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Stand: 12. August 2005
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     I, 1 (2000)
 
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Petra Werner: Übereinstimmung oder Gegensatz?
Zum widersprüchlichen Verhältnis zwischen
A. v. Humboldt und F. W. J. Schelling

 

5. Bemerkungen zur historischen Situation

Inwieweit Humboldt von der ab Mitte des Jahrhunderts anwachsenden allgemeinen Ablehnung der Naturphilosophie beeinflußt war, läßt sich nicht feststellen - der Zenit der romantischen Naturforschung war nach heutiger Einschätzung bereits 1815 überschritten,(113) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von namhaften Wissenschaftlern Kritik geäußert, in der zweiten Hälfte dezidierte Ablehnung. Welchen Anteil eigenes Studium bei Humboldt zu dieser Korrektur alter Auffassungen spielte und inwieweit er sich von der negativen Stimmung gegen Schelling beeinflussen ließ, ist auch schwer abzuschätzen. Auch Zeitgenossen waren unsicher in der Einschätzung von Humboldts Meinungswandel.(114)

Schelling hatte bereits 1807 die Rezeption seiner Naturphilosophie bei Naturforschern und Medizinern als mißglückt erkannt und auf weitere philosophische Publikationen verzichtet.(115) Vielleicht war das Gefühl, damit gescheitert zu sein, der Grund für Schellings philosophischen Themenwechsel. Die Zahl seiner Kritiker wuchs ständig - zu ihnen gehörten zahlreiche Korrespondenzpartner Humboldts, darunter Justus von Liebig und dessen enger Freund Friedrich Wöhler, desweiteren der Naturforscher Georges Léopold Chrétien Fréderic Dagobert Baron von Cuvier, der Botaniker Matthias Jacob Schleiden und der Physiologe Emil Du Bois-Reymond. Liebig bekannte 1840 verbittert, er habe sich leider in seiner Studienzeit der "Ansteckung" des größten Philosophen und Metaphysikers Schelling nicht entziehen können - er habe diese an Worten und Ideen so reiche, an wahrem Wissen und gediegenen Studien so arme Periode durchlebt, sie habe ihn zwei wertvolle Jahre seines Lebens gekostet. Er könne kaum den Schreck und das Entsetzen schildern, die ihn überkamen, als er aus diesem Taumel zum Bewußtsein erwacht sei.(116) An anderer Stelle begründete Liebig seine Abneigung gegen den Philosophen, so habe Schelling keine gründlichen Kenntnisse in den Fächern der Naturwissenschaft besessen, und das Einkleiden der Naturerscheinungen mit Analogien und Bildern, was man "Erklären" nannte, habe ihm nicht zugesagt.(117)/(118) F. Wöhler (119) äußerte in einem Brief an Jöns Berzelius aus dem Jahre 1825 über H. Steffens,(120) er sei ein "Charlatan", der viel zu intelligent sei, um das von ihm gepredigte fieberhafte Zeug zu glauben. Auch von dem Botaniker M. J. Schleiden (121) gibt es aus dieser Zeit absprechende Äußerungen über Schelling und die Naturphilosophie, ebenso von dem Geologen L. von Buch. Fast alle Genannten haben sich sowohl in Briefen (122) als auch in Veröffentlichungen geäußert - Schleiden hat seinem Kampf gegen die Naturphilosophie sogar mehrere Monographien gewidmet.

Die zunehmende Distanz der Zeitgenossen Schellings hatte viele Facetten - sie betraf sowohl seine Auffassungen als auch seine Art der philosophischen Auseinandersetzung mit Hegel,(123) Johann Gottlieb Fichte und anderen Kollegen, gegen die er sehr scharf vorging - aber auch seine Nähe zum Hof, zum Staat und zur Kirche wurde besonders nach der Revolution kritisiert. Über seine Vorlesungen wurde in der deutschen Öffentlichkeit und in internen Korrespondenzen viel Kritisches laut, Varnhagen von Ense beschuldigte den Philosophen, er spreche marktschreierisch, wolle alle Rätsel lösen, jede Frage beantworten und komme zu nichts Rechtem.(124) 1842 meinte Varnhagen von Ense gar in einem Brief an H. Heine, Schelling sei in Berlin "zum Gespötte geworden", genieße aber alle Gunst des Hofes und alles Ansehen der Behörde.(125) Daß Schelling nun in Berlin Vorlesungen hielt, konnte Varnhagen von Ense nicht verstehen - so meinte er 1844 gegenüber dem Philosophen Karl Rosenkranz gar, diese Zeit der "Schellingschen Neuherrschaft" käme ihm vor wie die Restaurationszeit der Bourbons, aber die Julirevolution werde nicht ausbleiben.(126) Schelling, so Varnhagen von Ense an K. Rosenkranz, stehe in einer "heuchlerischen, anmaßlichen, seiner unwürdigen Koalition mit Staatsautoritäten und Pfaffenmächten."(127) Vom "weichen Berliner Schmeichelleben" ist die Rede, von Täuschung, dünnem Zeug, gebildeten Müßiggängern, die angeblich Schellings Vorlesungen (128) besuchten. Varnhagen von Ense notierte in sein Tagebuch am 2. Dezember 1841:

