unter der totalen Herrschaft rekonstruiert Ette aus der theoretischen Reflektion Hannah Arendts und Giorgio Agambens einerseits, sowie aus der Lyrik Emma Kanns andererseits, die spezifische Art des durchgeplanten Sterbens in deutschen und zum Teil auch sowjetischen Konzentrationslagern. In der Terminologie Hannah Arendts lässt sich hier als erster Schritt die Tötung der juristischen Person durch Deportation in einen, der zivilen Gerichtsbarkeit entzogenen Raum ausmachen. Darauf folgt, so Arendt, die Ermordung der moralischen Person durch Verschleierung der realen Umstände des Sterbens oder Überlebens. Dadurch würde das erste Mal in der Geschichte Märtyrertum unmöglich gemacht. Als Drittes folge dann die Ermordung der Individualität. (Ette 2004: 200)
Bei aller nötigen Vorsicht gegenüber vorschnellen Analogien lassen sich hier doch Parallelen zu den von Moya beschriebenen spezifischen Formen des Sterbens im El Salvador der Nachbürgerkriegszeit erkennen.
So z. B. der nicht vorhandene juristische Schutz, der zwischen dem Individuum und der Möglichkeit seines gewaltsamen Todes stehen könnte. Die Bertelsmannstiftung weist in einer Studie vom 8. November 2006 darauf hin, dass es nach wie vor erhebliche Defizite im Strafrechtssystem des Landes gäbe. Dies beziehe sich sowohl auf die Bekämpfung aktueller Gewaltverbrechen als auch auf die juristische Aufarbeitung von Morden aus der Zeit des Bürgerkriegs, das Ganze vor dem Hintergrund einer Mordrate, die sich quantitativ kaum von der des Bürgerkrieges unterscheidet und damit die höchste in ganz Lateinamerika ist. [ Bertelsmann Transformation Index 2003. Ländergutachten El Salvador] Horacio Castellanos Moya hat im Gespräch mit uns auf die Frage, warum er keine klassische Kriminalliteratur schreibe, erklärt, dass für diese Literatur Instanzen nötig seien, wie ein objektiver Ermittler mit einem Interesse an der Wahrheit und eine strafende Justiz, der man einen gefassten Verbrecher übergeben könnte. Beides sei in El Salvador nicht vorhanden. Diese impunidad macht das Sterben in El Salvador zum Sterben in einem rechtsfreien Raum.
Damit zusammen hängt die mangelnde Möglichkeit der Aufklärbarkeit von Verbrechen und Bekanntmachung der Hintergründe. Während der Zeit des Bürgerkriegs waren die Opfer auf beiden Seiten Gefallene innerhalb eines ideologisch motivierten Konfliktes. Insofern war Märtyrertum sehr wohl möglich. Die ausufernde Kriminalität und die fehlende Transparenz der Nachkriegszeit geben dem gewaltsamen Sterben in El Salvador nun einen gänzlich anderen Charakter. Zur Alltäglichkeit des Todes tritt die Gewohnheit seiner Unerklärbarkeit hinzu. Dies kann für eine Gesellschaft nicht folgenlos bleiben.
Die große Altlast des Krieges, mit der die Protagonisten der Romane Moyas zu kämpfen haben, ist das Wissen. Entweder ist es Grund zu töten oder getötet zu werden. Damit scheint es für diese Generation, zumindest in Moyas Welt, keine Aussicht auf eine zivilgesellschaftliche Normalität zu geben.
Quellen
Ette, Ottmar (2004): ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos.
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2006): „Bertelsmann Transformation Index 2003. Ländergutachten El Salvador“. http://bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/102.0.html. (20.12.2006).