Zur Institutionalisierung und Entwicklung der
Mittelschule in Preußen 1872 bis 1945

unter besonderer Berücksichtigung des Chemieunterrichts

Dissertation

zur Erlangung der Würde
eines Doktors der Philosophie

an der Humanwissenschaftlichen Fakultät

der Universität Potsdam

vorgelegt von Günter Höffken

Gutachter:
1. Gutachter: Herr PD Dr. Frank Tosch
2. Gutachter: Herr Prof. Dr. Hanno Schmitt

Dekan:
Prof. Dr. Ria de Bleser

Tag der Disputation: 18. Mai 2006

Zusammenfassung

Das Ziel der Arbeit ist die Darstellung der preußischen Mittelschule für den Zeitraum von 1872 bis 1945. Neben der strukturell-curricularen Entwicklung dieser Schulform werden zwei Bereiche, der Chemieunterricht und die Frage der Lehrerausbildung schwerpunktmäßig untersucht. Vorgeschaltet ist eine ausführliche Analyse und Darstellung der zur Mittelschule hinführenden Entwicklung mit ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen.

Der historische Rahmen ist das 1871 entstandene Kaiserreich, die 1919 begründete Weimarer Republik und das 1933 errichtete nationalsozialistische Reich. Die für die Strukturierung der Arbeit gewählte Phaseneinteilung orientiert sich weniger an diesen politischen Schnittstellen, sondern an den bildungspolitischen Zäsuren, die durch die jeweiligen staatlichen „Bestimmungen“ charakterisiert sind. Mit diesen Bestimmungen wurde das Mittelschulwesen jeweils neu geordnet; sie wurden in den Jahren 1872 mit der Institutionalisierung, 1910, 1925, 1938 und 1942 vorgelegt.

Schwerpunkt der benutzten Quellen war die „Die Mittelschule“, die Verbandszeitschrift der Mittelschullehrer; sie konnte für den Erscheinungszeitraum von 1887 bis 1943 lückenlos ausgewertet werden. Weiter wurden zeitgenössische Quellen und Literatur sowie zeitgenössische pädagogische Zeitschriften für die Analysen herangezogen. Neben staatlichen Verlautbarungen in Form von Gesetzen und ministeriellen Veröffentlichungen waren die „Bestimmungen“ eine wesentliche Grundlage der Arbeit.

Der Untersuchungsschwerpunkt ist die Darstellung der preußischen Mittelschule unter dem Aspekt der bildungspolitischen Institutionalisierung im Jahre 1872. Es wurde untersucht, welcher Personenkreis Forderungen nach Einrichtung dieser Schulform erhob. Dazu zwei Thesen:

1. Der untere Mittelstand, forderte die Einrichtung einer ihm gemäßen Schulform, zunächst für seine Kinder, später auch für die Ausbildung der Nachwuchskräfte für mittelständische Berufsfelder.

2. Der höhere Mittelstand suchte eine Barriere zu errichten, um den um Bildungsteilhabe bemühten unteren Schichten zwar ein gesteigertes Bildungsangebot zu machen, sie aber von der vollen Bildungsteilhabe, dem Besuch der höheren Schule, auszuschließen.

Diese Barriere war die „Berechtigung“, das „Einjährig-Freiwilligen-Privileg“. Dies galt zunächst für den militärischen Bereich, nach Aufhebung der Wehrpflicht für den zivilen Bereich. Der Mittelschule ist das „Vergaberecht für Berechtigungen“ nie in vollem Umfang erteilt worden, wenn auch Regelungen über die schrittweise Zuerkennung ziviler Berechtigungen gezeigt werden konnten. Damit war den Absolventen der Mittelschule der Zugang zu einem gesellschaftlichen Aufstieg verwehrt, wofür die Berechtigungen eine Grundvoraussetzung waren. Die für die Mittelschule ungelöste Berechtigungsfrage erschwerte die strukturelle und curriculare Entwicklung, aber auch den Status der Mittelschule im schulischen Gesamtsystem. Dass die Mittelschule vom Berechtigungserwerb ausgeschlossen blieb, ist ein Indiz für die Zuordnung dieser Schulform zum niederen Schulwesen.