"Schelling setzt seine Vorträge ämsig fort, aber die Zuhörer fallen schon ab. Der Vortrag ist unangenehm, hölzern, ein bloßes Ablesen und Diktieren. Heute sprach er feierlich, anerkennend, fast gerührt von Hegel, eignet sich aber alles Beste von ihm mit seltner Dreistigkeit oder Selbsttäuschung an, von dem sich beweisen läßt, daß es ausschließlich Hegel´n gehört. Noch sieht man nicht, wo es mit seiner Philosophie hinaus will; wohl aber ahnet man, daß es nicht viel bedeute, daß es ein bloßes Gerede bleiben wird, daß es damit ein schwaches, vielleicht gar ein lächerliches Ende nehmen wird! Das meinen nicht einige Hegelianer allein, sondern auch ganz parteilose Männer, wie Humboldt und General von Rühle."(129)

Ablehnung kam von allen Seiten. Der Germanist und Diplomat Adolf Friedrich Graf von Schack meinte, Schelling erlebe nun den Sturz seines Lehrgebäudes, beschuldigte ihn sogar, daß er nicht mehr an seine eigenen Arbeiten glaube und eingesehen habe, daß er sich mit seiner Spekulation wie im Opiumrausche befunden habe.(130)

Schelling, der noch 1816 von der philosophischen Fakultät als interessantester deutscher Philosoph eingeschätzt wurde und für den Berliner Lehrstuhl gewonnen werden sollte,(131) hielt ab 1842 als "Lesendes Akademiemitglied" Vorlesungen, erhielt aber keinen Lehrstuhl - wenige Jahre später gab er auch die Vorlesungen in Berlin auf.

Humboldt hatte 1840 auf seine ironische Weise die Furcht ausgedrückt, Schelling werde wahrscheinlich nur kommen, um hier das fünfte Weltalter (132) mumienartig zu vollenden.(133) Auch von anderer Seite war Schelling schon vor seinem Antritt in Berlin Unfruchtbarkeit vorgeworfen worden - Kultusminister Karl Freiherr von Stein zum Altenstein, der durch ein Gutachten bereits 1834 die Berufung nach Berlin verhindert hatte, gab unter anderem zu bedenken, Schelling umfasse nie das Gebiet der ganzen Philosophie, habe seit 1809 nichts Bedeutendes geschrieben und selber Logik nie vorgetragen. In naturwissenschaftlichen Kenntnissen aber, die sich mit Riesenschritten entwickelt hätten, sei er weit hinter seiner Zeit zurückgeblieben. Als Autoritäten, die dies bezeugen könnten, führte er u. a. A. von Humboldt und L. von Buch an.(134)

Humboldt nahm dem Philosophen die Vermischung von Natur, Philosophie und Christentum übel. Besonders aus der Zeit nach der Revolution von 1848 (135) gibt es viele kritische Äußerungen Humboldts über die Kirche, so zum Beispiel im zweiten Band des "Kosmos" - selbst Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gegenüber bezeichnete er sich scherzhaft als "Ungläubigen".(136) Dafür sprechen mehrere Bemerkungen im zweiten Band des "Kosmos" - von einigen Kirchenzeitungen wurde er dafür scharf angegriffen und beschimpft.(137)

