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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ
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1 (2000)
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4. Abkehr und Konflikt?Das Weglassen von Namen und Werk romantischer Naturforscher im "Kosmos" trifft zeitlich zusammen mit einer Zahl kritischer Stellungnahmen Humboldts über seine ehemals sehr geschätzten und verehrten Kollegen. Das ist deshalb so interessant, weil es im Briefwechsel Humboldts mehrere Erwähnungen gibt, die den Schluß zulassen, daß Humboldt die Nennung von Wissenschaftlern und deren Arbeiten in seinem "Kosmos" als besondere Hervorhebung hinsichtlich der Wichtigkeit ihres wissenschaftlichen Beitrags betrachtete. So äußerte er 1846 gegenüber dem Generaldirektor der Königlichen Museen, Ignaz von Olfers, daß er die Arbeiten bestimmter Naturforscher bei der Bearbeitung des Kosmos nicht benutzte.(67) Ähnliche Bemerkungen existieren über F. P. v. Gruithuisen, den er das "Münchner Gräuel" nannte und dem er schon 1834 vorwarf, beschauende statt messende Astronomie zu betreiben.(68) Trotz seiner Ablehnung bewies er großes Geschick in der Argumentation - er sagte seine Meinung, ohne zu verletzen. So versicherte er Gruithuisen einerseits der großen Hochachtung, die seiner "unermüdeten, viel umfassenden Thätigkeit" gebühre, "dem Streben, den geheimnisvollsten Verhältnissen des Erd- und Weltbaues durch Beobachtung und Raisonnement nachzuspüren", und betonte auch, eigentlich den gleichen Ansatz wie Gruithuisen zu haben, in dem sie beide nicht bloß Tatsachen aufspüren wollen, sondern "etwas vom Gesetzlichen [...] erkennen wollten", distanzierte sich aber im selben Satz. Humboldts Ausführungen sind ein Meisterwerk taktischer Vielfalt aus Zustimmung und Distanz:
"Sie und ich, wir suchen ein jeder auf seine Weise nicht bloß Thatsachen aufzuspüren, sondern, was uns wichtiger scheint, etwas von dem Gesezlichen zu erkennen... Sie sind gewiß aus vollem Rechte mit Vielem unzufrieden, was Sie in meinen Schriften finden; warum soll ich daher nicht auch sagen dürfen, daß in vielen Ihrer kühnen Ansichten ich und manche meiner Freunde Ihnen nicht folgen können... Wir suchen alle, was wir für Wahrheit halten, fordern keine Rechenschaft über gegenseitigen Unglauben, und das alles vermindert nicht die Achtung, die dem Talente gebührt. [...] Da ich leider! nicht den Ruf habe, zu den Conservativen zu gehören, so bin ich freilich mit Leo[pold] v[on] Buch, längst meinem alten Lehrer Werner in der Annahme wässriger Basaltniederschläge und anderer Dogmen schismatisch untreu geworden; deshalb glaube ich aber doch gern an hohe Wasserbedeckungen, die einen grossen Druck ausübten, und will nicht zu denen gehören, die über ein Paar Myriaden von Jahrtausenden hebraizant erschrecken, zu dem Institute, das Sie so sinnig die ´grosse Gesellschaft der Enthaltsamkeit von Raum, Zeit, Materie und Begebenheit´ nennen."(69)
Interessant ist es auch, den Wandel in seinen Beziehungen zu C. G. Carus zu betrachten. Bemühte er sich beispielsweise noch 1828 um eine Berufung von Carus nach Berlin, äußerte er sich bereits 1836 abfällig, indem er Carus´ "in Pathos übergehenden Stil, wo materielle Dinge Ideen genannt werden", kritisierte und ihn als unübersetzbar bezeichnete.(70) 1853 ließ er einen Brief von Carus, der das Tischerücken erwähnt, nicht (wie vom Verfasser erwünscht) offiziell in der Preußischen Akademie zirkulieren, sondern unter Kollegen wie Emil Du Bois-Reymond, Heinrich Wilhelm Dove, Johann Christian Poggendorff und Johannes Müller, die sich darüber lustig machten.(71) An Carus schrieb er doppelbödig, er möchte in dieser nüchtern-langweiligen Zeit, in der sie lebten, nicht so harmlose Freuden stören.(72) 1856 gar gab er in einem Brief an Friedrich Wilhelm IV. eine distanzierte Inhaltsangabe über Carus´ Buch "Über Lebensmagnetismus", um den König gegen Carus´ Vorstellungen zu beeinflussen.(73)
