7 Zusammenfassung - Thesen

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Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Schulform Mittelschule – nach einer kritisch-hinführenden Beschreibung – von ihrer Institutionalisierung im Jahre 1872 in ihrer weiteren Entwicklung bis zum Jahre 1945 darzustellen. Im Rahmen der historischen Entwicklungsdarstellung dieser Schulform waren zwei Bereiche in besonderer Weise durchgängig Gegenstand der Untersuchung, der Chemieunterricht in der Mittelschule und die Fragen der Ausbildung der Lehrer für die Mittelschule. Die primär ausgewerteten Grundlagen für die Analyse sind zunächst vor allem Gesetzestexte, Erlasse als amtliche Verlautbarungen, außerdem weitere zeitgenössische Quellen und die bis in die heutige Zeit erschienene Sekundärliteratur. Unter den gedruckten Quellen wurde die im Zeitraum von 1887 bis 1943 erschienene und lückenlos vorliegende Verbandszeitschrift „Die Mittelschule“ zu den untersuchten Themenschwerpunkten in besonderem Maße ausgewertet.

Die Ausbildung und Prüfung der Lehrer für die Mittelschule hat sich im gesamten Untersuchungszeitraum als mit einer besonderen Problematik belastet herausgestellt. Da für die Lehrer dieser Schulform nie eine Ausbildungsordnung zur Verfügung stand, wurde die schulformspezifische Lehrersituation in ihrer Rückwirkung auf die Entwicklung dieser Schulform mit analysiert.

Wie gezeigt werden konnte, stand der naturwissenschaftliche Unterricht in einem besonderen Begründungszusammenhang mit der historisch-pädagogischen Entwicklung der Mittelschule. Daher wurde der Chemieunterricht im Untersuchungszeitraum schwerpunktmäßig untersucht.

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Die Arbeit wurde so strukturiert, dass die entwickelten Schwerpunkte (Schulform, Fragen der Lehrerausbildung, Chemieunterricht) in den gewählten Teilphasen des Untersuchungszeitraumes durchgängig thematisiert wurden; in der Ergebnisdarstellung findet jedoch eine zusammenfassende Wertung statt.

7.1  Schulform

Der Zeitpunkt der Institutionalisierung der Mittelschule im Jahre 1872 bedeutet nicht die Begründung eines mittleren Schulwesens in Preußen. Bis dahin hatte sich bereits ein heterogenes Geflecht mit unterschiedlichen Formen von solchen Schulen herausgebildet, die zwischen Elementarschule und höherer Schule einzuordnen waren. Im Zuge einer Konsolidierung wurde nun aus diesem Geflecht die staatlich begründete Mittelschule als eigenständige Schulform des mittleren Schulwesens konstituiert. Diese aus dem niederen Schulwesen und den vielfältigen mittleren Schulen erwachsene Schulform führt zu der These, dass sich die preußische Mittelschule keinesfalls auf die Tradition der Realschule des 19. Jahrhunderts rückführen und begründen lässt.

Gesellschaftlicher Aufstieg und Teilhabe an einer bürgerlich aus-gerichteten Bildung setzte immer den Bezug zunächst zur Gelehrtenschule, später dem Gymnasium, also dem höheren Schulwesen, voraus. Das gehobene und das besitzende Bürgertum aus Handel und Gewerbe, später auch aus der Industrie und das gehobene Beamtentum sahen im bestehenden Schulwesen eine Möglichkeit, sich gegen alle unteren Schichten abzugrenzen. Parallel zu der quantitativen Ausdehnung dieser bürgerlichen Schicht kam es zunehmend zu einer Differenzierung innerhalb dieser Schicht, für die in der vorliegenden Arbeit weitgehend der Terminus „Mittelstand“ verwandt wird. Dabei bekam die Schule als Institution die Funktion einer trennenden Einrichtung. Insbesondere an der Mittelschule wurden Selektionsprozesse zwischen besitzendem Bürgertum und dem Kleinbürgertum, im gleichen Maße aber auch gegenüber dem Proletariat, deutlich. Hier ist primär die Funktion der Mittelschule zu sehen: Kinder aus den unteren Schichten verblieben in der Elementarschule, da sie wegen der geforderten Schulgeldzahlungen und der gegenüber der Volksschule längeren Schulzeit auf den Besuch der Mittelschule verzichten mussten. Die Kinder aus dem Kleinbürgertum, dem unteren Mittelstand, sahen sich mit entsprechenden Begründungen vom Besuch der höheren Schule ausgeschlossen und auf die Mittelschule verwiesen. Den Absolventen der Mittelschule wurde durch die Verweigerung der „Berechtigungen“ der Zugang zu den höheren Stufen des staatlichen Bildungswesens und damit Möglichkeiten eines weiterführenden beruflichen Aufstiegs verwehrt.