Oft waren diese Anschuldigungen gegen Humboldt mit politischen Vorwürfen verknüpft. Humboldts politische Haltung war schon Gegenstand von Untersuchungen - es erwies sich, daß sein Spielraum zwischen Königstreue und Republikanertum sehr schwer einzuordnen ist. Einerseits blieb er gern "politischem Zwiste", den er nicht "selbst erregt",(138) fern, andererseits bezeichnete er sich als "republikanisch".(139) In der Phase der "Reaktionsperiode", in der Professoren, die in der Öffentlichkeit hervorgetreten waren, um ihre Stellung bangen mußten, war ein Bekenntnis zu den Ideen der Revolution besonders mutig - so betonte Humboldt besonders häufig, von republikanischer Gesinnung zu sein, den Ideen der französischen Revolution von 1789 nahezustehen,(140) eine Vorliebe für verketzerte Bücher zu haben usw.(141) Angeblich - so Humboldts eigene Darstellung - sei er in monarchistischen Kreisen auch als solcher verschrieen gewesen. So sei ein Bekannter von Ernst August von Hannover gefragt worden, ob der "alte Humboldt" noch immer "Republikaner" sei. Nachdem der befragte Diplomat höflich eingelenkt habe, so Humboldts Wiedergabe des Vorfalls, habe der "Tyrann" gesagt, als solchen kenne er Humboldt schon seit 50 Jahren.(142) Einige seiner weniger berühmten Kollegen wie der Tübinger Privatdozent Friedrich Karl Ludwig Büchner, der 1855 unter dem Titel "Kraft und Stoff" veröffentlichte, das einem breiteren Publikum einen philosophischen, deterministischen Materialismus nahebringen wollte, wurde vom Stuttgarter Ministerium für Kirchen- und Schulwesen wegen seiner angeblich die sittlichen Grundlagen aller gesellschaftlichen Ordnung gefährdenden Grundsätze die Lehrbefugnis entzogen. Auch die Dozenten Friedrich Karl Biedermann, Karl Vogt, Georg Gottfried Gervinius, Emil Adolf Roßmäßler und Chr. G. Nees von Esenbeck (143) erschienen in Polizeiberichten, standen unter Beobachtung, verloren ihre Stellung (wie Nees von Esenbeck) oder wurden sogar zu Festungshaft verurteilt (wie Gervinius).(144)

Vermutlich brachte Humboldt seine republikanische Haltung, seine gelegentlichen Äußerungen gegen die "Reaktion" und sein Schriftwechsel mit Nees von Esenbeck noch mehr in Gegensatz zu Schelling, der, folgt man Varnhagen von Ense, sich feindlich über die Revolution von 1848 geäußert und sogar gemeint haben soll, man müßte das Volk "mit Kartätschen zusammenschießen".(145)

Humboldts Erkenntnisprozeß bzw. Sinneswandel über die Person Schellings brachte ihn in Konflikte, als er Anfang der vierziger Jahre seine bereits 1827 gehaltenen Kosmos-Vorlesungen herausgeben wollte. Er war im Zwiespalt darüber, wie er seine geänderte Meinung Schelling gegenüber zum Ausdruck bringen sollte und fürchtete, es könne ihm als Mangel an Zivilcourage ausgelegt werden. Er bekannte sich noch 1843 in einem Brief dazu, Schelling 1827 in seinen Kosmos-Vorlesungen zitiert zu haben und meinte, er hätte es als feige (146) empfunden, dies nun plötzlich nicht mehr zu tun. Er begründete, warum er ausgerechnet eine bestimmte Stelle aus Schellings Werk "Bruno oder das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge" zitiert habe. Von Hegel, so betonte Humboldt, wolle er jedoch etwas Ernstes und Ehrenvolles auswählen:

"So komme ich zu meinen Zwecken ohne Liebe für beide, aber mit mehr Achtung für Hegel, der freilich auch schon das historische Christentum in die Philosophie eingeschwärzt."(147)

Wie er seine Sympathie für Hegelsche und Schellingsche Ideen miteinander in Einklang brachte,(148) bedarf näherer Erforschung. In den fünf Bänden des "Kosmos" verwies er viermal auf Schellings Arbeiten, darunter kam er auf die schon erwähnte Kunstfigur "Bruno" zurück. Im Band I finden sich zwei von Humboldt kommentierte Zitate Schellings, erstens:

"Nicht ein todtes Aggregat ist die Natur: sie ist ´dem begeisterten Forscher (wie Schelling in der trefflichen Rede über die bildenden Künste sich ausdrückt) die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werkthätig hervorbringt.´"(149)

Dieses Zitat kommentierte Humboldt mehrfach - auch gegenüber August Böckh bekannte er 1843 seine widersprüchlichen Gefühle gegenüber Schelling und meinte mit Bezug auf seine Darstellung im "Kosmos" diplomatisch, er hielte es für gut, so zu tun, als sei Schelling, der Erfinder der Naturphilosophie, unschuldig, und alles sei gegen seinen Willen geschehen. Deshalb, so Humboldt, habe er den Ausdruck: "ernste, der Philosophie und Beobachtung gleichzeitig zugewandte Geister"(150) verwendet.

