Desmoronamiento

 

Fiona Schmidt


Castellanos Moya zeichnet in seinem Roman Desmoronamiento die Geschichte einer honduranischen Familie aus hoher sozialer Schicht nach. Auf ca. 200 Seiten deckt er die zeitliche Spannweite von 23 Jahren bruchstückartig ab. Der Roman entstand in den Jahren 2004/05 während Moyas Zeit in Frankfurt/Main und erschien 2006 im Verlag Tusquets, in der Reihe colección andanzas. Der Titel Desmoronamiento (Verfall, Scheitern, Zerfall) kündigt das wenig erfreuliche Geschehen an, es kann auch als Verfall von Moral verstanden werden, als Sozialkritik. Das Abstraktum mit negativem Präfix findet sich schon im Titel des 2004 veröffentlichten Romans Insensatez. Zentrales Thema sind, wie für Castellanos Moya typisch, zerrüttete Familienverhältnisse und durch soziale Gegebenheiten seelisch vereiste Charaktere. Diese schwierigen fiktiven Charaktere finden sich in einer Zeit wieder, in der auf zentralamerikanischem Boden gleich mehrerlei Arten von Kriegen ausgefochten werden.

Die Protagonisten sind Erasmo Mira Brossa, ein honduranischer Anwalt und Parteiführer der Nationalisten, dessen streitsüchtige Ehefrau Lena Mira Brossa, die ihrer Familie das Leben zur Hölle macht, und deren Tochter Esther (genannt Teti), die mit 20 Jahren Mutter eines Sohnes (Eri) geworden ist. Der Vater des Kindes ist der 47 Jahre alte Clemente Aragón (Bruder von Alberto Aragón aus Donde no estén Ustedes), ein Salvadorianer, der zudem auch noch „comunista“ sein soll. In seiner Figur wird das Schicksal der Familie Aragón in einem Nebenstrang weitergezeichnet. Am Beispiel des Lebens von Teti erzählt der Roman den langsamen sozialen Abstieg einer Tochter aus höherem Haus, somit ist sie eine Repräsentantin derer, die als Verlierer aus den kriegerischen Auseinandersetzungen in Zentralamerika gehen.

Das Buch ist in drei Teile untergliedert, die sich in ihren Schreibstilen alle sehr deutlich voneinander unterscheiden. Diese verschiedenen Stileunterstreichen den Wechsel der Erzählperspektive von Kapitel zu Kapitel. Zwischen den drei Teilen des Romans und damit zwischen den Lebensabschnitten, die im Roman detailliert wiedergegeben werden, liegen Zeitsprünge von ca. sechs bis 10 Jahren. Harte Schnitte von Kapitel zu Kapitel oder Zeitsprünge kennt der Moya-Leser etwa aus Dónde no estén Ustedes. Genau genommen könnte man die drei Teile von Desmoronamiento drei Genres zuordnen: Teil eins wirkt wie ein Drehbuch für ein Ehedrama, Teil zwei ist wie ein Briefroman über eine Vater-Tochter-Beziehung, und der dritte Teil ist ein homodiegetischer Erzähltext. Fast erscheint es, als handle es sich um drei unabhängige Texte; nur durch die Hauptfiguren, werden die Teile zusammengehalten.

Im ersten Teil wird drehbuchartig wiedergegeben, wie das Ehepaar Mira Brossa im Jahr 1963 zuerst in der Küche diskutiert, ob nun beide zur Hochzeit der Tochter Teti gehen oder nicht. Die Mutter Lena ist mit der Heirat nicht einverstanden und will nicht die Zeremonie miterleben, der Vater Erasmo hingegen hat den Wunsch der Tochter akzeptiert und möchte zum Standesamt fahren. Als Erasmo sein Badezimmer betritt, um sich für die Feierlichkeiten fein zu machen, schließt Lena ihn im Bad ein und die Diskussion um die Heirat und den Enkel Eri geht durch die geschlossene Badezimmertür weiter. Der Leser erfährt aus dem Streit, bzw. aus der Diskussion, dass Erasmo eine Geliebte und zwei weitere Kinder hat und dass der Enkel Eri während seiner ersten zwei Lebensjahre bei den Großeltern gelebt hat. Die Sprache ist kolloquial und mit Flüchen gespickt.

Der zweite Teil gibt die Briefkorrespondenz zwischen Teti und Erasmo aus den Jahren 1969 und 1972 wieder. Die Briefe stammen aus dem Archiv von Erasmo und die erste Sammlung trägt den Titel „La carpeta de la guerra“ (1969), die zweite „La carpeta del crimen“ (1972).

