↓157 |
Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 sollte neben den politischen Veränderungen auch eine Umwälzung des gesamten Erziehungswesens bedeuten. In welche Richtung sich die nationalsozialistische „Pädagogik“ nach den Vorstellungen der neuen Machthaber entwickeln sollte, wurde bereits in den Aussagen Hitlers deutlich: „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. [...] Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend.“711 Dies war Bestandteil einer aus Sicht Hitlers „richtigen Erziehung“, bei der nicht das Individuum, der einzelne Mensch im Mittelpunkt stand, sondern dessen Verwendbarkeit in der Volksgemeinschaft. Eine klar formulierte Gewichtung erhielt die „körperliche Ertüchtigung“ mit der Prämisse, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen könne. Im Vordergrund stand: „Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung geistiger Fähigkeiten“, wobei aber der Charakterbildung, mit besonderer Berücksichtigung der „Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit“ größere Bedeutung zukam und „erst als letztes die wissenschaftliche Schulung.“712
Der Mittelschule wurde programmatisch durchaus eine herausgehobene Bedeutung zugestanden: Da unterstellt wurde, dass aus den Reihen der ehemaligen Mittelschüler die „Unterführer“ der gewerblichen und kaufmännischen Mittelstandskreise und des Bauerntums hervorgehen, wurde der rassenpolitischen Erziehung besonders in den abschließenden Klassen der Mittelschule ein nationalpolitisch bedeutungsvoller Rahmen zugestanden.713
Insgesamt schenkten die Machthaber der Institution Schule, dabei vor allem auch dem mittleren Schulwesen, keine allzu große Beachtung. Nur so ist es zu erklären, dass auf die spezifischen inneren Probleme der Mittelschule erst 1938 mit einem Erlass vom 1. Juli auf die „Neuordnung des mittleren Schulwesens“714eingegangen wurde. Dieser Erlass führte die bereits 1872 begonnene Vereinheitlichung des mittleren Schulwesens dadurch zum Abschluss, dass er die sechsklassige Mittelschule als Regel- und Richtform für das gesamte mittlere Schulwesen vorgab. Dies führte z.B. dazu, dass alle noch als mittlere Schulen bestehenden Rektoratsschulen entweder aufgelöst oder in Mittelschulen umgewandelt wurden. Nur als reine Zubringerschule für die höhere Schule, dann aber auch mit dem Lehrplan der höheren Schule, konnte die Einrichtung einer Rektoratsschule erhalten bleiben.715 Damit reduzierte sich das mittlere Schulwesen auf nur noch zwei Formen: die sechsklassige eigenständige Mittelschule und den vierklassigen Aufbauzug an der Volksschule. Beibehalten wurde die Regelung der Geschlechtertrennung; nur für den Fall, dass die Schülerzahl zur Einrichtung reiner Jungen- oder Mädchenschulen oder zumindest entsprechender Klassen nicht ausreichen sollten, wurden nach wie vor gemischte Klassen gestattet. Für diese gemischten Einrichtungen war der Lehrplan der Jungenschulen verbindlich. Allerdings wurde für diesen Fall gefordert, den Schülerinnen Unterricht im Fach Nadelarbeit zu erteilen und eine Trennung der Jungen und Mädchen im Sport- und Biologieunterricht vorzunehmen.716
↓158 |
Deutlich wurden die Erwartungen, die der Staat an das mittlere Schulwesen stellte, in dem o.g. Erlass formuliert: „Die mittleren Schuleinrichtungen haben die besondere Aufgabe, eine über das Volksschulziel hinausgehende vertiefte und in sich abgeschlossene Gesamtschau der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen des deutschen Volkes zu vermitteln, die in einer vorwiegend an das praktische Leben anknüpfenden und darauf ausgerichteten Betrachtungsweise erarbeitet wird. Ohne der Berufsausbildung vorzugreifen, verfolgen sie ein Bildungs- und Erziehungsziel, das in besonderem Maße den Anforderungen für den Eingang in die gehobenen mittleren Berufslaufbahnen in Wirtschaft und Verwaltung genügt.“717 Damit wurde der Charakter der Mittelschule als „Schule der Allgemeinbildung“ deutlicher herausgestellt, ihre berufsvorbereitende Funktion rückte demgegenüber in den Hintergrund.
Für diese „normierte Mittelschule“ wurden durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust am 15. Dezember 1939 die organisatorischen Rahmenbedingungen718vorgegeben. In dem Einführungserlass dazu hieß es u.a.: „Das zunehmende Streben vieler Eltern, ihren begabten Kindern vor der Berufsausbildung einen über das Volksschulziel hinausgehenden, vor-wiegend praktischen Unterricht zu vermitteln, hat während des letzten Jahres zum weiteren Ausbau der Mittelschule beigetragen.“719 Damit erfuhr die Mittelschule eine Anerkennung als eine Schule, die ihre Stellung zwischen Volksschule und höherer Schule bestätigt sah. Die in diesem Erlass angekündigten „Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Mittelschule“720 waren als Beilage angefügt.721
Mit diesen Vorgaben wurden der politischen Indoktrination alle Möglichkeiten eröffnet. So hieß es in den vorgegebenen „Grundsätzlichen Zielen“ u.a.: „Über eine dieser Aufgabe angepaßte Zielsetzung, Stoffauswahl und Arbeitsweise hinaus hat die Mittelschule dem Schüler die Werte erlebnißmäßig nahezubringen, die in deutscher Dichtung, Kunst, Sittlichkeit und Frömmigkeit zum Ausdruck kommen. [...] Damit leistet sie zugleich ihren Anteil an der wehrgeistigen Erziehung unserer Jugend.“722 – „Die Mittelschule kann ihre Aufgaben nur in enger gleichgerichteter Zusammenarbeit mit den übrigen Erziehungsmächten erfüllen. Das gilt zunächst für das Verhältnis zur Hitler-Jugend, das auf gegenseitigem Vertrauen beruhen soll. Es ist weiterhin eine unerläßliche Pflicht der Leiter und Lehrer an Mittelschulen, die erziehlichen Kräfte des Elternhauses plan- und taktvoll mit denen der Schule zu verbinden.“723 – Es wurde weiterhin darauf hingewiesen, dass die „Bestimmungen“ der Mittelschule „bei ständiger Ausrichtung auf Forderungen des praktischen Lebens noch stärker als bisher ein Eigenziel geben und Unterrichts- und Erziehungsaufgaben unter die großen Gesichtspunkte der Formung des neuen Volkes und Reiches [stellen].“724
↓159 |
In der Organisation der Mittelschule gab es eine grundlegende Änderung: Es wurde nun nicht mehr nach unterschiedlichen Plänen unterrichtet. Es gab nur noch einen Plan für die „Mittelschule für Jungen“ und einen Plan für die „Mittelschule für Mädchen“.725 Die Pläne für diese beiden Gruppen wichen z.T. erheblich voneinander ab: In den beiden letzten Schuljahren erhielten die Jungen je 5 Stunden/Woche Deutschunterricht, die Mädchen lediglich 4 Std. Der Unterricht in Sport und vor allem Rechnen/Raumlehre war bei den Jungen umfangreicher, dafür erhielten die Mädchen verstärkten Unterricht in den Fächern Hauswerk und Handarbeit.
Stellvertretend für die einzelnen Fächer soll das Ziel des Deutschunterrichts in einem Ausschnitt genannt werden: „Der Deutschunterricht ist neben dem Geschichtsunterricht dazu berufen, der Jugend das deutsche Ahnenerbe in seiner ganzen Größe und Tiefe bewusst zu machen und es in ihr zu tatbereiter völkischer Kraft zu formen.“726
Mit Erlass vom 3. März 1938 wurde der „Wegfall des Begriffs ‘mittlere Reife’“727 festgestellt. Diese Maßnahme richtete sich gegen die Mittelschule, denn mit der Aufhebung des Begriffs „mittlere Reife“ hatte die Mittelschule nun keinen spezifischen ihre Schulform definierenden Abschluss mehr. Andererseits entfielen damit die unterschiedlichen Grade mittlerer Reife, einmal als Obersekundareife an der Höheren Schule und zum anderen als Abschlussqualifikation der Mittelschule. Demgegenüber war „die Arbeit der höheren Schule [...] von vornherein auf das Ziel der Reife ausgerichtet; außer dem Reifezeugnis werden nur Versetzungszeugnisse ausgestellt.“728 Für die Mittelschule gab es aber keinen entsprechenden Abschluss, sie erteilte „nach sechs Schuljahren das Schlußzeugnis der Mittelschule.“729 Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „den einzelnen Berufszweigen und Verwaltungsressorts“ von sich aus entscheiden sollten, welche „schulischen Vorbedingungen der Berufsnachwuchs erfüllen muß“,730 z.B. Versetzung in Klasse 6 oder 7 der höheren Schule oder das Schlusszeugnis der Mittelschule. Es fehlte hierbei allerdings die klare Aussage, dass beide Voraussetzungen von der Unterrichtsverwaltung als gleichwertig angesehen wurden.