Zweitens äußerte sich Humboldt über die von Schelling geschaffene Kunstfigur "Bruno":

"ist es wenig zu verwundern, wenn, wie so schön im Bruno gesagt wird, ´viele die Philosophie nur meteorischer Erscheinungen fähig halten und daher auch die größeren Formen, in denen sie sich geoffenbart hat, das Schicksal der Cometen bei dem Volke theilen, das sie nicht zu den bleibenden und ewigen Werken der Natur, sondern zu den vergänglichen Erscheinungen feuriger Dünste zählen.´"(151)

Gegenüber Böckh bekannte Humboldt, diese Stelle mit "Malice" zitiert zu haben. Offensichtlich war es ihm aber wichtig, nicht die Philosophie als solche zu verdammen - hiermit stimmte er u. a. mit Schleiden überein und wandte sich auch gegen die Auffassungen Rudolf Virchows, nach dessen Meinung die Naturwissenschaften eines philosophischen Fundaments nicht bedürften und der sich 1863 auch gegen die von einigen Seiten geäußerte Kritik an dem angeblichen Unvermögen der Naturwissenschaftler verwahrte, über die philosophischen Voraussetzungen der empirischen Forschung zu reflektieren und die positive Erkenntnis in eine Philosophie einzuordnen.(152) Es gab in dieser Zeit vielfach Versuche, die bisherige theologisch-philosophische Weltanschauung auf Grund "modernder Naturerkenntnis" umzugestalten. So machte sich Humboldt mehrmals in Briefen über F. K. L. Büchners viel diskutiertes Buch "Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien" lustig - griff ihn aber nicht öffentlich an.(153) In Band I des "Kosmos" fügte er an dieser Stelle einen Kommentar ein, mit dem er eine Verteidigung der Philosophie unternahm:

"Mißbrauch oder irrige Richtungen der Geistesarbeit müssen aber nicht zu der, die Intelligenz entehrenden Ansicht führen, als sei die Gedankenwelt, ihrer Natur nach, die Region phantastischer Truggebilde; als sei der viele Jahrhunderte hindurch gesammelte Schatz empirischer Anschauungen von der Philosophie, wie von einer feindlichen Macht bedroht. Es geziemt nicht dem Geiste unserer Zeit, jede Verallgemeinerung der Begriffe, jeden, auf Induction und Analogien begründeten Versuch, tiefer in die Verkettung der Naturerscheinungen einzudringen, als bodenlose Hypothese zu verwerfen, und unter den edeln Anlagen, mit denen die Natur den Menschen ausgestattet hat, bald die nach einem Causal-Zusammenhang grübelnde Vernunft, bald die regsame, zu allem Entdecken und Schaffen nothwendige und anregende Einbildungskraft zu verdammen."(154)

Diese Bemerkung war Humboldt so wichtig, daß er es nahezu wörtlich in seinem V. Band wiederholte:

"Möge ein Zeugnis bisheriger Unfruchtbarkeit nicht alle Hoffnung für die Zukunft vernichten! denn es geziemt nicht dem freien Geiste unserer Zeit, jeden zugleich auf Induction und Analogien gegründeten philosophischen Versuch, tiefer in der Verkettung der Naturerscheinungen einzudringen, als bodenlose Hypothese zu verwerfen: und unter den edeln Anlagen, mit welchen die Natur den Menschen ausgestattet hat, bald die nach dem Causal-Zusammenhang grübelnde Vernunft; bald die regsame, zu allem Entdecken und Schaffenden nothwendige und anregende Einbildungskraft zu verdammen."(155)