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Für den gesamten Untersuchungszeitraum lässt sich eine Entsprechung aufzeigen zwischen dem staatlich institutionalisierten Schulwesen und der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Mittelschule wurde nicht primär begründet, um Bildungsansprüche bestimmter Schichten zu befriedigen, sie wurde als schulischer Abwehrmechanismus der oberen Schichten gegenüber unteren gesellschaftlichen Schichten instrumentalisiert.

Vor allem die ungelöste Berechtigungsfrage erschwerte nachhaltig die Entwicklung und den Status der Mittelschule nahezu im gesamten Untersuchungszeitraum: Die Zuordnung der Mittelschule zum niederen, also Volksschulwesen und dezidiert nicht zum höheren Schulwesen bedeutete zwar, dass eine über die Volksschule hinausgehende Bildung vermittelt wurde, die jedoch – wie die Volksschulen – vom Berechtigungserwerb ausgeschlossen blieb. Den Absolventen der Mittelschule blieben nahezu im gesamten Untersuchungszeitraum weitergehende Berechtigungen versagt, sie erhielten so bis zum Ende des Kaiserreiches nie das „Einjährig-Freiwilligen-Privileg“, d.h. das Recht, den Militärdienst verkürzt zu leisten. Sie mussten damit auch auf alle mit diesem Privileg verbundenen Rechte verzichten. Auch waren mit dem Mittelschulabschluss nicht die Berechtigungen der „Obersekundareife“ höherer Schulen verbunden. Damit war den Absolventen der Mittelschule auch der Zugang zu einem weiterführenden gesellschaftlichen Aufstieg verwehrt. Einige Berechtigungen, die den Mittelschulabsolventen in einem eingeschränkten Maße erteilt wurden, sind nie als Ausgleich für die Verweigerung der „militärischen Berechtigung“ angesehen worden. Die erteilten Berechtigungen zeigen, dass diese vor allem die Möglichkeiten für den Eintritt in untere Verwaltungsstelle und den Zugang zu Fachschulen eröffneten.

Generell lassen die systematisierten Einschränkungen erkennen, dass die Mittelschule in ihren Entwicklungsmöglichkeiten bereits mit ihrer Institutionalisierung existentiell behindert wurde. Erschwerend muss in diesem Zusammenhang der Verzicht der beiden anderen Schulformen – Volksschule und höhere Schule – gesehen werden, sich mit der Mittelschule inhaltlich und organisatorisch auseinander zu setzen. Einerseits war die Volksschule bemüht, die leistungsfähigeren Schüler nach Möglichkeit in die gehobenen Klassen der Volksschule zu integrieren. Andererseits wurden Bemühungen der höheren Schule erkennbar, mit denen diese grundsätzlich verhindern wollte, einen Anteil ihrer Schülerschaft an die Mittelschule zu verlieren.