↓160 |
Von ebenfalls großer Tragweite für die weitere Entwicklung der Mittelschule war die „Reichsverordnung“731 vom 28. Februar 1939, die die Vorbildung und Laufbahnen der deutschen Beamten regelte. Jetzt galt das Abschlusszeugnis der Mittelschule als Eintrittsvoraussetzung für den gehobenen nichttechnischen Dienst. Damit waren die bisher inoffiziell noch bestehenden Differenzierungen zwischen den zwei Graden der mittleren Reife. Dies hätte dazu führen können, dass Schüler, die das Gymnasium nur bis zum Erreichen der Obersekundareife besuchen wollten, nun auch nach der Grundschule gleich auf die Mittelschule überwechselten. Wieweit die Schüler im weiteren Verlauf von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch machten, muss differenzierten Einzeluntersuchungen vorbehalten bleiben. Es ist aber davon auszugehen, dass weiterhin der Besuch des höheren Schule für die Eltern dieser Kinder mit einem angenommenen Prestigegewinn verbunden war und dass auch für manchen Arbeitgeber ähnliche Beweggründe dazu geführt haben, einen Lehrling, der seine Vorbildung auf der höheren Schule erhalten hatte, bevorzugt zu beschäftigen. Auf die bestehenden Widersprüche einer derartigen Einschätzung ist mehrfach hingewiesen worden.
Trotz dieser Vorbehalte musste die formelle Gleichstellung der Abschlüsse sechsjähriger Schulbildung von Mittelschule und höherer Schule als eine Aufwertung der Mittelschule gesehen werden. Mit dieser Entscheidung war sicherlich auch die engere Bindung der Mittelschullehrerschaft als Teil des nationalsozialistischen Erziehungssystems beabsichtigt. Die Eintrittszahlen der Lehrerschaft in den nationalsozialistisch ausgerichteten Lehrerbund belegen dies nachdrücklich, obwohl der Eintritt in den Nationalsozialistischen Lehrerbund – NSLB – letztlich häufig auch durch psychologischen Druck erreicht wurde: „Gewaltanwendung hat schließlich den Kampf für die gesamte Volksschullehrerschaft zugunsten des NSLB entschieden“ und „Der NSLB ist durch den Zuwachs an Zwangs-mitgliedern groß geworden.“732
Die dargestellte aufgewertete Mittelschule erlebte in den Jahren 1941 und 1942 herbe Rückschläge: Mit einem Runderlass vom 28. April 1941 wurde zunächst in den neuen Gebieten des Reiches die „Hauptschule“733eingeführt; diese Regelung wurde mit einem entsprechenden Erlass vom 13.Juni 1942 „Einführung der Hauptschule im alten Reichsgebiet“734 ausgeweitet. Es handelt sich allerdings nicht um die Einrichtung einer neuen Schulform:
↓161 |
Die Hauptschule solle die Mittelschule ersetzen. Sie sollte neben der Volksschule bestehen, auf dem 4. Grundschuljahr aufbauen und nur vier aufsteigende Klassen umfassen; damit wäre die bisher zehnjährige Mittelschulzeit auf acht Jahre reduziert worden.
Die Einführung der o.g. Hauptschule konnte nicht ohne Rückwirkungen auf die bestehende Mittelschule bleiben. Dennoch wurden die Vertreter der Mittelschule, etwa über die Reichsfachschaft, nicht in den Entscheidungsprozeß der Umwandlung eingebunden. Erstmals erfuhren die Öffentlichkeit und auch die Vertreter der Mittelschule aus der Presse von einer Aussage des Reichserziehungsministers Rust „die aus dem alten Österreich stammende Hauptschule würde im ganzen Reich eingeführt und mit den ersten vier Jahren der Mittelschule des Altreichs verbunden.“735 Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Anzeichen dafür vor, dass geplant war, die Mittelschule durch die Hauptschule zu ersetzen. Zunächst sollte die Hauptschule lediglich im neuen Reichsgebiet flächendeckend eingeführt werden. Hier bestand diese Schulart bisher vereinzelt schon, vor allem im Sudetenland und in Österreich. Es gab aber keine Schulform im mittleren Schulwesen, die der Mittelschule, wie sie im alten Reichsgebiet bestand, entsprach. Die bestehenden Hauptschulen waren erst nach der Eingliederung in das Reichsgebiet zu sechsklassigen Schulen mit einer starken inhaltlichen Angleichung an die Mittelschule ausgebaut worden. Im Sudetenland waren bis zum Jahre 1940 bereits 80 vierklassige Bürgerschulen als Mittelschulen eingerichtet worden.736 Es ist durchaus denkbar, dass die Tendenz der Umwandlung von Schulen mit einem erweiterten Bildungsanspruch, wie es für die sechsklassige Mittelschule gegenüber der vierklassigen Bürgerschule galt, nicht in das Konzept der Nationalsozialisten passte. So sollte die Entwicklung zu einer „Bildungsbeschränkung“ durch die Einführung der vierklassigen Schulform gesteuert werden.
Mit der Einführung der Hauptschule waren zwei wesentliche Kennzeichen, die der Mittelschule bisher fremd waren, für das mittlere Schulwesen im gesamten Reich geplant:
↓162 |
Mit dieser Maßnahme sollte vor allem begabten Volksschülern eine Gelegenheit geboten werden, das Ziel der Mittelschule zu erreichen. Von der Reichsregierung wurde argumentiert, dass vor allem in Dörfern und kleineren Städten durch die Einrichtung der schulgeldfreien Hauptschule bis zu einem Drittel der bisher die Volksschule besuchenden Schüler einen höheren Bildungsabschluss erwerben konnten und dass auf diese Weise das vorhandene Bildungspotential auch bei der Landbevölkerung verstärkt ausgeschöpft werden konnte.738 Zu diesem Zeitpunkt fehlte noch jeder Hinweis darauf, dass gleichzeitig die Mittelschule abgeschafft werden und in der Hauptschule aufgehen sollte; die Hauptschule wurde immer noch als geplantes Zusatzangebot im Schulsystem verstanden. Die Verkürzung der Schulzeit in der Hauptschule gegenüber der Mittelschule um zwei Schuljahre bedeutete eine starke Reduzierung des Bildungsangebotes; insofern wurde hier eine Entwicklung ein-geleitet, die mit den restaurativen Bestrebungen, wie sie in den „Stiehlschen Regulativen“ von 1854 vorlagen, verglichen werden kann. Im Zusammenhang mit der Einführung der Hauptschule bezogen sich die Maßnahmen nun allerdings ausschließlich auf die Mittelschule.
Die Hoffnung, dass neben der einzurichtenden Hauptschule die Mittelschule weiterhin bestehen bleiben sollte, mit der Konsequenz, dass die Schulorganisation vier unterschiedliche Schulformen umfasste, wurde durch einen Erlass aus dem Jahre 1942 widerlegt: „Ihre Ansicht, daß Aufnahmen in die Mittelschule auch weiterhin möglich sind, solange die Hauptschule nicht eingeführt ist, trifft zu. Wenn die Hauptschule im Altreich mit Beginn des Schuljahres 1942/1943 eingeführt wurde, werden die Klassen 1 der in Hauptschulen umzuwandelnden Mittelschulen nach dem Lehrplan der Hauptschule, die auslaufenden Mittelschulklassen dagegen weiterhin nach dem Lehrplan der Mittelschulen unterrichtet.“739 Hier wurde also eindeutig formuliert, dass die noch bestehenden Mittelschulen auslaufen und dann in Hauptschulen umgewandelt werden sollten.
↓163 |
Die sichtbar gegen die bestehende Mittelschule gerichtete Entwicklung der Hauptschule war bereits im Erlass vom 28. April 1941 zu erkennen. Alle Formulierungen über Organisation und Inhalte zielten eindeutig auf die Einrichtung einer Schulform ab, die der Mittelschule im Altreich entsprach, wenn es z.B. hieß, dass „die Hauptschule die Aufgabe hat, einen zahlenmäßig ausreichenden Nachwuchs für die mittleren und gehobenen Berufe bereitzustellen.“740 und es hieß: „Die Hauptschule schafft durch eine über das Ziel der Volksschule hinausgehende, vertiefte und an das praktische Leben anschließende Betrachtung der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Deutschen Volkes eine geeignete Erziehungs- und Bildungsgrundlage.“741 Hinsichtlich der Perspektiven für die bestehenden Mittelschulen im Altreich wurde wie folgt argumentiert: „Soweit sich in den neuen Gebieten vollausgestaltete Mittelschulen befinden, sind die Klassen 1 bis 4 der Mittelschulen in Hauptschulklassen umzuwandeln. Die 5. und 6. Klassen dieser Schulen können bis zur grundsätzlichen Entscheidung, die demnächst getroffen werden wird, weitergeführt werden.“742 Dies konnte nur bedeuten, dass zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen war, die Mittelschule als Schulform nicht fortzuführen.