Darüber, daß es sehr schwierig ist, Humboldts philosophische Anschauungen einzuschätzen, sind sich Humboldt-Forscher einig,(156) dies bedarf künftiger Untersuchungen. Während einige Autoren betonen, Humboldt sei kein Philosoph gewesen, sehen andere eine Nähe zu Immanuel Kant, da Kants Vorlesung über Physikalische Geographie für den jungen Alexander von Humboldt fruchtbar gewesen sein soll.(157) Auch dies bedarf näherer Erforschung, da es aus späterer Zeit auch Indizien für die Abgrenzung Humboldts von Kant und seiner Schule gibt. Andere Autoren sehen Humboldt mit seiner "Kosmos-Idee" und seinem "Erkenntnisoptimismus" eher in der Nähe zu Pierre Simon de Laplace als zum "Agnostiker Kant" und damit zur Aufklärung.(158) Humboldt setzte sich z. B. in Gegensatz zu den Ansichten vieler von ihm sehr geschätzter Naturwissenschaftler, die von dem Kant-Schüler Jacob Friedrich Fries begeistert und von Schelling abgestoßen waren, darunter J. v. Liebig und M. J. Schleiden. Die Abneigung gegen Schelling und die Begeisterung dieser jüngeren Wissenschaftler für Fries, auf deren Urteil Humboldt in wissenschaftlichen Fragen sehr viel Wert legte, beeinflußten ihn nicht.(159) Über Fries, dessen Wirkung auf die Naturwissenschaft über die Schule Leonhard Nelsons bis ins 20. Jahrhundert (160) hinein reichte, äußerte sich Humboldt zurückhaltend. Er war mit Fries (161) persönlich bekannt und nannte ihn im "Kosmos" einen ihm lange befreundeten, den Kantischen Absichten leidenschaftlich zugetanen Denker. Fries, so kommentierte Humboldt, habe am Schluß seiner "Geschichte der Philosophie"(162) erklärt, daß von den bewunderungswürdigen Fortschritten, welche die Naturlehre bis zum Jahre 1840 gemacht, alles der Beobachtung und der Kunst der Geometrie, der Kunst mathematischer Analysis angehöre; die Naturphilosophie habe bei diesen Entdeckungen gar nichts gefördert. Mit dieser einseitigen Beurteilung durch Fries konnte sich Humboldt nicht einverstanden erklären und meinte in der Einleitung zum V. Band des "Kosmos" ironisch:

"Wenn ich die Unbestimmtheit und Schwierigkeit der Aufgabe einer theoretischen Naturphilosophie lebhaft geschildert habe, so bin ich doch weit entfernt, von dem Versuche des einstmaligen Gelingens in diesem edeln und wichtigen Theile der Gedankenwelt abzurathen. Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft des unsterblichen Philosophen von Königsberg gehören allerdings zu den merkwürdigsten Erzeugnissen dieses großen Geistes. Er schien seinen Plan selbst beschränken zu wollen, als er in seinem Vorworte äußerte, daß, metaphysische Naturwissenschaft nicht weiter lange, als wo Mathematik mit metaphysischen Sätzen verbunden werden könne."(163)

 

Anmerkungen:

(113) Vgl. Engelhardt 1992, S. 46. Auch K. Köchy weist auf die "Unschärfe" des Begriffs Romantik hin und versucht eine Einteilung in drei Phasen: Vorromantik als Zusammenfassung antirationaler Tendenzen im klassizistischen Zeitalter, um 1740, die Frühromantik ab 1797 mit ihren Zentren Berlin und Jena, die Hochromantik, die ca. 1805 beginnt (Dresden, Heidelberg). Die Spätromantik erstreckte sich nach Meinung des Autors bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. Köchy 1997, S. 70.

(114) Franz Grillparzer, der Humboldt in den 40er Jahren in Berlin traf und ihn als "Herder der Naturwissenschaften" schätzte, war unentschlossen, ob er Humboldts Bereitschaft, jahrelang gehegte Ansichten gegen (wenn auch begründete) neue auszutauschen, für Geistesstärke oder Oberflächlichkeit halten solle. Vgl. Hock 1912, S. 372-373. Grillparzer äußerte sich hier sowohl 1847 als auch 1849 und 1856 - wobei er später zu mehr Toleranz neigte. Korrespondenz zwischen Humboldt und Grillparzer ist nicht überliefert.

(115) Vgl. Schelling 1860, S. 245-259.

(116) Vgl. Äußerung von Justus v. Liebig aus dem Jahre 1840. In: Tilliete 1974, S. S. 276-277.

(117) Ebenda, S. 277.