Interessanterweise sah Carus einen Zusammenhang zwischen Humboldts Abkehr von der Naturphilosophie, der Arbeit am "Kosmos" und der Beurteilung von ihm ehemals nahestehenden Wissenschaftlern. In seinen "Erinnerungen" stellte er den Gegensatz zu dem früher freundschaftlichen, wohlwollenden und förderlichen Verhalten Humboldts (er bezog sich hierbei auf frühe Briefe Humboldts an ihn) und dessen spätere Äußerungen her.(74) Nun druckte Carus im Gegenzug frühe Briefe Humboldts an ihn ab, in denen sich Humboldt sehr wohlwollend über einzelne seiner Arbeiten äußerte, und stellte dessen Sinneswandel heraus:(75)
"Freilich späterhin, während er selbst in seinen ´Ansichten der Natur´ und seinem ´Kosmos´ sich mit Freude großen allgemeinen Ansichten hingab, war er bei anderen mit Anklagen flüchtig naturphilosophischer Bestrebungen ziemlich schnell bei der Hand und hat auch mich in dieser Beziehung öfters ungerecht beurteilt."(76)
Carus warf ihm vor, Humboldt habe nicht selten übersehen, daß manche seiner von Humboldt sehr gebilligten Gedanken (z. B. über die "Gliederung der Menschheit und Verhältnisse menschlicher Proportionen")
"doch entschieden nur als Folgerungen aus einfachen philosophischen Vordersätzen abgeleitet sein und überhaupt wohl nur dadurch aufgefunden werden konnten".(77)
Carus fühlte sich von Humboldt ungerecht behandelt, meinte sogar, dieser habe ihn, als er ihn der Naturphilosophie verfallen glaubte, mit Sarkasmen und Ironie verfolgt. Carus glaubte an seine eigenen Werke und betonte, er verdanke viele seiner besten Gedanken dieser Naturphilosophie, durch sie habe er, wie er selbst schreibt, den Mut erhalten,
"dem schon damals heftig andrängenden Berliner Materialismus entschieden und anhaltend zu opponieren".(78)
Carus´ Verhältnis zu Schelling war gespalten - während er in seinem Vorwort zu dem 1861 erschienenen Werk "Natur und Idee oder das Werdende und sein Gesetz. Eine philosophische Grundlage für die specielle Naturwissenschaft" seine Abgrenzung von der Schellingschen-Okenschen Schule betonte,(79) bezeichnete er ihn einige Jahre später schon wieder großzügig als "groß und lichtvoll" hervortretenden Geist, dessen schnelle Rezeption allerdings "mannigfaltige Unordnung" und manch "argen Unfug" erzeugt habe, was den Kritikern der Naturphilosophie in die Hände gearbeitet habe.(80)
Carus wollte offensichtlich nicht wahrhaben, daß Humboldt der Naturphilosophie keine inspirierende Wirkung mehr einräumte, an die er früher geglaubt hatte. Wahrscheinlich zog sich dessen "Abkehr" von ehemals ihm wissenschaftlich nahestehenden Gelehrten über mehrere Jahre hin. Ab wann genau Humboldt Zweifel an der Produktivität der Naturphilosophie für die empirischen Wissenschaften hatte und seine Haltung zu Schelling distanzierter wurde,(81) ist nicht genau feststellbar. Er behauptete später, während seiner Vorträge in der Berliner Singakademie, Schellings Auffassungen lobend erwähnt zu haben.(82) Noch 1834 soll Humboldt nach Aussage von Johannes Schulze (83) versucht haben, Schelling für die Berliner Universität zu gewinnen. Eine Äußerung, die dafür spricht, findet sich in einem Brief an Humboldt aus dem Jahre 1835, wo er bekannte, die Absicht zu unterstützen, Schelling nach Berlin zu berufen. Er charakterisierte den Philosophen als den "geistreichsten Mann unseres deutschen Vaterlandes" und bekannte, nie anders als mit den Ausdrücken der Bewunderung über Schelling gesprochen zu haben. Er empfand Schellings Naturphilosophie deshalb als so fruchtbar, weil sie "dem rohen Empirismus", der "nüchternen Anhäufung von Tatsachen" entgegen stehe. Schelling habe nichts zu tun mit den naturphilosophischen Träumereien - diese gehörten nicht ihm, sondern mißverstandenen Lehren an.