Die Schülerschaft der Hauptschule sollte sich in der Weise aus der Grundschule rekrutieren, dass etwa ein Drittel der Schüler, die bisher zur Volksschule übergegangen wären, durch eine besondere Auslese in die Hauptschule eingewiesen wurden. Für diese Schüler bedeutete die geplante Maßnahme eine eindeutige Erweiterung des Bildungsangebotes über den bisherigen Volksschulabschluss hinaus; für alle die Schüler aber, die die bisher sechsklassigen Schulen besuchen wollten, würde der Wechsel in die vierklassige Hauptschule eine zeitliche Bildungsbeschränkung um zwei Jahre beinhalten. Es ist davon auszugehen, dass genau dies von den nationalsozialistischen Machthabern beabsichtigt war. Es kann aber auch angenommen werden, dass durch die Übernahme einer Schulform aus dem „alten Österreich“ in das nationalsozialistische Reich Forderungen nach einer Berücksichtigung schulorganisatorischer Entwicklungen aus diesem Land, etwa als Preis für den „Anschluss an das Reich“, erfüllt wurden.
Es war geplant, als Lehrplan für diese Hauptschule den Lehrplan der Mittelschule aus den „Bestimmungen von 1939“ zu übernehmen, bei dem die beiden letzten Jahre ersatzlos gestrichen werden sollten;743 auch dies machte die enge Beziehung zwischen diesen beiden Schulformen deutlich. Bedingt durch die Verkürzung der Schulzeit um zwei Jahre war es aber unzulässig, die Abschlussqualifikation dieser Hauptschule auch nur im Ansatz mit der der bisherigen Mittelschule zu vergleichen.
↓164 |
Die geplante Einrichtung der Hauptschule in der Zeit des Nationalsozialismus ist in besonderer Weise ein Beispiel dafür, wie ein totalitäres Regime versucht hat, einen wichtigen Bildungsbereich für seine Belange nutzbar zu machen. Es ist bezeichnend, dass hierfür die bestehende Mittelschule benutzt wurde, denn gerade die Stellung dieser Schulform ist zu dieser Zeit am stärksten umstritten und am wenigsten gefestigt. Die Lehrinhalte, die der Hauptschule in Deutschland zugewiesen werden, stimmen mit denen der traditionellen österreichischen Hauptschule und auch mit den Bürgerschulen in den ostmärkischen Provinzen in keiner Weise überein. In beiden Fällen bietet sich eher ein Vergleich mit den in Deutschland bestehenden Volksschulen an, wobei die Hauptschule ein geringfügig über diesem Niveau stehendes Bildungsangebot vermitteln sollte. Die einseitige Ausrichtung dieser Schulform auf nationalsozialistische Zielsetzung entspricht dann in keiner Weise mehr der Tradition der österreichischen Hauptschule. Die Einrichtung der Hauptschule im Altreich mit dem gleichzeitigen Ersatz der bestehenden Mittelschule erweckt den Eindruck, dass diese unüberlegt und vor allem übereilt durchgeführt wurde, denn noch im Jahre 1939 waren für die Mittelschule neue Bestimmungen mit entsprechenden Stundentafeln und Lehrplänen vorgelegt worden. Drei Jahre später bereits mussten diese im Zusammenhang mit der Hauptschule für überholt erklärt werden. Am 5. Mai 1943 erschien ein Erlass über die „Neueinrichtung von Hauptschulen“, 744in dem es heißt: „Die Neueinrichtung von Hauptschulen ist zurückzustellen.“745 Gleichzeitig wurde aber angeordnet, dass bestehende Hauptschulen weiter auszubauen sind und dass bestehende Mittelschulen „mit der 1. Klasse beginnend fortschreitend in Hauptschulen umgewandelt werden.“746 Für die Mittelschule musste dies aber das Ende ihrer Existenz bedeuten.
Die Ereignisse der letzten Kriegsjahre und das Ende des Dritten Reiches haben eine endgültige Umsetzung der geplanten Strukturveränderung der Mittelschule verhindert.
Einen Durchbruch in der Berechtigungsfrage – aus Sicht der Vertreter der Mittelschule – brachte die von der Reichsregierung vom 28. Februar 1939 erlassene „Verordnung über die Vorbildung und die Laufbahnen der deutschen Beamten.“747 Hier wurden die Einstellungs- und Ausbildungsgrundsätze für alle Laufbahnen der deutschen Beamten einheitlich geregelt. Grundsätzlich wurde mit einer teilweisen Anlehnung an die bisherige Praxis in der Verordnung zwischen Beamten des einfachen, mittleren, gehobenen und höheren Dienstes unterschieden. Neu und damit entscheidend war die Regelung, dass die Eintrittsvoraussetzung für die verschiedenen Dienste ausschließlich an schulische Abschlüsse, ohne weitere Berechtigung, gebunden war:
↓165 |
Damit fand die Eingangsvoraussetzung für die unterschiedlichen Dienste eine Parallele zum dreigliedrigen Schulsystem, wobei der untere und mittlere Dienst den Volksschulabschluss mit unterschiedlicher Gewichtung, der gehobene Dienst den Mittelschulabschluss voraussetzten. In der Verordnung hieß es einleitend: „Kein Bewerber darf vor anderen allein deshalb bevorzugt werden, weil er eine höhere Schul- oder Fachbildung besitzt, als für die Stelle verlangt wird.“751 Bedenken wurden aus Kreisen der Mittelschule im Zusammenhang mit den Eingangsvoraussetzungen für den gehobenen Dienst geäußert: Es wurde zwar betont, dass hier grundsätzlich der Abschluss der Mittelschule maßgebend sein sollte, aber die Formulierung, dass alternativ auch der Abschluss der zweijährigen Handelsschule oder der Höheren Handelsschule als Voraussetzung anerkannt würde, konnte sich für Mittelschulabsolventen nachteilig auswirken. Als Mitbewerber für diese Laufbahn des gehobenen Dienstes traten nun Schüler der höheren Schule mit der „Obersekundareife“ auf, die den Weg über die Handelsschule gegangen waren.
Der Zugang zum gehobenen technischen Dienst wurde für Mittelschüler erleichtert: Bisher mussten Mittelschüler nach dem Besuch z.B. der Ingenieurschule und vor dem Eintritt in den Beruf die „Obersekundareife“ erwerben. Diese Einschränkung galt nun nicht mehr, es heißt im § 27 lediglich: „Zum Nachweis der Vorbildung für den unmittelbaren Eintritt in den gehobenen technischen Dienst müssen die Bewerber das Reifezeugnis einer in die Reichsliste eingetragenen höheren technischen Lehranstalt besitzen.“752
↓166 |
Die Entwicklung des Berechtigungswesens unter den Nationalsozialisten im „Sinne der Mittelschule“ wurde trotz der im Grunde nur geringfügigen Veränderungen von den Mittelschullehrern begeistert begrüßt: „Wir erkennen dankbar an, daß die nationalsozialistische Regierung das Ziel unserer langjährigen Bestrebungen restlos erfüllt hat. Unser Glaube hat uns nicht betrogen: der gesunde Sinn des deutschen Volkes hat sich in dem Nationalsozialismus als dem organisierten deutschen Lebens- und Zukunftswillen durchgesetzt und von einer unerträglichen Lebensfessel befreit. [...] Die Umwertung der Schulzeugnisse und Schularten ist eine volkspolitische Segenstat, deren Tragweite sich von Jahr zu Jahr mehr erweisen wird.“753 Auch in diesem Zusammenhang wurde die beinahe bedingungslose Unterordnung der Mittelschullehrerschaft unter das nationalsozialistische System deutlich. Gerade die Frage der Berechtigungen hatte der Mittelschule durch die vorhergehenden Regierungen eine Vielzahl von – zumindest von ihren Vertretern so empfundenen – Demütigungen gebracht, die die Begeisterung um die Anerkennung der Mittelschule durch das neue System verständlicher macht. Dass eine abschließende Regelung der Berechtigungsfrage im Sinne der Mittelschule erst im Jahre 1939 erfolgte, beweist auch, dass die Mittelschule erst nach der Neuordnung des höheren Schulwesens 1938 als Strukturfrage behandelt wurde.