(118) Vgl. Brock 1997, S. 26. Inwieweit in dieser Erklärung der Wunsch eine Rolle spielt, sich, wie es Brock annimmt, nach seiner Eheschließung demonstrativ von seinem homosexuellen Jugendfreund Kastner abzusetzen, bleibt offen.

(119) Vgl. Wallach 1901.

(120) Auch H. Steffens mußte 1821 zugeben, daß die romantische Naturforschung nicht das zu leisten vermochte, was ihr begeisterter Anfang versprochen hatte. D. v. Engelhardt hat sich ausführlich mit H. Steffens Werk befaßt und zahlreiche Arbeiten darüber verfaßt. U. a. schrieb er die Einleitung zur Neuauflage der mehrbändigen Autobiographie von Steffens 1995, Bd. 1-2.

(121) Vgl. Schleiden 1844.

(122) Vgl. hierzu u. a. den Briefwechsel M. J. Schleidens mit J. v. Liebig, aber auch den mit A. v. Humboldt.

(123) Einige Philosophen, darunter Karl Rosenkranz, hatten Bücher für bzw. gegen Schelling veröffentlicht.

(124) Vgl. Tagebuchnotiz K. A. Varnhagen von Enses vom 21. 11. 1841. In: Tilliete 1974, S. 436.

(125) Vgl. Brief K. A. Varnhagen v.Ense an H. Heine vom 11. 10. 1842. In: Greiling 1984, S. 124.

(126) Vgl. Brief K. A. Varnhagen v. Ense an K. Rosenkranz vom 24. 9.1844. In: Warda 1926, S. 132-136.

(127) Vgl. Brief K. A. Varnhagen v. Ense an K. Rosenkranz vom 17. 6. 1843. In: Warda 1926, S. 108.

(128) K. A. Varnhagen von Ense erweist sich als extrem spitzzüngig: "Schelling liest sein Kollegium über die Prinzipien der Philosophie, und sein Hörsaal ist ziemlich gefüllt, aber größtenteils durch neugierige, fremde Zuläufer, die etwa auf Wunderliches oder auf ein Ärgernis lauern. Bei etwa zweitausend Studenten und den gebildeten Müßiggängern der großen Stadt, ist die Zahl solcher Gäste stets bedeutend...Von wissenschaftlichem Eindruck, von Gründung einer Schule, von Befestigung eines Anfangs im höheren Sinne - keine Spur! Aber viel weltkluges Verknüpfen, viel pfäffische Ränke, viel fanatisches Parteimachen, verabredetes Geltendmachen, lobendes Ausrufen und Posaunen! Dabei kann keine Philosophie gedeihen, und wäre sie noch so gedankenstark [...]! In der Tat scheint mir Schelling dazu berufen, das Interesse an der Philosophie zu ersticken..." Aus: Brief K. A. Varnhagen v. Ense an I. P. V. Troxler vom 12. 1. 1844. Vgl. Greiling 1984, S. 130.

(129) K. A. Varnhagen v. Ense, Eintragung vom 2. Dezember 1841. In: Varnhagen 1861, Bd. 1, S. 372.

(130) Vgl. Äußerung A. v. Schacks 1849, Tilliete 1974, S. 502-503.

(131) Angeblich sollen Schellings enorme Gehaltsforderungen zu dieser Zeit eine Berufung nach Berlin verhindert haben. Dazu sowie zu den langwierigen Verhandlungen um die Neubesetzung des Hegelschen Lehrstuhls, den schließlich 1835 G. A. Gabler erhielt, vgl. Lenz 1910, Bd. II, S. 479.

(132) Gemeint sind seine Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung, die Weltalter usw.

(133) Vgl. Äußerung von Johannes Schulze, o. D. In: Tilliete 1974, S. 425.

(134) Ebenda, S. 424. Inwieweit die gegenüber 1816 stark um Naturwissenschaftler erweiterte Fakultät eine Rolle spielte, ist bisher nicht untersucht worden. Ihr gehörten zahlreiche persönliche Freunde und Briefpartner Humboldts an, darunter H. und G. Rose sowie E. Mitscherlich.

(135) Dies hängt verständlicherweise nicht nur vom Zeitpunkt ab, sondern auch davon, wem gegenüber er sich äußerte. So meinte er 1844 gegenüber Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, ihm sei alles zuwider, was mit Religionshaß zusammenhänge. Vgl. Brief A. v. Humboldt an J. A. F. Eichorn vom 17. 4. 1844. In: Biermann 1985, S. 108-109.