(84) Allerdings räumte Humboldt 1841 gegenüber seinem Verleger Johann Georg Freiherr von Cotta von Cottendorf ein, geglaubt zu haben, Schelling sei durch Mißbrauch eine Zeit lang von den Versuchen und Erfahrungswissenschaften abgelenkt worden. Auch bemerkte er, Schelling stehe wohl zu hoch, sei zu nachgiebig für individuelle Ansichten, um dem entgegentreten zu können. Er selbst sehe sich außerstande, ihn darauf hinzuweisen. Humboldt schätzte die früheren Verdienste Schellings:
"Ich habe mich nie unfreundlich über die Naturphilosophie des grossen Denkers, wohl aber sonst unfreundlich über den spielenden Misbrauch seiner Ideen in naturwissenschaftlichen Dingen geäußert."(85)
Einige Jahre später, im ersten Band seines "Kosmos", sprach er davon, daß "naturwissenschaftliche Systeme" eine kurze Zeit lang von den Studien mathematischer und physikalischer Wissenschaften abgelenkt hätten. Humboldt sprach vom berauschenden Wahn des errungenen "Besitzes" und bescheinigte den Apologeten eine abenteuerlich-symbolisierende Sprache und einen Schematismus, der enger sei, als ihn das Mittelalter der Menschheit "angezwängt" habe:
"Der Inbegriff von Erfahrungskenntnissen und eine in allen ihren Theilen ausgebildete Philosophie der Natur [...] können nicht in Widerspruch treten, wenn die Philosophie der Natur, ihrem Versprechen gemäß, das vernunftmäßige Begreifen der wirklichen Erscheinungen im Weltall ist. Wo der Widerspruch sich zeigt, liegt die Schuld entweder in der Hohlheit der Speculation oder in der Anmaßung der Empirie, die mehr durch die Erfahrung erwiesen glaubt, als durch dieselbe begründet ward."(86)
Er bescheinigte Schelling nicht nur, daß der Mißbrauch von dessen Ideen zur Naturphilosophie ganz gegen Schellings Absicht war, sondern erwähnte auch noch, daß dies ganz gegen den Rat des "tiefsinnigen Denkers" geschehen sei. Humboldt äußerte sich - sieht man von der Nennung einiger Beispiele ab (s. u. ) - nicht genau über diesen Mißbrauch. In der Korrespondenz mit Wissenschaftlern wie Nees von Esenbeck, dem Zeitgenossen (87) eine solche Fehlinterpretation vorwarfen, finden sich keine genauen Angaben.(88) Hinweise sind dem Briefwechsel zwischen Humboldt und Karl August Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858 zu entnehmen. Auch hier versicherte er in einem Schreiben vom 28. 4. 1841, nicht den Schöpfer der Naturphilosophie anzuklagen (gemeint ist Schelling), andererseits zitierte er ironisch nicht nur Äußerungen von Schellings Anhängern, darunter von Carl Gustav Carus, die er für unwissenschaftlich hielt, sondern griff auch Schelling selbst an, indem er dessen irrige Ansichten zur Meteorologie zitierte und ein unsinniges Gleichnis nannte "Osten ist Sauerstoff, Westen Hydrogen; es regnet, wenn die Ostwolken sich mit Westwolken mischen."(89) Humboldt ging im selben Brief sogar so weit, von einer "bejammerungswürdigen Epoche" zu sprechen, in der "Deutschland hinter England und Frankreich tief herabgesunken" sei.(90) Er wiederholte seine Lieblingsmetapher für den Mißbrauch der Naturphilosophie und wiederholte ein von ihm schon vor Jahrzehnten gebrauchtes Bild - es sei eine Chemie praktiziert worden, "in der man sich die Hände nicht naß macht".(91)