Die geplante Hauptschulentwicklung wurde durch den Zusammenbruch des totalitären „3. Reiches“ verhindert: Da die sechsklassige Mittelschule durch die vierklassige Hauptschule ersetzt werden sollte, wäre bei der geltenden Laufbahnverordnung der Zugang der Hauptschulabsolventen zum gehobenen Dienst nicht möglich gewesen, da hierfür der Abschluss der vollausgebauten sechsklassigen Mittelschule als Voraussetzung galt. Dieser Umstand war auch der Auslöser für einen Ergänzungserlass vom 13. Juni 1942754, in dem es u.a. hieß: „Zur Aufklärung der Eltern kann gesagt werden, daß Schüler, die das Lehrziel der Hauptschule erreicht haben, auch späterhin die Möglichkeit haben werden, durch Besuch von zwei aufsteigenden Klassen, die über die vierstufige Hauptschule hinausführen, sich jene Allgemeinbildung anzueignen, die gleicherweise in technischen als auch wirtschaftlichen Berufen im weiteren Sinne und im gehobenen Dienst der allgemeinen inneren Verwaltung erforderlich ist. Sie werden damit auch ein Zeugnis erwerben können, das, wie das heutige Abschlußzeugnis der Mittelschule, den Zugang zu den entsprechenden gehobenen Berufen gewährleistet.“755 Damit wurde eine völlige Neuordnung des Berechtigungswesens verhindert, die gerade im Hinblick auf die Zugänge zu den Beamtenlaufbahnen notwendig geworden wäre. Es wurden allerdings auch keinerlei Aussagen darüber gemacht, in welcher organisatorischen Form die Einrichtung der vorgesehenen zwei Ausbauklassen geplant war. Als Fazit bleibt aber, dass mit dem Abschluss der Hauptschule die gerade erworbenen Berechtigungen der Mittelschule nicht verbunden sind, dass also die Berechtigungsfrage für die Hauptschule bzw. die noch existierende Mittelschule wieder völlig offen war. Die vorgesehene Hilfskonstruktion der Einführung von „zwei aufsteigenden Klassen“ hätte jedenfalls wieder die Einrichtung der sechsklassigen, auf einer vierjährigen Grundschule aufbauenden Mittelschule bedeutet.
Trotz nachdrücklicher Werbung für den Beruf des Volksschullehrers konnte bis 1938 nur etwa die Hälfte des Bedarfs an Lehrern für diese Schulform gedeckt werden.756 Es muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass den Volksschulen ständig die Lehrer verloren gingen, die zur Mittelschule wechselten: Die Mittelschulen erlebten in diesen Jahren eine erheblichen Aufschwung, nicht zuletzt bedingt durch die restriktiven Maßnahmen an den höheren Schulen. Ihren Lehrerbedarf deckten die Mittelschulen nach wie vor nahezu ausschließlich durch Volksschullehrer mit Mittelschullehrerprüfung.
↓167 |
Um Mängel in der Lehrerversorgung an Volksschulen zu beheben, wurden ab Ostern 1939 durch das Reichserziehungsministerium sogenannte Aufbaulehrgänge eingerichtet. Für Bewerber mit abgeschlossener Mittelschule dauerten die Kurse zwei Jahren, für Bewerber mit abgeschlossener Volksschule vier Jahren. Die Bewerber wurden dann zu einer „Sonderreifeprüfung“ und damit zum Studium an der „Hochschule für Lehrerbildung“ zugelassen.757
Nach Kriegsbeginn verschärfte sich der Lehrermangel an den Schulen weiter, jetzt bedingt durch die Einberufung vieler Lehrer zum Kriegsdienst. Als Ausweg aus dieser prekären Lage wurden ab 1940 an den Hochschulen für Lehrerbildung „Schulhelferkurse“ eingerichtet. Als Voraussetzung für diesen drei Monate dauernden Kurs galt der Mittelschulabschluss oder ein guter Volksschulabschluss. Die Absolventen erhielten das Recht, nach einer zweijährigen Unterrichtstätigkeit ein verkürztes Studium an einer Hochschule für Lehrerbildung durchzuführen.
Diese „Herabstufung“ der Volksschullehrerbildung lag durchaus im Interesse einflussreicher Nationalsozialisten, die grundsätzlich gegen eine akademische Ausbildung für diese Lehrergruppe waren. Vor allem war es Martin Bormann (1900-1945), der Leiter der Staatskanzlei, der als Gegner von Reichserziehungsminister Rust für eine Reform der Volksschullehrerausbildung eintrat. Da Rust unabhängig von dieser Frage zu diesem Zeitpunkt in der Parteileitung bereits ständig an Einfluss verloren hatte, konnte dieser sich letztlich nicht durchsetzen: Im November 1940 wurden die Hochschulen für Lehrerbildung auf Befehl Hitlers aufgelöst und durch Lehrerbildungsanstalten, die österreichischem Vorbild entsprachen, ersetzt. Als Zulassungsqualifikation für die fünf Jahre dauernde Ausbildung genügt der Abschluss der Volksschule, bei anderen Schulabschlüssen konnte sich die Dauer der Ausbildung entsprechend verringern, bei Bewerbern mit Abitur z.B. auf nur noch ein Jahr.758 Auswirkungen der zuletzt getroffenen Maßnahmen lassen sich kaum belegen, da bedingt durch die Kriegsereignisse, vor allem infolge der unkontrollierbaren Verhältnisse gegen Ende des Krieges, etwa ab Ende des Jahres 1944 kein geordneter Unterricht mehr stattfand.
↓168 |
Für die Mittelschule gestaltete sich die weitere Entwicklung durch zwei sich überschneidende Maßnahmen verwickelt:
Am 9. März 1942 wurden die „Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule“762 vorgelegt.763 Allerdings wurden auch hier keinerlei Angaben über die in dieser neuen Hauptschule einzusetzenden Lehrer gemacht. In einem kritischen Kommentar von Maassen in der „Mittelschule“ wurde darauf hingewiesen, dass für den Einsatz in der Hauptschule nur Mittelschullehrer zur Verfügung stehen, „aber auch an der Mittelschule sich der zunehmende Lehrermangel bemerkbar [macht].“764 Die Konsequenz aus der nicht weitergeführten Mittelschullehrerprüfung wurde hier gezogen: „Der Staat ließ sich so die Gelegenheit entgehen, manche Fachlehrer für die Mittelschule zu gewinnen. Nun ist die Not so groß, dass für die Hauptschule im Reich keine Fachlehrer zur Verfügung stehen und dass die aus Mittelschulen umzuwandelnden Hauptschulen im Reich gleichfalls unter Lehrermangel zu leiden haben werden. Die Frage der Ausbildung und Prüfung der Mittel- und Hauptschullehrer ist vom Staate zu spät angefaßt worden.“765
↓169 |
Im Einführungserlass für die Hauptschule in den „neuen Gebieten“ vom 28. April 1941 wurden allerdings Angaben zur Lehrerfrage gemacht, die wahrscheinlich bereits für die spätere Übernahme bei der Einführung der Hauptschule im Altreich gedacht waren. In diesem Erlass wurde festgelegt, dass in den Hauptschulen Lehrkräfte mit erweiterter Fachausbildung unterrichten sollten, die die Befähigung zum Unterricht an Hauptschulen in einer besonderen Prüfung nachgewiesen haben mussten. Ergänzend hieß es, dass auch Mittelschullehrer an den Hauptschulen unterrichten können. Eine entsprechende „Ordnung der Ausbildung und Prüfung für das Lehramt an Hauptschulen“766 erschien als Runderlass des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 6. November 1942. So wie es für die Mittelschullehrer seit der Institutionalisierung der Mittelschule keine eigenständige Ausbildung gegeben hatte, setzt sich diese Tradition für die Hauptschullehrer fort, denn es hieß: „Die Vorbereitung auf die Prüfung für das Lehramt an Hauptschulen erfolgt im Selbststudium.“767 Den zur Prüfung zugelassenen Bewerbern wurde lediglich ein sechswöchiger Einführungslehrgang und ein dreiwöchiger Abschlusslehrgang angeboten. Auch die Einführung von Kursen – wie die früheren „Kurse zur Vorbildung von Mittelschullehrern“ – war offensichtlich vorgesehen: „An die Stelle der Einführungs- und Abschlusslehrgänge können Ausbildungseinrichtungen treten, in denen sich die Lehrer neben ihrer beruflichen Tätigkeit durch Vorträge und Arbeitsgemeinschaften ausbilden können.“768 Bezüglich der Prüfung blieben die Ansprüche an die Fähigkeit der Lehrer zur wissenschaftlichen Arbeit widersprüchlich: Zugelassen zur Prüfung zum Hauptschullehrer waren Volksschullehrer, auch jene, die ihre Ausbildung auf den neu installierten Lehrerbildungsanstalten abgeleistet hatten. Für diese fünfjährige Ausbildung war als Eingangsvoraussetzung der Volksschulabschluss ausreichend. Wenn die Prüfungsordnung aber voraussetzt, dass der Prüfungsbewerber „Einblick in die wissenschaftliche Arbeitsweise gewonnen“769 haben musste, bleibt die immanente Unterstellung, dass er diese Fähigkeit während seiner Ausbildung nicht gewonnen haben konnte.