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Als ein wesentliches Kriterium einer Existenzsicherung der Mittelschule nach ihrer Institutionalisierung muss auch die wirtschaftliche Lage Preußens im gesamten Untersuchungszeitraum berücksichtigt werden. Institutionalisiert wurde die Mittelschule in Preußen in einer Phase der wirtschaftlichen Blüte, wobei die mit der Einrichtung der Mittelschule verbundenen Intentionen, vor allem mit ihrer Ausrichtung auf den Mittelstand, günstige Entwicklungsmöglichkeiten für die neue Schulform versprachen. Aber die bereits ab 1873 einsetzende negative wirtschaftliche Entwicklung, die bis zur Wirtschaftskrise der Weimarer Republik eskalierte, beeinflusste dann auch die weitere Entwicklung der Mittelschule beinahe zwangsläufig. Die mit der steigenden Arbeitslosigkeit verbundenen Schwierigkeiten, nach Beendigung der Schulzeit einen Ausbildungsplatz zu erhalten, führten dazu, dass viele junge Menschen länger in der Schule verblieben, als sie es unter günstigeren wirtschaftlichen Voraussetzungen getan hätten. Für diese längere Verweildauer in der Schule bot sich aber nur die höhere Schule an. Dies hatte zur Konsequenz, dass viele Schüler von vornherein den Besuch der höheren Schule dem der Mittelschule vorzogen. Auch die Einstellung, dass in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine gute Ausbildung und auch eine gute Allgemeinbildung von Vorteil sei – worunter in der Regel der Besuch der höheren Schule verstanden wurde – verschaffte der höheren Schule in der Öffentlichkeit erhebliche Akzeptanzvorteile gegenüber der Mittelschule.

Das Ringen der neuen Schulform Mittelschule um Legitimation – auch in Abgrenzung zur Volksschule und den höheren Schule – bildete sich in den vielfältigen Diskussionen in der Verbandszeitung der Mittelschule ab. Die fehlende Bereitschaft zur Akzeptanz der Mittelschule, die sich bei der höheren Schule durch eine permanente Nichtbeachtung äußert, von Seiten der Volksschule dagegen in einer ständigen Anfeindung manifestiert, verdeutlicht sich in der Einrichtung einer ständigen Rubrik in der Verbandszeitschrift mit dem Titel: „Aus dem Lager unserer Gegner“. Die vielfachen Vorbehalte der Volksschule gegenüber der Mittelschule wurden deutlich u.a. bei den Bemühungen um die Einrichtung der Einheitsschule, die von den Vertretern der Volksschule nachdrücklich unterstützt wurden.

Die analysierten Beispiele zeigen in ihrer Gesamtheit, dass durch bildungspolitische Rahmungen und Maßnahmen der Unterrichtsverwaltung der Mittelschule die aus ihrer Sicht notwendigen Unterstützungen verweigert wurden. Dies führte bei den Vertretern der Mittelschule zu einem erheblichen Maß an Verbitterung. Die politische und die wirtschaftliche Entwicklung, die in Deutschland dem Nationalsozialismus den Weg bereitete, wurde von der Lehrerschaft der Mittelschule mehrheitlich bereitwillig und beifällig begleitet. Es konnte gezeigt werden, dass auch die nationalsozialistische Schulpolitik der Mittelschule – zumindest aus der Sicht der ausgewerteten Beiträge ihrer Verbandszeitschrift – nicht die erhoffte und gewünschte Unterstützung gewährte. Der Mittelschule drohte vielmehr mit der Einrichtung der Hauptschule sogar die endgültige Abschaffung.

7.2 Lehrer und ihre Ausbildung

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Die Analyse der Situation der Lehrer an Mittelschulen erfolgte schwerpunktmäßig immer hinsichtlich ihrer Ausbildung. An diesem Segment lässt sich besonders nachdrücklich zeigen, wie wenig unabhängig die Situation der Mittelschule im gesamten Untersuchungszeitraum geblieben ist. An der für die Mittelschule praktizierten Lehrerausbildung lässt sich in besonders deutlicher Weise die fehlende Stringenz in der Entwicklung dieser Schulform aufzeigen. Eine nie geklärte institutionelle Verortung für die Ausbildung der Mittelschullehrer mit den aufgezeigten wechselnden Ausbildungsstätten wie Lehrerseminar oder Akademie, die unter-schiedlichen Voraussetzungen hinsichtlich der Vorbildung der Lehrer an Mittelschulen sowie Tendenzen in dem Bemühen um eine universitätsbezogene Ausbildung erschwerten die Ausformung einer einheitliche Struktur der Lehrerbildung für diese Schulform. Abgesehen von den letzten drei Jahren wurde im gesamten Untersuchungszeitraum für die Bewerber um das Amt eines Lehrers an Mittelschulen keine verbindliche Ausbildungsordnung vorgelegt.