(136) Vgl. Brief A. v. Humboldt an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen vom 18. 2. 1855. In: Müller 1928, S. 274. Biermann spricht m. E. überzeugend von Humboldts "Erkenntnisoptimismus" und seinem "spontanen Materialismus" in der Naturerkenntnis (vgl. Biermann 1985, S. 100). Er wie O. Ette (vgl. Ette 1999) sind mehr von einem kulturhistorisch-ethnologischen Interesse Humboldts als von seinem Glauben überzeugt.

(137) 1845 bezichtigte ihn die Rhein-Mosel-Zeitung des "Voltairismus" und des Leugnens aller Offenbarung, des Komplotts mit Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach. Vgl. Brief A. v. Humboldt an K. A. Varnhagen v. Ense vom 3. 6. 1845. In:Varnhagen 1861, S. 172. Eine Paderborner Kirchenzeitung gar führte sein Buch "Kosmos" in der Reihe der "schlechtesten, die Sitten verderbenden Bücher" auf und bezichtigte den Verfasser, mit dem Teufel im Bunde zu stehen (vgl. Brief A. v. Humboldt an G. v. Bülow, o. D. Mittwoch Nacht, vermutlich 1852, DLA Marbach). Leute schrieben an ihn, um ihn bekehren zu wollen - so bezichtigte ihn ein Briefschreiber, in seinem, Humboldts Herzen, führe der Satan den Kommandostab (vgl. Brief Humboldts an K. A. Varnhagen von Ense vom 23. 3. 1852. In: Varnhagen 1861, S. 148). Inwieweit Humboldt solche Schreiben beantwortete, ist nicht bekannt - überliefert ist ein Brief an einen reformierten Pastor in Horn bei Detmold, dem er 1853 versicherte, es habe ihm ferngelegen, in seinem "Kosmos" etwas zu schreiben, was "religiöse Meinungen kränken" könne. Wie ein Versuch der Rechtfertigung kann sein Hinweis auf verschiedene Stellen in den Bänden II und III seines "Kosmos" verstanden werden, in denen er den Einfluß des Christentums als "ursprünglich wohltätig" geschildert habe (vgl. Brief A. v. Humboldt an C. Wippermann vom 13. 3. 1853, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 89 B, XIV 10. 6.). Die Angriffe von kirchlicher Seite ließen nicht nach, 1857 klagte ihn eine Wiener Kirchenzeitung als "irreligiösen Sittenverderber" an, weil er den Gebrauch der Vernunft anpreise, um die Grenzen zu ergründen, welche nach ewigem Ratschluß in Gottes mächtigem Reiche walten würden (vgl. Brief A. v. Humboldt an (?) Pedell vom 20. 4. 1858, TD Stargardt, Katalog-Nummer 647, Hamburg 1990, Nr. 567). Sogar als "Seelenmörder" wurde er bezeichnet - Humboldt kommentierte dies gegenüber A. Mendelssohn, es wäre höflicher gewesen, ihn als "Seelentöter" zu bezeichnen - dies alles nur, weil er wegen des Glaubens an "Electro-Magnetismus" als eine Urkraft seinen Atheismus unter Beweis gestellt habe. Auch eine Pariser Kirchenzeitung äußerte sich in diesem Sinne, weil Humboldt gesagt hatte, was Justus von Liebig hätte auch sagen können, daß in den elektrischen Fischen dieselbe Kraft herrschend ist, welche die Wolke entzündet (vgl. Brief A. v. Humboldt an Maximillian II. vom 13. 8. 1857, Bayerisches HSA, München, Abt. Geh. Hausarchiv. Einzelheiten vgl. auch Wilck 1997.

(138) Vgl. Brief A. v. Humboldt an R. E. Prutz vom 9. 12. 1844, Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresden, App. 497 III, 262, Nr. 8

(139) Vgl. u. a. Brief A. v. Humboldt an F. Arago (?) vom 21. 3. 1846, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Neuerwerbungen Nr. 68/69, I, 791.

(140) Vgl. u. a. Brief A. v. Humboldt an O. Heer vom 10. 9. 1857, Russische Akademie der Wissenschaften Sankt Petersburg, F. 703 op. 1, Nr. 56, L. 213; Brief A. v. Humboldt an W. Struve vom 12. 11. 1857, ebenda, F 703, op. 1, Nr. 56, L. 212.