Die Enttäuschung über die Naturphilosophie kommt auch in der Einleitung zum V. Band des "Kosmos" zum Ausdruck, wo Humboldt Schellings Eingeständnis erwähnte, daß die Kraft, die in der ganzen Natur walte und durch welche die Natur in ihrer Identität erhalten werde, noch nicht aufgefunden worden sei und bewertete dies als Versagen einer "Naturphilosophie oder speculativen Physik". In Humboldt reifte die Erkenntnis, daß Naturforschung und naturphilosophische Spekulation dicht nebeneinander lägen, ohne naturwissenschaftliche Gesetzeserkennung wirklich zu fördern.(92) Außerdem bedauerte Humboldt Schellings Abwendung von der Naturphilosophie und seine Hinwendung zur Mythologie, die Humboldt ablehnte. Vermutlich war es dies, was zum Abbruch ihres wissenschaftlichen Austauschs führte. Analysiert man den Briefwechsel in seiner chronologischen Folge, so wird offensichtlich, daß der wissenschaftliche Austausch von Ideen und Informationen nicht mehr stattfand. Humboldt blieb Schelling allerdings auch persönlich verbunden, nachdem dessen Anerkennung in Deutschland nachgelassen hatte. Dafür gibt es zahlreiche Belege - wenn auch manche Angabe widersprüchlich bleibt. So soll sich nach Angaben von Christian Carl Josias von Bunsen Humboldt noch 1834 für Schellings Berufung als Nachfolger Georg Friedrich Wilhelm Hegels nach Berlin eingesetzt haben, als sich dann aber König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen entschloß, Schelling als Vorlesenden tatsächlich nach Berlin zu holen (s. o.), soll Humboldt damit nicht einverstanden gewesen sein. Dem steht gegenüber, daß Schelling und Humboldt privat verkehrten und Humboldt mehr als einmal Schelling um Unterstützung bei der Förderung junger Gelehrter in Anspruch nahm oder mit ihm soziale Allianzen schmiedete. So geht es in den nach 1840 geschriebenen Briefen (93) Humboldts u. a. um die Vermittlung von Kontakten (u. a. für den französischen Kollegen Stanislas Aignan Julien, der gern Schelling sprechen wollte und einen Verleger für die französische Übersetzung seines Werkes in Deutschland suchte. Schelling half mit Empfehlungen.(94) Ein Schwerpunkt des Briefwechsels war die Wahl der Ritter des Ordens "Pour le mérite". Humboldt, der vom 31. Mai 1842 bis zu seinem Tode Ordenskanzler der Friedensklasse (95) war, erklärte sich bereit, gleich Schelling für die Aufnahme des Kunsthistorikers Sulpiz Boisserée in den Orden zu stimmen, andererseits bat er ihn nach dem Tode des Mathematikers Carl Gustav Jacob Jacobi und des Botanikers Heinrich Friedrich Link, als zwei Mitglieder zugewählt werden durften, um Unterstützung seiner eigenen Kandidaten.(96) Humboldt hatte zwar zugesagt, für den von Schelling favorisierten Dichter und Philosophen Karl Friedrich Werder zu stimmen, konnte jedoch am Tage, als dies verhandelt wurde, an der Sitzung nicht teilnehmen.(97) Humboldt ging sogar soweit, Schelling bei der Nachwahl für Link und Jacobi um Unterstützung für die Wahl des Anatomen Friedrich Tiedemann und von Schellings Feind J. v. Liebig zu bitten. Die Begründung, die Humboldt gegenüber Schelling gab, ist in zweierlei Hinsicht interessant: erstens betonte er gerade am Beispiel von Link und Jacobi die Notwendigkeit, nach deren Tod endlich experimentierende Naturwissenschaftler für den Orden zu gewinnen, andererseits setzte er sich mit Liebig für einen erklärten Gegner Schellings ein. Schelling war zunächst einverstanden, zog dann aber seine Zustimmung zurück, weil sein Schwiegersohn, ein Landwirt, sich über Liebigs stinkenden und angeblich ganz unwirksamen künstlichen Guano-Dünger beschwert habe.(98) Sowohl Tiedemann als auch Liebig, der sich von Schelling distanziert hatte, wurden mit Wirkung vom 31. 5. 1851 in den Orden aufgenommen.