Ein weiterer Untersuchungsschwerpunkt war der naturwissenschaftliche Unterricht. Es konnte gezeigt werden, wie es gelang, das Fach Chemie aus der Verknüpfung mit den anderen naturwissenschaftlichen Fächern Biologie und Physik zu lösen und als eigenständiges Fach im Fächerkanon der Mittelschule zu verankern. Auch konnte gezeigt werden, dass dieses Fach zunehmend eine allgemeinbildende Funktion erhielt. Als bedeutungsvoll für den naturwissenschaftlichen Unterricht müssen die Diskussionen gesehen werden, die um inhaltliche Fragen, z.B. über den Einsatz der chemischen Formel oder über die methodische Gestaltung des Unterrichts geführt wurden. Bedeutungsvoll ist der Wechsel vom reinen Lehrervortrag zum Demonstrationsunterricht und weiter zum Experimentalunterricht und den Schülerübungen mit der auf Selbsttätigkeit gerichteten Erarbeitung naturwissenschaftlicher Inhalte. Defizite lassen sich für den ersten Untersuchungszeitraum bezüglich der Schulbücher für den Chemieunterricht aufzeigen. Die ambivalente Stellung des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Mittelschule beweist sich in der Auswahl und dem Einsatz der Schulbücher, wenn zunächst auf Bücher der Elementarschule und der höheren Schule zurückgegriffen wird. Erst im weiteren Untersuchungsverlauf lassen sich schulformbezogen konzipierte Schulbücher nachweisen.

In einem weiteren Schwerpunkt wurde die Situation der Lehrer, primär unter dem Aspekt ihrer Ausbildung untersucht. Als Mittelschullehrer wurden vornehmlich Volksschullehrer eingesetzt, die sich autodidaktisch auf die Prüfung zum Mittelschullehrer vorbereiten mussten. Als erhebliches Defizit wurde die fehlende Ausbildungsordnung konstatiert. Die Verweigerung einer identitätsstiftenden schulformbezogenen Lehrerausbildung hat der Mittelschule die Möglichkeit genommen, sich frühzeitig zu einer selbständig-unabhängigen Schulform zu entwickeln. Bedeutungsvoll ist das festgestellte Verhalten der Lehrerschaft dieser Schulform in den unterschiedlichen politischen Systemen.

In den zeitlichen Phasen zeigt sich die Mittelschule als eine zwischen Elementarschule und Gymnasium sich emanzipierenden Schulform. Die Ambivalenz in der Stellung äußert sich in dem wechselvollen Verhalten zwischen Standesschule und Öffnung für andere gesellschaftliche Schichten. Im Zusammenhang mit der Verweigerung der Berechtigungen muss die Mittelschule als Anstalt zur Befriedigung der Bildungsansprüche bestimmter Schichten gesehen werden. Sie wurde aber auch als schulischer Abwehrmechanismus der oberen Schichten gegenüber unteren gesellschaftlichen Schichten instrumentalisiert.

Eigene Schlagworte: Schulgeschichte , preußisches Schulwesen , Lehrerausbildung, Chemieunterricht , Mittelschule

Abstract:

The aim of the paper is a description of the Prussian secondary school between 1872 and 1945. Besides the structural-curricular development of this structure of school, there is a focus on investigating the areas ‚chemistry lessons’ and ‚teacher training’. Beforehand is an analysis and description of the development towards secondary school and its political, economical and social circumstances.

The chosen disposition of stages is oriented on breaks in education policy, which are characterized by particular governmental regulations. With the new regulations in 1872, 1910, 1925, 1938 and 1942 the secondary school system was reordered at each time.

A main source of information is the organisational journal of secondary school teachers „Die Mittelschule“ (The Secondary School). Furthermore contemporary sources and literature as well as educational journals were used for analysis.

The main focus of the investigation is on the description of the Prussian secondary school under the aspect of institutionalization of education policy in 1872. Another field of attention is education in chemistry. Especially meaningful for this are discussions about content-related questions and methodical design of teaching within the period of investigation. The use of school books is hereby especially considered.

The situation of the teachers was investigated under the aspect of their training. Elementary school teachers were appointed primarily as secondary school teachers. They had to prepare autodidactically for the exam as secondary school teacher. Because of the refusal of an identity forming school oriented training of teachers, secondary school lacked the possibility to develop early to an autonomous school design. The behaviour of the teachers of this school form within the different political systems is significant.

Within a time frame secondary school stands as an emancipated form of school between elementary school and high school. The ambivalence of the position is shown in changes of the role model between school for a particular social class and the opening for other social stratum. Related to refusal of allocation of educational competences secondary school has to be seen as an institution to satisfy middle class claim on education. But it was also exploited as an academic defence mechanism of upper class against near-illiterate, lower social classes.

Keywords: history of school , secondary school / Prussia , teacher education , chemistry education

Inhaltsverzeichnis

Tabellen



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14.08.2006