Mit Beginn des neuen Schuljahres im September 1941 sollte im gesamten Reich die Hauptschule eingeführt werden. Damit sollte mittlere Schulwesen einheitlich geordnet sein. Wegen der ungeordneten politischen Verhältnisse wurde auf die Einrichtung der Hauptschule in den Gebieten des alten Reiches verzichtet.
Im Vorgriff auf die Vorlage der neuen Bestimmungen wurden mit Erlass vom 12. April 1939 die „Stundentafeln der Mittelschulen“ vorgelegt.770 Diese Stundentafeln waren Bestandteil der „Bestimmungen von 1939“, die mit Datum vom 15. Dezember 1939 vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust die neuen „Bestimmungen“ für die Mittelschule vorgelegt wurden.771 Zu diesen gehörten neben grundsätzlichen Angaben Lehrpläne für die einzelnen Fächer. Da die Differenzierungen in unterschiedliche Pläne entfielen, wurden auch für die naturwissenschaftlichen Bereiche lediglich Angaben für ‚Mittelschulen für Jungen’ und ‚Mittelschulen für Mädchen’– jeweils ergänzt mit Hinweisen zu den „Vierklassigen Aufbauzügen für Jungen und Mädchen an Volksschulen“ – gemacht.
↓170 |
Der naturwissenschaftliche Bereich wurde nun eingeteilt in die beiden Fächer „Lebenskunde“ (Biologie) und „Naturlehre“. Das Fach „Lebenskunde“ wurde in beiden letzten Schuljahren um den Bereich „Gartenbau“ erweitert. Die Fächer Physik und Chemie blieben in der Stundentafel weiterhin zu dem Fach „Naturlehre“ zusammengefasst, wurden in den Hinweisen zu den Lehrplänen aber getrennt ausgewiesen.
Für den naturwissenschaftlichen Bereich ergab sich folgende Stundentafel mit den entsprechenden Wochenstundenzahlen:
Tabelle 7: Naturwissenschaftlicher Unterricht ab 1939
Fach |
Klasse 772 |
|||||
6. |
5. |
4. |
3. |
2. |
1. |
|
Lebenskunde |
2 |
2 |
2 |
2 |
3 – 4 |
3 - 5 |
Naturlehre |
— |
— |
2 |
2 |
2 – 4 |
2 - 4 |
↓171 |
In den Bestimmungen wurden zu den einzelnen Fächern grundsätzliche Erläuterungen gegeben:
Die entsprechenden Angaben waren weit ausführlicher als bei den bisherigen Plänen. Dies lässt den Schluss zu, dass dem natur-wissenschaftlichen Unterricht nun eine erhöhte Bedeutung zukommen sollte, wobei allerdings zu zeigen ist, dass die naturwissenschaftlichen Fächer bei den Nationalsozialisten einen unterschiedlichen Stellenwert hatten. Aus der Stundentafel wird deutlich, dass dem Bereich Lebenskunde wegen der wesentlich höheren Zuweisung an Unterrichtsstunden eine größere Bedeutung zugemessen wurde als der Naturlehre. Dies findet seine Erklärung in der Bedeutung des Faches Lebenskunde hinsichtlich der „rassenpolitischen Erziehung“. In dem Beitrag: „Die rassenpolitischen Aufgaben“ stellte der Verfasser Lucas fest, dass die Rassenkunde einen Unterrichtsgrundsatz darstellt, dem „Unterricht und Erziehung unterzuordnen sind.“773 Die sich hierauf beziehenden Forderungen wurden nach Fächern getrennt aufgelistet, den Fächern Geschichte und Lebenskunde kam hierbei eine erhebliche Bedeutung zu774, der Bereich Naturlehre wurde nicht erwähnt.
↓172 |
In den Hinweisen zu den Ziele hieß es: „Durch den Unterricht in Naturlehre sind die Schüler in die Kenntnis, Bedeutung, Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Naturkräfte und -stoffe einzuführen, insbesondere solcher, die für das häusliche, Gewerbe- und Verkehrsleben sowie für die Staatsnotwendigkeiten der Wirtschaftsfreiheit und Landesverteidigung von Bedeutung sind.“775 Es entsprach wohl dem Zeitgeist, wenn hier zusätzlich auf die Bedeutung für die Landesverteidigung sowie die Begriffe „Staatsnotwendigkeit“ und „Wirtschaftsfreiheit“ hingewiesen wurde, Aber auch der für die Mittelschule so typische Praxisbezug blieb erhalten. „Endlich soll die Jugend in dem Unterricht in Naturlehre erfahren, daß die Ergebnisse der physikalischen und chemischen Forschung die Frucht jahrelanger mühevoller Arbeit sind und daß bedeutende Erfindungen Wendepunkte in der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Menschen bedeuten. An einzelnen führenden Naturforschern, großen Erfindern und überragenden Technikern, besonders des deutschen Volkes, ist zu zeigen, wie ihr Leben in bezug auf Pflichtgefühl, Arbeitsamkeit, zähe Ausdauer und kühnen Wagemut vorbildlich war, und daß ihre Werke der Stolz des deutschen Volkes sind.“776
Damit bekam der naturwissenschaftliche Unterricht eine neue Dimension: War der Unterricht nach den „Bestimmungen von 1872“ noch rein an dem Gedanken der Nützlichkeit orientiert – was durch die Bestimmungen von 1910 und 1925 im wesentlichen bestätigt wurde – so erhielt nun der Chemieunterricht einen „facheigenen Er-ziehungswert“. Dieser konnte bereits in den „Bestimmungen von 1925“ nachgewiesen werden, findet sich aber in den nun vorgelegten „Bestimmungen von 1939“ wesentlich ausgeprägter, bedingt vor allem durch die unmittelbare Anbindung an die Erziehungsziele des Nationalsozialismus.
In den sehr ausführlichen Hinweisen zur „Stoffgestaltung und Arbeitsweise“ wurde gefordert, dass der Unterricht ausgehen soll vom „Beobachtungsbereich des Schülers“, es sollten sowohl eine „Verbindung mit dem schaffenden Leben der Heimat und des Volkes vorhanden sein“777 als auch „Fragen der Ernährungsfreiheit, der Rohstofferzeugung sowie der Landesverteidigung planvoll eingebaut“778 werden. Zur experimentellen Arbeit heißt es: „Der Ausgang vom Versuch wird die Ausnahme bleiben; im Regelfall tritt er zur Ergänzung und Klärung der Erfahrung hinzu. [...] Die Versuche werden vorteilhaft durch einfache Schnittzeichnungen klärend unterstützt und ergänzt.“779 Mit den nur spärlichen Hinweisen zur Methodik des naturwissenschaftlichen Unterrichts wird deutlich, dass inhaltliche Fragen einen höheren Stellenwert als methodische haben.
↓173 |
Für den Chemieunterricht wurde weiter gefordert, dass von Anfang an Begriffe wie Formel, Symbol und Wertigkeit benutzt werden. „Mit ihrer Hilfe gelangt der Schüler zu größerer Einsicht in das Wechselspiel der am Anfang als Bausteine aufzufassenden Atome.“780 Auch der Aufbau- oder Konstitutionsformel wurde Bedeutung beigemessen: „Sie setzt an die Stelle der sinnlichen Schau (Atombild) die Abstraktion im Symbol und führt damit innerlich zur Gewinnung der den Vorgang veranschaulichenden Formel.“781 Etwas mehr als 10 Jahre waren seit der Veröffentlichung von Buhtz vergangen, in der er die Behandlung der chemischen Formel im Chemieunterricht der Mittelschule noch strikt abgelehnt hatte.782
Auch erfolgen Hinweise auf die vielfältigen Möglichkeiten zu fächerübergreifendem Unterricht: „Innerhalb der einzelnen Klassen können Physik und Chemie neben- oder nacheinander gegeben werden. Die organische Verbindung mit Lebenskunde, Erdkunde, Geschichte, Mathematik, Zeichnen Werken und dem Deutschunterricht ist zu pflegen.“783 Hier wurden Bestrebungen zur Gestaltung des Unterrichts aufgezeigt, die einen didaktisch und methodisch durchaus vielfältigen Chemieunterricht begründeten.
Bei der Stoffverteilung wurde zwischen Mittelschulen für Jungen und Mittelschulen für Mädchen unterschieden. Da diese Unterschiede doch sehr bezeichnend und für den Chemieunterricht weitgehend waren, sollen die entsprechenden Pläne in Ausschnitten dargestellt werden.