Drei zentrale Thesen sollen die entscheidenden Defizite in der Lehrerbildung für die Schulform Mittelschule charakterisieren:

These 1. Im gesamten Untersuchungszeitraum hat es nie eine auf die Mittelschule bezogene Lehrerausbildung gegeben.

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Bei der Analyse aller Prüfungsordnungen für Lehrer an Mittelschulen für den gesamten Untersuchungszeitraum konnte festgestellt werden, dass es in erster Linie immer Volksschullehrer waren, die zu den Mittelschullehrerprüfungen zugelassen wurden.

Die bei der Analyse der die Mittelschule betreffenden „Bestimmungen“ aus den Jahren 1910, 1925 und 1939 mit den jeweils sichtbar gemachten steigenden Anforderungen an die schulische Arbeit hätte als notwendige Konsequenz eine jeweilige Anpassung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die Lehrer erfolgen müssen. Erst im Jahre 1942 wurde für die „Nachfolgeschulform“ der Mittelschule, die Hauptschule, eine Ausbildungs- und Prüfungsordnung vorgelegt. Als Voraussetzungen zu dieser Prüfung galt aber weiterhin die Tätigkeit als Volksschullehrer und die Vorbereitung auf die Prüfung im Selbststudium.

In den Bestimmungen für die Mittelschule wurde der Mittelschule immer eine eigenständige Stellung neben den Schulformen Volksschule und höherer Schule attestiert. Hinzu kamen auch schulform-spezifische Organisationsformen, wie Fachunterricht und spezifische Unterrichtsfächer, die die Mittelschule von der Volksschule unterschieden. Hierzu sind der fremdsprachliche Unterricht zu zählen und die stärkere Ausdifferenzierung der naturwissenschaftlichen Fächer.

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Die Mittelschule hat im Verlauf ihrer Entwicklung auf ihre Schulform bezogene Lehrpläne und Schulbücher mit spezifischen Zielvorgaben konzipiert und diese immer wieder aktualisiert. Für die Mittelschule mit ihrer schulformspezifischen Eigenart hätte somit unter den Bedingungen eines gegliederten Schulwesens auch eine schulform-spezifisch ausgebildete Lehrerschaft zur Verfügung stehen müssen. Es ist nicht vorstellbar, dass in den Unterrichtsverwaltungen diese Mängel nie erkannt worden sind. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass diese permanenten Defizite vielmehr stets billigend in Kauf genommen worden sind. Die Verweigerung einer identitätsstiftenden schulformbezogenen Lehrerausbildung hat in einem erheblichen Maße der Mittelschule die Möglichkeit genommen, sich zu einer selbständig-unabhängigen Schulform zu entwickeln.

These 2. Im gesamten Untersuchungszeitraum hat es immer unter-schiedliche Eingangsvoraussetzungen für die Zulassung zum Amt des Lehrers an Mittelschulen gegeben.

Aus den für die Bewerber um das Amt eines Lehrers an Mittelschulen vorgelegten Prüfungsordnungen konnte abgeleitet werden, dass die Tätigkeit als Volksschullehrer die Grundvoraussetzung für die Zulassung zu dieser Prüfung war. Über diesen primären Personenkreis hinaus, war einer weiteren Klientel die Möglichkeit geboten, das Amt des Lehrers an Mittelschulen zu erwerben. Dazu gehörten vor allem Geistliche, die neben der Tätigkeit an der Schule ein kirchliches Amt innehatten oder auf die Übernahme eines solchen Amtes warteten. Für diesen Personenkreis musste ein nur reduziertes Interesse an der Schulform angenommen werden, da dieses wahrscheinlich in erster Linie dem kirchlichen Amt gehörte. Solche Vorbehalte müssen auch für die „akademisch gebildeten“ Mittelschullehrer angenommen werden, die sich nach dem Studium an einer Universität um eine Tätigkeit an der Mittelschule bewarben. Da es sich hier um einen Personenkreis handelte, der ursprünglich ein anderes Karriereziel hatte – in der Regel ein Lehramt an der höheren Schule – müssen ähnliche Abstriche bezüglich der Identifikation dieser Personen mit der Mittelschule indiziert werden. Da aus der Zugehörigkeit zu einer der angesprochenen Gruppen auch Rechte bezüglich der Beförderungsstellen abgeleitet werden konnten, war ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Gruppen – grob geteilt in eine „seminarisch“ und eine „akademisch“ gebildete Lehrerschaft – zu erkennen.