Die Briefe aus dem Jahr 1969 umkreisen thematisch den Fußballkrieg, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Honduras und El Salvador, in der es um Grenzland und dessen Besiedlung ging. Teti (Honduranerin) lebt mit ihrem Ehemann Clemente (Salvadorianer) in San Salvador. Erasmo ist Regierungsmitglied der Nationalisten in Tegucigalpa. Wegen des zu erwartenden Krieges rät Erasmo seiner Tochter, gemeinsam mit den Kindern nach Honduras zurückzukehren. Teti fühlt sich jedoch in Clementes Nähe sicher und will bleiben. In ihren Briefen an den Vater berichtet Teti von Medien-Kampagnen in El Salvador gegen Honduras und gegen Honduraner. Die politische Lage verschärft sich wegen Fußballspielen der Nationalmannschaften der beiden Länder und weil Fußballfans gewalttätig werden.

Im folgenden Briefwechsel schildert Teti aus ihrer etwas naiven Sicht den Verlauf des Krieges und wie er ihr Leben beeinflusst. Teti bittet ihren Vater um finanzielle Unterstützung und sie beklagt sich, dass sie regelmäßig Anrufe von ihrer aggressiven Mutter erhielte, in denen sie gleichzeitig beschimpft und beleidigt wird und aufgefordert wird, nach Tegucigalpa zu kommen. Außerdem erfragt Teti von ihrem Vater, wie aus seiner Perspektive die Begebenheiten des Krieges zu bewerten seien. Teti erwähnt in ihren Briefen politische und paramilitärische Organisationen/Gruppen (ORDEN und Mancha Brava), die sie nicht genau einzuordnen weiß; oft gibt sie nur wieder, was ihr Mann Clemente oder andere Personen zu der politischen Lage geäußert haben.

Im Juni 1969 werden die diplomatischen Beziehungen zwischen den Ländern abgebrochen und Teti verliert ihren Arbeitsplatz als Sekretärin in der Botschaft. Die Überlegung, sich nach Tegucigalpa zu flüchten, verwirft Teti trotz mehrmaligen Bittens des Vaters und obwohl Clemente sein Einverständnis gegeben hat. Auch nach dem Einmarsch salvadorianischer Truppen auf honduranischem Boden und dem heftigen Gegenschlag durch die honduranische Luftwaffe (Angriff auf San Salvador), weigert sich Teti ihr Wahlheimatland zu verlassen, stattdessen macht sie sich Sorgen um ihre Eltern in Tegucigalpa und dass ihnen in den Kampfhandlungen etwas zustoßen könnte. Erst langsam beginnt Teti zu verstehen, worum es in diesem Krieg geht:

Clemente me ha explicado que el Gobierno de Honduras necesitaba quitarle la tierra a los miles de salvadoreños radicados allá para hacer su famosa reforma agraria […]. (S. 90)

Teti gibt ihrem Vater Informationen weiter, die Clemente in seinen Gruppen von Anonymen Alkoholikern (Clemente ist Vorsitzender der salvadorianischen Abteilung der Anonymen Alkoholiker und leitet mehrere Gruppen) von hohen salvadorianischen Militärs über die politische Lage gehört hat: „todos [die Anonymen Alkoholiker] se burlan del presidente Sánchez Hernández“ (S. 98). Im letzten Brief dieser Reihe schreibt Teti stolz, dass Clemente als Vertreter der salvadorianischen Anonymen Alkoholiker nach New York reisen würde und dass die Presse-Kampagnen in El Salvador gegen ihren Vater und seine Kommission eingestellt wurden: es hatte geheißen, dass Erasmo Mira Brossa Unterstützer des Präsidenten López Arellano gewesen sei.

Die Briefe aus der „carpeta del crimen“ beginnen am 6. März 1972 mit der Nachricht von Teti an Erasmo, dass Clemente ermordet worden sei. Clemente wurde vor dem Hauptsitz der Vereinigung der Anonymen Alkoholiker auf offener Straße erschossen und starb im Krankenhaus. Teti überlegt, wenn alles geregelt ist, nach Honduras zurückzugehen. Zu der Beerdigung kommen viele Angehörige und Freunde, unter anderem Alberto Aragón und Estela, don Pericles und Pati, worüber Teti erfreut ist. Da Teti selbst keine Motive für den Mord findet, glaubt sie blind, was der coronel Aguirre ihr als Ermittlungsergebnisse präsentiert. Erst heißt es, alles sei eine Verwechslung gewesen, dann wird der Mord zu einer politisch motivierten Straftat erklärt. In der dritten Erklärung wird Juancito, der Sohn ihrer Hausangestellten zum Mörder erklärt; er soll sich dafür gerächt haben, dass Clemente seine Mutter sexuell missbraucht hätte.