↓174 |
In der Mittelschule für Jungen standen damit eindeutig Themen aus der Technik und dem gewerblichen, sowie aus dem militärischen Bereich im Vordergrund.784 Da die Angaben ausgesprochen spärlich waren, stellten sie bezüglich der inhaltlichen Umsetzung dieser Pläne an den Lehrer große Anforderungen. Die Themen sollten hinsichtlich ihrer Strukturierung mit besonderer Zielrichtung in Sacheinheiten zusammengefasst werden: „Daß hierbei der seit der Machtübernahme einsetzende Freiheitskampf unseres Volkes mit seinem gigantischen Ringen um unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit, mit seinem Kampf um unsere Nahrungs- und Wehrfreiheit ganz besonders betont werden muß, dürfte bei der nationalpolitischen Ausrichtung unserer gesamten Schularbeit eine Selbstverständlichkeit sein.“785 Das naturwissenschaftlicher Unterricht zur Indoktrination benutzt werden kann, wird damit deutlich.
Folgende Themenzuordnung ist bei einer Verteilung auf jeweils drei Schuljahre vorgesehen:
↓175 |
Tabelle 8: Themenzuordnung – Mittelschule für Jungen
4. Klasse: |
Die Grundbegriffe und wichtigsten Stücke aus der anorganischen Chemie in ihrer Anwendung auf Gewerbe und Technik. |
5. Klasse: |
Deutsche Bau- und Werkstoffe. Deutschlands Kampf um seine Ernährung. In Verbindung mit Lebenskunde: Einführung in die wichtigsten Erscheinungen der organischen Chemie, wie der Kohlehydrate, der Fette, des Eiweiß und der Gärung. |
6. Klasse: |
Deutschlands Ringen um seine wirtschaftliche Unabhängigkeit: Die Kohle und ihre Destillationsprodukte. Erdölindustrien. Aus der Holzchemie. Verarbeitung von Mineralien. Die chemische Waffe. |
Der Lehrer hatte in diesem Rahmen einen breiten Ermessensspielraum für eine individuelle Stoffauswahl und auch die Unterrichtsgestaltung, denn es heißt in den Bestimmungen ausdrücklich: „Die Methode läßt jedem Lehrer weitgehende Freiheit in seiner Arbeit.“787 Ob allerdings bei maximal 2 Wochenstunden Chemieunterricht in der Abschluss-klasse alternative Unterrichtsformen möglich waren, muss bezweifelt werden.
Die auf die Mädchenbildung ausgerichtete Schwerpunktsetzung im Chemieunterricht wird bei der Gegenüberstellung der beiden Pläne deutlich. In der Mittelschule für Mädchen waren es nahezu ausschließlich Themen aus dem hauswirtschaftlichen Bereich, die behandelt werden sollten.
↓176 |
Tabelle 9: Themenzuordnung – Mittelschule für Mädchen
4. Klasse: |
Einführung in die Chemie der Hauswirtschaft: Die Luft und ihre Bestandteile. Frischhaltung. Vom Wasser und seinen Elementen. Vom Kochsalz und seinen Elementen. Salzsäure. Deutsche Salzlagerstätten. Ätznatron. Die Kohle, Leuchtgas, flüchtige Brenn- und Treibstoffe, die Flamme, Kohlen- und Gasherd. Vom Luftschutz. |
5. Klasse: |
In enger Verbindung mit Lebenskunde und Hauswirtschaft: Erscheinungen der organischen Chemie, wie der Kohlehydrate, der Fette, des Eiweiß und der Gärung. Die leichten und schweren Gebrauchsmetalle der Hauswirtschaft und ihre Behandlung. |
6. Klasse: |
Chemie der Nahrungs- und Genussmittel, der Kleidung und Wohnung, des Färbens, Waschens, des Bleichens, der Heiz- und Treibstoffe, der Kunst- und Kampfstoffe. |
Bezeichnend ist sich die Aussage, dass an den Mädchenmittelschulen der systematische Aufbau der Stoffe, die mathematische Formulierung und die Formeln noch mehr zurücktreten.789 Damit wurde ein Rollenbild verfestigt, dass die Geschlechterstellung nach nationalsozialistischer Auffassung zum Abbild brachte. Bei Benze hieß es in seinem Beitrag: „Erziehung im Großdeutschen Reich“790: „Der Nationalsozialismus lehnt die liberalistische Gleichmacherei und ‚Koedukation’ ab und trennt grundsätzlich die Erziehung der männlichen und weiblichen Jugend. Infolgedessen spielt auch die hauswirtschaftliche und volksmütterliche Durchbildung an allen Mädchenschulen eine maßgebende Rolle.“791 Bei Lange hieß es entsprechend: „Die besonderen Aufgaben der Mädchenerziehung, die Erziehung zur künftigen Hausfrau, können nur durch einen besonderen, namentlich die Vorgänge in Küche und Haus berücksichtigenden Chemieunterricht erreicht werden.“792
In den „Bestimmungen von 1939“ wurde deutlich, dass der Chemieunterricht gegenüber den vorhergehenden Plänen inhaltlich anspruchsvoller geworden war, aber auch seine Einbindung in die Politik des Staates wurde noch verstärkt. Seine Indienststellung in die nationalsozialistische Politik soll anhand ausgewählter Veröffentlichungen im Verbandsorgan der Mittelschullehrerschaft knapp verdeutlicht werden:
↓177 |
„Die Bildungsarbeit in der Schule hat sich nach der national-sozialistischen Weltanschauung auszurichten.“793 Mit dem Appell, der Jugend das „große Aufbauwerk zum Bewußtsein zu bringen“,794 ging an alle Fächer die Forderung, „systematisch dafür Sorge zu tragen, daß die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und bevölkerungs-politischen Leistungen“ von den Schülern erkannt und entsprechend gewürdigt werden. „Deshalb geht der Unterricht in Physik und Chemie neue Wege, zeigt, wie deutscher Erfindergeist die Macht der Monopole bricht und zur wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit beiträgt.“795 Weiter hieß es: „In den Physik- und Chemieunterricht können in stärkerem Maße kurze Lebensbilder nordischer Bahnbrecher der modernen Naturwissenschaft eingegliedert werden, auch gelegentlich Fragen behandelt werden, wie das vergebliche Bemühen der Polen, Kopernikus, den deutschbürtigen Schlesier, zum Nationalpolen machen zu wollen.“796 Für die rassenkundliche Ausrichtung des Unterrichts werden massive Forderungen erhoben: „Kampf dem Geburtenrückgang, Ausschließung der erblich Unerwünschten von der Vermehrung, Reinhaltung des Blutes durch Verhinderung der Rassenkreuzung“.797 Die Forderungen richteten sich vornehmlich an die Fächer Geschichte, Erdkunde, Leibeserziehung und vor allem Lebenskunde; die Fächer Physik und Chemie bleiben hierbei weitgehend ausgespart.
Mit Erlass vom 9. März 1942 wurden die „Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule“798 vorgelegt.
Die geplante Umwandlung der Mittelschulen in Hauptschulen, die mit Beginn des Schuljahres 1942/43 abgeschlossen sein sollte, bedeutete auch für den naturwissenschaftlichen Unterricht bezüglich der Stundenzahlen gravierende Einschränkungen, wie die nachfolgende Tabelle zeigt:
↓178 |
Tabelle 10: Naturwissenschaftlicher Unterricht ab 1942
Fach |
Klasse799 |
|||
1 |
2 |
3 |
4 |
|
Lebenskunde |
2 |
2 |
2 |
2 |
Naturlehre |
— |
2 |
3 |
3 |
Inhaltlich wären die Einschränkungen dadurch, dass geplant war, die beiden letzten Schuljahre zu streichen, erheblich gewesen. Dies kann deutlich herausgestellt werden durch einen Vergleich der „Bestimmungen von 1939“ mit den Hauptschulbestimmungen von 1942, soweit sie sich auf den naturwissenschaftlichen Unterricht beziehen. Wie stark die Hauptschule inhaltlich an die Mittelschule angebunden war, wird zunächst einmal deutlich bei den Bereichen „Stoffgestaltung und Arbeitsweise“, die für die Hauptschul-Bestimmungen inhaltlich aus den Mittelschul-Bestimmungen übernommen worden sind; dies galt entsprechend auch für die formulierten „Ziele des Naturlehre-Unterrichts“.