(141) Vgl. Brief A. v. Humboldts an Chr. G. Ehrenberg, Sonntags, o. D. 1857, ABBAW, NL Ehrenberg Nr. 420.

(142) Brief A. v. Humboldt an G. v. Bülow vom 5. 12. 1848, DLA Marbach.

(143) Chr. G. Nees von Esenbeck wurde wegen seiner Beteiligung an den politischen Bewegungen vom Januar 1848 im Januar 1851 vom Dienst suspendiert, im März 1852 seines Amtes enthoben. Humboldt führte seine Korrespondenz mit Nees von Esenbeck bis zu dessen Tode fort - Humboldts Briefe wurden z. T. in Zeitungen veröffentlicht.

(144) Vgl. Siemann 1990, S. 154-155. Humboldt versicherte gegenüber Chr. G. Ehrenberg: "Ich halte viel darauf zu manifestieren, daß politische Beziehungen, für die ich sehr warm bin, dennoch nie wissenschaftlichen Verkehr modifizieren müssen, so mit [...] Esenbeck." Brief A. v. Humboldt an Chr. G. Ehrenberg, donnerstags, 1854 (?), ABBAW, NL Ehrenberg.

(145) Vgl. Brief K. A. Varnhagen v. Ense an I. P. Troxler vom 5. April 1848. Vgl. Fuhrmann 1962-75, S. 502.

(146) Shortland behauptete im Zusammenhang mit seiner These von Humboldts Homosexualität, er habe sich oft demonstrativ "männlich" gegeben. Vgl. Shortland 1997.

(147) Vgl. Brief A. v. Humboldt an A. Böckh, 1843. Vgl. Tilliete 1974, S. 487.

(148) Bekanntlich bekämpfte Schelling G. W. F. Hegels Ideen und setzte sich davon ab.

(149) Humboldt 1845, S. 39.

(150) Vgl. Brief A. v. Humboldt an A. Böckh, 1843. Vgl. Fuhrmann 1962-76, S. 487.

(151) Humboldt 1845, S. 71.

(152) Vgl. Engelhardt 1972, S. 72. In: Querner/Schipperges 1972.

(153) In diesem Sinne äußerte sich Humboldt im September 1856 sowohl gegenüber dem Mediziner Wilhelm Baum als auch gegenüber Chr. G. Ehrenberg. Er spöttelte besonders über die Bemerkung L. Büchners, daß Frauen kleinere Gehirne haben als Männer, daß der Gedanke im selben Verhältnis zum Gehirn stehe, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren. Vgl. Büchner 1856. Diese Hinweise verdanke ich Ingo Schwarz.

(154) Humboldt 1845, S. 71.

(155) Humboldt 1862, S. 8.

(156) Vgl. Beck 1976, S. 30; Biermann 1983, S. 100.

(157) Vgl. Kessler 1993, S. 169; Biermann 1983, S. 100.

(158) Vgl. hierzu die umfangreiche Analyse von E. Herlitzius aus marxistischer Sicht - vgl. Herlitzius 1960. Auch Mario Bunge bezeichnen Humboldt als Aufklärer, vgl. Bunge 1969.

(159) Bisher habe ich im Briefwechsel Humboldts mit Naturwissenschaftlern keine Hinweise auf philosophische Diskussionen über I. Kants bzw. J. F. Fries´ Auffassungen gefunden. Bemerkenswert ist, daß R. Virchow M. J. Schleidens Kritik an der Philosophiefeindlichkeit der Naturwissenschaftler als Gegenreaktion auf die Schellingsche Naturphilosophie verwarf und meinte, mit diesem Bedauern offenbare Schleiden nur seine Abhängigkeit von seinem Lehrer Fries. Vgl. Virchow 1864. In: Sudhoff 1922, S. 35-42 sowie D. v. Engelhardt 1972. In: Querner/Schipperges 1972, S. S. 72.

(160) Z. B. O. Meyerhof war durch L. Nelson (Schüler von J. F. Fries) mit dessen philosophischen Auffassungen vertraut gemacht worden. Einzelheiten vgl. Werner 1995.

(161) Es ist nur ein Brief an Fries nachweisbar.

(162) Vgl. J. F. Fries 1837-1840.

(163) Humboldt 1862, S. 7-8.

 

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