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These 3. Die Vorbereitung auf die Prüfung zum Lehrer an Mittelschulen musste ausschließlich auf autodidaktischem Wege erfolgen.

Es hat für den gesamten Untersuchungszeitraum nie eine konstituierte eigenständige Form der Lehrerausbildung für die Mittelschule gegeben. Einzige Anleitung für die Volksschullehrer, die sich auf die Mittelschullehrerprüfung vorbereiten wollten, waren die in den jeweiligen Bestimmungen festgeschriebenen Unterrichtsinhalte. Darüber hinaus wurden die Bewerber institutionell allein gelassen und bereiteten sich autodidaktisch auf die Prüfung vor. Auch Entlastungen, z.B. durch eine zeitliche Reduzierung der Unterrichtstätigkeit, waren nicht vorgesehen. Dass trotz dieser Schwierigkeiten eine große Zahl von Volksschullehrern den Weg in die Mittelschule wählte, lässt sich wie folgt begründen: in der Höhe der Besoldung, die an der Mittelschule geringfügig höher war als an der Volksschule, den an der Mittelschule gegenüber der Volksschule besseren Arbeitsbedingungen – Klassen mit weniger Schülern oder besser ausgestattete Fachräume – aber auch in dem persönlichen Karriereanspruch, durch die selbständige, freiwillige Ausbildung und die bestandene Prüfung aufzusteigen. Gerade in dem letztgenannten Argument war auch eine der Begründungen für die Spannungen zu sehen, die zwischen den Lehrergruppen der beiden Schulformen immer bestanden haben: Die Volksschullehrer bezichtigten die Mittelschullehrer der Überheblichkeit und unterstellten Bestrebungen zur „Absonderung“. Aus den dargestellten Befunden lässt sich vorsichtig interpretieren, dass die Mittelschullehrer vielleicht zu wenig unternommen haben, diesem Vorwurf offensiv zu begegnen bzw. zu entkräften.

Insgesamt muss die im gesamten Untersuchungszeitraum praktizierte Ausbildung der Lehrer für die Mittelschule als ein charakteristisches Moment für die nie abgeschlossene Entwicklung der Mittelschule zu einer vollen Eigenständigkeit neben der Volksschule und der höheren Schule gesehen werden.

7.3 Chemieunterricht

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Für die Analyse und Darstellung des naturwissenschaftlichen Unterrichts an der Mittelschule wurden wesentliche in der Verbandszeitschrift „Die Mittelschule“ veröffentlichte Beiträge zu diesem Thema ausgewertet. Der Aussagewert wurde in seiner Authentizität dadurch erhöht, dass für die Zeit ab 1887 hiermit die zeitgenössischen Auffassungen der unmittelbar beteiligten Lehrer einbezogen wurden.

In der Arbeit wurden die grundsätzlichen Bestrebungen, den naturwissenschaftlichen Unterricht im Fächerkanon der Mittelschule zu verankern, in allen Untersuchungsphasen herausgearbeitet. Die Analyse des naturwissenschaftlichen Unterrichts wurde in der Arbeit auf den Chemieunterricht konzentriert. Die Einführung, Organisation sowie die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichtsfaches Chemie zeigt eindrucksvoll das Ringen der Lehrer, diesem Segment des naturwissenschaftlichen Unterrichts seinen Bedeutungsspielraum zu geben. Dieser ließ im Untersuchungszeitraum – insbesondere bei der Analyse der jeweiligen Lehrpläne – die wechselvolle Spannung zwischen dem phänomenologisch ausgerichteten Fachunterricht und dem wissenschaftsorientierten Unterricht erkennen, die vor allem bei den Analysen der jeweiligen Lehrpläne aufgezeigt werden konnte.