Besonders gravierend erscheint der um ein Jahr frühere Beginn des naturwissenschaftlichen Unterrichts und der um zwei Jahre frühere Abschluss. Trotz der verkürzten Unterrichtszeit sollte der geforderte Stoff in umfassender Weise vermittelt werden. Die Probleme dabei wurden durchaus erkannt: „Der Lehrer der Naturlehre muss neben gründlicher wissenschaftlicher Kenntnis seines Faches und seiner Beziehung zum völkischen Leben ein gutes Geschick zum Experimentieren besitzen. Besonders der Anfangsunterricht in Chemie stellt hohe Anforderungen an die Veranschaulichungskraft des Lehrers.“800 Der verfrühte Unterricht stellte ein weiteres Problem dar: In der Oberschule z.B. begann der Naturlehreunterricht in der vierten Klasse. Zu diesem Zeitpunkt waren die Schüler etwa 14 Jahre alt. Ein solcher Beginn wurde auch für die frühere Mittelschule als psychologisch vertretbar angesehen, weil erst ab diesem Lebensalter die Schüler als fähig angesehen wurden, den naturwissenschaftlichen Unterrichtsstoff bezüglich Form und Umfang aufnehmen zu können. In der Hauptschule sollte zu diesem Zeitpunkt der gesamte naturwissenschaftliche Unterricht bereits abgeschlossen sein.
↓179 |
Noch im Jahre 1942, als bereits mit der Einführung der Hauptschule gerechnet werden musste, sind eine Reihe von Schulbüchern erschienen, die in ihrem Untertitel den Hinweis „Chemie für Mittelschulen“ trugen, so z.B. von Hofmann und Wältermann801: „Chemie für Mittelschulen“ und von Scharnberg und Finnern802: „Chemie für Mittelschulen“. Daneben erschienen Bücher, die für Haupt- und Mittelschulen angeboten wurden. Dazu gehörte das Buch von Gerhardt u.a.: „Lehrbuch der Chemie für Haupt- und Mittelschulen“.803
Eine inhaltliche Analyse der in dieser Zeit erschienenen Schulbücher für das Fach Chemie zeigt, dass auch in dieser Phase die stoffliche Anordnung bei allen zitierten Büchern der traditionellen Strukturierung folgte. Bemerkenswert ist aber die unterschiedliche Ausrichtung der Themenschwerpunkte. In dem Buch von Filipp: „Chemie für Mittelschulen – Zum Gebrauch in Jungenschulen“804 wurden „Schieß- und Sprengstoffe“ angesprochen, des weiteren „Feuerwaffen, Granaten und Bomben“ und „Chemische Kampfstoffe.“805 Dass es für die Verfasser von Schulbüchern offensichtlich nicht zwingend notwendig war, im Zusammenhang mit dem Chemieunterricht auf kriegerische Zusammenhänge einzugehen, zeigt das oben zitierte Buch von Gerhardt, in dem es unter der Überschrift „Deutschland im Kampfe um seine Nahrungsfreiheit“ heißt: „Um im Rahmen unserer Chemie zu bleiben, wollen wir alle politischen, geopolitischen und rein wirtschaftlichen Betrachtungen und Maßnahmen, die der Erkämpfung und Sicherung unserer Nahrungsfreiheit dienen, ausschließen.“806
Die Kontrolle der Schulbücher durch Partei und Regierung blieb offensichtlich unvollständig und hatte keineswegs den gewünschten Erfolg, denn 1939 kündigte Rust eine Verschärfung dieser Kontrollen an. Es durften nur noch Schulbücher eingesetzt werden, für die der Genehmigungsvermerk einer parteiamtlichen Prüfungskommission, die im Ministerium eingerichtet worden war, vorlag.807 Aber auch mit diesen Maßnahmen konnte Rust jedoch offenbar nicht erreichen, dass seine Arbeit anerkannt wurde: Reichsleiter Philipp Bouhler808 (1899-1945) verstand es, sich die Gesamtverantwortung für den Lehrbuchsektor übertragen zu lassen. Durch einen „Führerbefehl“ übernahm Bouhler die Verantwortung für den Einsatz geeigneten Schulmaterials. Zu seinem Auftrag gehört auch die Bestandsaufnahme von Schulbüchern, die in ihren Inhalten nicht der Parteilinie entsprachen. Diese Funktion sicherte ihm erheblichen Einfluss. Für diese neue Aufgabe bildete Bouhler die „Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum“ mit einem sogenannten „Reichsausschuß“. Diesem gehörte auch der „Nationalsozialistische Lehrerbund“ an. Durch den NSLB ließ Bouhler zunächst umfassende Erhebungen über alle an den Schulen noch eingesetzten Bücher durchführen.809 Diese Maßnahme allein muss an den Schulen eine einschüchternde Wirkung gehabt haben, denn viele Buchbestände, die nicht den Vorgaben entsprechen, wurden daraufhin an den Schulen vernichtet. Verbunden mit massiver Kritik an der bisherigen Arbeit des Reichserziehungsministeriums plante Bouhler die Schulbücher grundsätzlich zu vereinheitlichen, so dass für jedes Fach nur jeweils ein Buch hätte verwandt werden dürfen. Um den Wettbewerb der Schulbuchverlage völlig auszuschalten, gründete Bouhler den „Deutschen Schulbuchverlag“,810 in dem alle Schulbücher reichseinheitlich erscheinen sollten. Der Plan führte erwartungsgemäß zu starkem Widerstand im Reichserziehungsministerium. Bedingt durch diesen Widerstand, vor allem aber durch die fortschreitenden Kriegsereignisse, unterblieben weitere Auseinandersetzungen um das Schulbuch.
↓180 |
Die hier deutlich werdenden Kompetenzstreitigkeiten lassen sich auch dadurch erklären, dass die Bedeutung der Schulbücher als parteipolitischer Machtfaktor von den Beteiligten zunächst unterschätzt worden war. Die oben angesprochenen Auseinandersetzungen begannen erst ab 1939 zu eskalieren, denn zu diesem Zeitpunkt sollten die Schulbücher einer Kontrolle durch die “Parteiamtlichen Prüfungskommission“ unterzogen werden; die „Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums“ war aber bereits 1934 eingerichtet worden, zu ihren Aufgaben hieß es: „Das Fachbuch stellt ein Randgebiet zum nationalsozialistischen Schrifttum dar insofern, als es sich bei ihm nur in beschränktem Umfang um eine politische Ausrichtung handelt“.811 Auch Schulbücher gehörten zu diesem Zeitpunkt noch in die Kategorie der Fachbücher.
Die kriegsbedingten Versorgungsschwierigkeiten dokumentieren sich in mehreren Erlassen zur Frage der „Lernbücher“ und deren Beschaffung, wobei mehrfach deutlich gemacht wurde, welcher Wert auf den Einsatz gebrauchter Bücher gelegt wurde: „Die Schüler und Schülerinnen sind von den Klassenlehrern darauf hinzuweisen, daß es mit Rücksicht auf die Rohstofflage erwünscht ist, soweit möglich, gebrauchte Schulbücher weiterzuverwenden.“812 Mit zunehmender Kriegsdauer wurde die Versorgung mit Schulbüchern schwieriger, dazu werden zwei Erlasse zitiert: „Die [...] eingeführten Schulbücher können vom Schuljahr 1944/45 ab für die Dauer des Krieges nicht mehr im Schulbuchhandel erworben werden. Sie werden den Schülern und Schülerinnen für den Bedarfszeitraum leihweise überlassen.“813 – „Durch die Tagespresse ergeht ein Aufruf zur Abgabe gebrauchter Schulbücher. Der Inhalt dieses Aufrufs ist den Schülerinnen und Schülern sofort bekanntzugeben.“814
Der letzte Erlass aus nationalsozialistischer Zeit, der sich auf Schulbücher bezieht, stammt vom 11. September 1944; er regelte das Verfahren der Versorgung der Luftwaffenhelfer mit Lernbüchern. „Der Bedarf der von derselben Schule in geschlossenem Klassenverband örtlich eingesetzten Luftwaffen- (Marine-) Helfer ist aus der Leihbücherei ihrer Schule zu decken.“815Das von dieser Maßnahme auch bereits Mittelschüler betroffen waren, wurde ebenfalls deutlich: „Die Luftwaffenhelfer (Marinehelfer) aus Mittelschulen, die außerhalb ihres Schulortes eingesetzt werden, verwenden im Unterricht die für ihren Heimatbezirk genehmigten Lernbücher.“816 In allen Einzelheiten wurde nicht nur das Ausleihverfahren, sondern auch die Organisation der Rückgabe dieser Lernbücher geregelt. Dabei sollte der Eindruck entstehen, dass der Krieg eine vorübergehende Erscheinung sei, nach dessen Ende zu einem normalen schulischen Leben zurückgekehrt werden könnte. Als Beispiel eines an Lächerlichkeit grenzenden Bürokratismus kann das im gleichen Erlass zitierte Abrechnungsverfahren – die Luftwaffenhelfer müssen offensichtlich Leihgebühr für die Lernbücher zahlen – gelten: „Bei Verausgabung der Bücher an die Luftwaffenhelfer zieht der Betreuungslehrer die Leihgebühr nach Maßgabe der hierfür erlassenen Vorschriften ein und führt den von ihm vereinnahmten Gesamtbetrag unter Aufstellung einer Nachweisung an die Schulaufsichtsbehörde ab. Die Schulaufsichtsbehörde lässt ihn bei den Einnahmen des Außerordentlichen (Kriegs-) Haushalts unter Einzelplan XVII a Teil XIX Untertitel 45 buchen.“817 Es ist makaber, aber bezeichnend, dass ein unmittelbar vor dem Zusammenbruch stehendes System – und das muss zu diesem Zeitpunkt allen Beteiligten bewusst gewesen sein – so überzogen bürokratische Maßnahmen durchführte.