Erst durch einen Brief, den der Freund der Familie Michael Fernández an Erasmo schickt, erfährt der Leser, dass Zusammenhänge zwischen dem Mord und der Präsidentenwahl und dem Putsch in San Salvador bestehen. Clemente hatte durch die AA-Gruppen Verbindungen zu beiden beteiligten militärischen Gruppen. Auch Frauengeschichten mit den Ehefrauen der hohen Militärs sind nicht ausgeschlossen, was als endgültige Version und damit das Motiv Eifersucht und Rache stehen bleibt. Inmitten dieser Pseudo-Ermittlungen ereignet sich der Putsch vom 28. März 1972 gegen die formaldemokratische Regierung des Oberst Fidel Sánchez Hernández.

Teti hält diesen Putsch anfangs für einen zweiten Krieg zwischen Honduras und El Salvador, von der wachsenden Guerrillabewegung gegen die PCN hat sie nichts mitbekommen. In der Nacht des Putsches telefoniert sie mit etlichen Nachbarn, Verwandten und Freunden und erfährt, dass die ganze Stadt voller Soldaten ist. Trotz des bedrohlich nah gerückten Krieges und ihrer Einsamkeit will Teti nun doch nicht nach Tegucigalpa zurück, um nicht aus nächster Nähe Erniedrigungen durch ihre Mutter zu erfahren. Die „carpeta del crimen“ endet mit der Nachricht, dass der vermeintliche Mörder Juancito freigelassen wurde und dass er Zeichen schwerer körperlicher Misshandlungen aufweist, coronel Aguirre wurde mit dem Wechsel der Regierung ebenfalls ausgewechselt.

Der dritte Teil von Desmoronamiento ist aus der Perspektive von Mateo geschrieben, dem Hausangestellten und Chauffeur von Lena und spielt in den Jahren 1991/92. In der Ich-Form erzählt der Mann aus einfachsten Verhältnissen, wie er Lena bewusstlos im Flur ihres Hauses auffindet und wie in den folgenden Wochen ihr Leben zu Ende geht. Er blickt zurück auf das Leben der Familie Mira Brossa, bleibt dabei immer seinen Arbeitgebern gegenüber loyal und fasst seinen Werdegang als Gärtner und Chauffeur zusammen: Seine Perspektive ist die von unten auf die feinen Herrschaften der höheren Schichten.

Durch seinen bedächtigen inneren Monolog wirkt er wie ein nachdenklicher, alter Mann, der viel menschliches Elend sieht und doch innerlich gelassen bleibt. Er berichtet, dass Lena und Erasmo in ihrer Ehe häufig gestritten haben, dass sie nach Erasmos Tod einsam war, nur äußerst selten Besuch empfing oder das Haus verließ, dass ihre Kinder letztlich von dem streitsüchtigen, alten Hausdrachen nichts mehr wissen wollten. Lena lebte zuletzt von dem Erlös aus Grundstücks-veräußerungen.

Nach dem Unfall der alten Dame kommt Teti aus San Salvador nach Tegucigalpa, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt wird Lena entlassen und in ihrem Zuhause von Krankenschwestern gepflegt. In der Zwischenzeit treffen ihre Enkel Alfredito und Eri ein. Lena stirbt einsam, obwohl ihre Familie und Freunde alle anwesend sind. Diesen geht es jedoch eher um die Erbschaft, denn die alte Frau war für ihre Wutausbrüche und Schimpfattacken von vielen Menschen gefürchtet. Eri wird als Haupterbe des Anwesens eingesetzt, während der marihuanaabhängige Alfredito nur einen minimalen Anteil des Grundstückes erbt. Mateo erbt als Dank für seine dauerhafte Loyalität die Hütte, in der er mit seiner Familie wohnt, und ein kleines Stück Land.

Materiell betrachtet ist Mateo der einzige Gewinner des Romans, denn er schafft mitsamt seiner Familie durch harte, ehrliche Arbeit den sozialen Aufstieg, wohingegen sämtliche Mitglieder der Familie Brossa sozial absteigen, ja sogar die ganze Familie zerbricht und verarmt. Desmoronamiento macht gleich zwei Aussagen über die zentralamerikanische Gesellschaft: Es ist eine nüchterne Abrechnung mit den Eliten und gleichzeitig Utopie einer möglichen sozialen Mobilität. Formal besticht der Roman durch seine Dynamik und den ungewöhnlichen Abwechslungsreichtum an Perspektiven und Erzählstilen. Besonders bemerkenswert ist das Tempo des fesselnden Rededuells zwischen Erasmo und Lena im ersten Teil.


Quellen

Castellanos Moya, Horacio (2006): Desmoronamiento. Barcelona: Tusquets Editores.

externer Link http://www.estudioenescarlata.com/fichalibro.php?id=978-84-8310-349-4

 

oben

Bücher

Desmoronamiento

[zur Zeit keine Abbildung des Covers vorhanden]

Horacio Castellanos Moya, fotografiert von Moramay Herrera Kuri (Mexiko)