Der im Untersuchungszeitraum sichtbar werdende Wechsel in der Auffassung über den Stellenwert des naturwissenschaftlichen Unterrichts konnte am Bedeutungswandel der chemischen Formel und ihrer Behandlung im Unterricht gezeigt werden. Bei der Analyse des Themenbereichs ‚Experimentalunterricht’ konnte das Bemühen der Lehrer deutlich gemacht werden, dem Chemieunterricht an der Mittelschule ein in didaktisch-methodischer Hinsicht schulform-spezifisch geprägtes Profil zu geben. Die Behandlung der chemischen Formel spiegelt zugleich ein Stück weit die Geschichte des Chemieunterrichts im Analysezeitraum wieder.

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Hinsichtlich der Arbeit mit dem Lehrbuch im Chemieunterricht der Mittelschule konnte festgestellt werden, dass einerseits Schulbücher aus anderen Schulformen – bevorzugt der höheren Schule – übernommen wurden. Andererseits lagen in den Jahren nach der Institutionalisierung im Jahre 1872 nur eine begrenzte Zahl von Schulbüchern vor, die für den Unterricht an der Mittelschule konzipiert waren. Erst ab 1925 standen Chemiebüchern zur Verfügung, die ausschließlich für die Arbeit an der Mittelschule entwickelt worden waren. Am exemplarischen Feld der Entwicklung schulformbezogener Chemielehrbücher konnten Probleme des naturwissenschaftlichen Unterrichts und hierüber wiederum Aspekte der Einordnung der Mittelschule in das schulische Gesamtsystem diskutiert werden.

Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass die ausschließliche Zuordnung der Schulform Mittelschule als Schule der realistischen Bildung – also einer in besonderer Weise naturwissenschaftlichen Lehrinhalten verpflichteten Schule – sich für den gesamten Untersuchungszeitraum nicht aufrechterhalten lässt. Die vielfachen Differenzierungen in verschiedene Lehrplantypen, mit denen die Mittelschule einer möglichst breiten Schülerklientel gerecht werden wollte, hat eine allgemeine naturwissenschaftliche Schwerpunktbildung im Fächerkanon der Mittelschule behindert. Diese Aussage lässt sich auch dadurch verifizieren, dass zumindest ein Lehrplan der Mittelschule immer auch als Ziel hatte, die Absolventen auf den Besuch der höheren Schule unmittelbar vorzubereiten. Allerdings stand die Mittelschule hierbei in Konkurrenz zu dem sich bis Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Proanstalten höherer Schulen, insbesondere zu Realprogymnasien und Realschulen. Ein als gleichberechtigt formuliertes weiteres Ziel der Mittelschule war es, ihre Schüler auf die Ausbildung in kaufmännischen Berufen vorzubereiten, bei der naturwissenschaftliche Inhalte ebenfalls keine Vorrangstellung hatten.

Sowohl für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als auch vor dem Zweiten Weltkrieg konnten Tendenzen einer Einbeziehung naturwissenschaftlich-chemischer Erkenntnisse in den Unterricht dokumentiert werden. Es ließ sich aufzeigen, wie diese Erkenntnisse für politische Zeitströmungen instrumentalisiert wurden. In beiden Zeiträumen wurde die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts erkennbar am Kriegsgeschehen ausgerichtet mit dem Ziel, militärische Bestrebungen mit pseudowissenschaftlicher Beweisführung zu legitimieren.

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Mit der Einführung der Hauptschule ab 1942 wird die reduzierte Bedeutung des mittleren Schulwesens im schulischen Gesamtsystem ansatzweise dokumentiert. Auch in dieser Schulform wurde der naturwissenschaftliche Unterricht kein herausgehobenes Feld im Kanon der historisch etablierten Fächerangebote.

Tabellenverzeichnis


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14.08.2006