711 RAUSCHNIG: Gespräche mit Hitler. 1940, S. 237
712 HITLER: Mein Kampf. 1936, S. 452
713 Vgl. ECKARD: Grundlagen, Ziele und Wege nationalsozialistischer Erziehung.
In: MS 49 (1935) S. 336
714 Neuordnung des mittleren Schulwesens. In: ZENTRALBLATT 1938, S. 325 ff
715 Bestimmungen zur Neuordnung der mittleren Schulen in Preußen. In: ZENTRALBLATT 1938, S. 326
716 Vgl. ebd.
717 Ebd.
718 Vereinheitlichung und Neuordnung des mittleren Schulwesens - Einführungserlass.
In: ZENTRALBLATT 1939, S. 10
719 Ebd.
720 Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Mittelschule. In:
ZENTRALBLATT 1939 – Beilage
721 Im Folgenden als „Bestimmungen von 1939“ bezeichnet.
722 Ebd., S. 4
723 Ebd., S. 5
724 Ebd.
725 Ebd., S.10
726 Ebd., S.15
727 Wegfall des Begriffs „Mittlere Reife“. In: ZENTRALBLATT 1938, S. 330 f
728 Ebd.
729 Ebd.
730 Ebd.
731 Verordnung über die Vorbildung und die Laufbahnen der deutschen Beamten. In:
REICHSGESETZBLATT 1939 (RGBl I) S. 371
732 KANZ: Der Nationalsozialismus als pädagogisches Problem. 1992, S. 117
733 Die Einführung der Hauptschule in die neuen Gebiete des Deutschen Reiches. In:
ZENTRALBLATT 1941, S. 58
734 Einführung der Hauptschule im alten Reichsgebiet. In: ZENTRALBLATT 1942, S. 231
735 o.V.: Was wird aus der Mittelschule? In: MS 54 (1940), S. 269
736 Vgl. ebd.
737 Vgl. Schülerauslese für die Hauptschule. In: ZENTRALBLATT 1941, S. 271
738 Vgl. Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule. In: ZENTRALBLATT 1942, S. 127
739 Fortführung der Mittelschulklassen nach Einführung der Hauptschule. In: AMTLICHES SCHULBLATT f.d. Reg.-Bez. Merseburg 1942, S. 20 zit. nach: MS 56 (1942), S. 61
740 Die Einführung der Hauptschule in die neuen Gebiete des Deutschen Reiches. In: ZENTRALBLATT 1941, S. 59
741 Ebd.
742 Ebd.
743 MAASSEN: Die Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule. In:
MS 56 (1942), S. 69
744 Neueinrichtung von Hauptschulen. In: ZENTRALBLATT 1943, S. 164
745 Ebd.
746 Ebd.
747 Verordnung über die Vorbildung und die Laufbahnen der deutschen Beamten. In:
REICHSGESETZBLATT 1939, Nr. 38, S. 371
748 Vgl. ebd., § 14
749 Vgl. ebd., § 20
750 Vgl. ebd., § 26
751 Ebd., § 4
752 Ebd., § 27
753 MAASSEN: Die Lösung der Berechtigungsfrage aus volksorganischem Denken. In:
MS 53 (1939), S. 110
754 Einführung der Hauptschule im alten Reichsgebiete. In: ZENTRALBLATT 1942, S. 231
755 Ebd.
756 BÖLLING: Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. 1983, S. 150
757 Ebd.
758 Ebd., S. 151
759 Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Mittelschule. In:
ZENTRALBLATT 1939 – als Beilage
760 Die Einführung der Hauptschule in den neuen Gebieten des Deutschen Reiches. In:
MS 55 (1941), S. 104 f
761 Einführung der Hauptschule im alten Reichsgebiet. In: ZENTRALBLATT 1942, S. 231
762 Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule. In:
ZENTRALBLATT 1942, S. 127 ff
763 Im Folgenden als „Bestimmungen von 1942“ bezeichnet.
764 MAASSEN: Die Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule. In:
MS 56 (1942), S. 71
765 Ebd.
766 Ordnung der Ausbildung und Prüfung für das Lehramt an Hauptschulen. In:
ZENTRALBLATT 1942, S. 453 ff
767 Ebd., S. 454
768 Ebd.
769 Ebd.
770 Vgl. MAASSEN: Die neuen Stundentafeln. In: MS 53 (1939), S. 229 ff
771 „Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Mittelschule“. In:
ZENTRALBLATT 1939; Beilage
772 Klasse 1 ist die Eingangsklasse, Klasse 6 die Abschlussklasse
773 LUCAS: Die rassenpolitischen Aufgaben nach den neuen Lehrplänen für die Mittelschule. In: MS 54 (1940)
774 Ebd., S. 7 f
775 Bestimmungen 1939; Beilage S. 50
776 Ebd., S. 7
777 Bestimmungen von 1939; Beilage S. 50
778 Ebd.
779 Ebd., S. 51
780 Ebd.
781 Ebd., S. 52
782 Vgl. BUHTZ (Hrsg.): Die Mittelschule. 1926, S. 111
783 Bestimmungen von 1939, Beilage S. 52
784 Vgl. ebd., S. 52
785 LANGE: Sacheinheit und systematischer Aufbau im Chemieunterricht der Mittelschule. In:
MS 57 (1943) S. 36
787 Ebd., S. 9
788 Vgl. Bestimmungen von 1939, S. 53 f
789 Vgl. ebd., S. 52
790 BENZE: Erziehung im Großdeutschen Reich. 1939
791 Ebd., S. 10
792 LANGE: Sacheinheit und systematischer Aufbau im Chemieunterricht der Mittelschule. In:
MS 57 (1943), S. 36 f
793 ECKARD: Nationalsozialistische Ausrichtung des Unterrichts. In: MS 51 (1937), S. 514
794 Ebd., S. 515
795 Ebd., S. 516
796 BENZE; PUDELKO: Rassische Erziehung als Unterrichtsgrundsatz. 1937, S. 25
797 LUCAS: Die rassenpolitischen Aufgaben nach den neuen Lehrplänen für die Mittelschule. in: MS 54 (1940), S. 7
798 Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule. In:
ZENTRALBLATT 1942, S.127
799 Klasse 1 ist die Eingangsklasse, Klasse 4 die Abschlussklasse.
800 PETER: Der Naturlehreunterricht in der Hauptschule. In: MS 56 (1942), S. 150
801 *HOFMANN und WÄLTERMANN: Chemie für Mittelschulen. 1942
802 *SCHARNBERG und FINNERN: Chemie für Mittelschulen. 1942
803 *GERHARDT u.a.: Lehrbuch der Chemie für Haupt- und Mittelschulen“. 1941
804 *FILIPP: Chemie für Mittelschulen – zum Gebrauch an Jungenschulen. 1942
805 Ebd., S. 271 ff
806 *GERHARDT u.a.: Lehrbuch der Chemie für Haupt- und Mittelschulen. 1941, S. 144
807 EILERS: Die nationalsozialistische Schulpolitik. In: Staat und Politik. 1963, S. 29
808 Bouhler war der Leiter der „Parteiamtlichen Prüfungskommission“
809 Ebd., S. 30
810 Ebd..
811 HEDERICH: Die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutz des NS-Schrifttums.1937,
S. 6
812 Versorgung der Schüler und Schülerinnen der allgemeinbildenden Schulen mit Lernbüchern.
In: AMTSBLATT 1943, S. 146
813 Runderlaß des RMfWEV: Kriegsmaßnahmen zur Versorgung mit Lernbüchern. In:
Die deutsche Hauptschule 3 (1944), S. 89
814 Ebd.
815 Versorgung der Luftwaffenhelfer (Marinehelfer) mit Lernbüchern. In: AMTSBLATT 1944,
S. 243
816 Ebd.
817 Ebd.
© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. | ||
DiML DTD Version 4.0 | Publikationsserver der Universität Potsdam | HTML-Version erstellt am: 14.08.2006 |