Der Briefwechsel zwischen Humboldt und Schelling ist der zwischen zwei Männern, die sich gegenseitig respektieren und verehren. Wissenschaftliche Fragen spielten in den vierziger Jahren nur noch am Rande eine Rolle - zuweilen machte sich Humboldt über die von ihm abgelehnten Auffassungen Schellings zur schon erwähnten "Offenbarungstheorie" und "Mythologie" (s. o. ) lustig - so gebrauchte er Schellingsche Begriffe charmant-ironisch und trieb Wortspiele mit "Offenbarung" und "Unoffenbarung".(99) Beispielsweise meinte Humboldt, er werde sehen, ob es ihm möglich sei, sich "unoffenbart" in den sicheren beruhigenden Hafen von Schellings Offenbarung zu retten. 1854 schickte er Schelling im Nachgang zu einem Gespräch zwei seiner "fünf Bände über Christoph Kolumbus" und wies ihn auf die im Gespräch erwähnten Stellen hin.(100) In allen diesen Briefen sprach Humboldt gegenüber Schelling von seiner großen Anhänglichkeit und Verehrung ihm gegenüber (u. a. Juni-Juli 1854), am 13. September 1849 sagte er gar:
"Einem grossen und edeln Charakter, wie dem Ihrigen, genügen die Worte, daß Ihre so herzlichen Wünsche mir eine innige und lang dauernde Freude bereitet haben. Es ist etwas schönes und mächtig wirkendes in dem Bewußtsein, in dem lebendigen Andenken des ersten unter den tiefsinnigen seiner Zeit einen Platz sich verschafft zu haben."(101)
Daß Humboldts Verhalten gegenüber Schelling nicht bloßer Freundschaft und Toleranz entsprang, belegen Äußerungen gegenüber Dritten, so zu August Böckh im Jahre 1843, in der Humboldt seine Haltung gegen den Philosophen nicht mit Wohlwollen begründete, sondern mit List und Schonung für den verstorbenen Hegel.(102) Nicht nur taktische Überlegungen in bezug auf andere Wissenschaftler wie Hegel spielten bei Humboldt eine Rolle, sondern er bedachte ganz sicher auch die guten Beziehungen Schellings und anderer romantischer Naturphilosophen zum Königshaus. Daß Humboldt dies im Blick hatte, beweist dessen etwas bissige Bemerkung gegenüber Varnhagen:
"Ich hatte Veranlassung, in Potsdam, da er es forderte, dem König Schelling´s Rede über die Natur und Kunst (Philosoph[ische] Schriften Thl. I. 1809) vorzulesen. Die Stellen über Raphael, Leonardo da Vinci und die Möglichkeit einer erneuerten Blüthe der Kunst gehören zu dem Anmutigsten, was unsre Sprache gewährt. Die Vorlesung machte auf den König den Eindruck eines schönen Gesanges. Der Vogel ist es siebenundsechzig Jahre alt, und kommt aus einem goldenen Käfig in einen anderen."(103)
Auf die guten Beziehungen der Anhänger der romantischen Medizin und Naturwissenschaften zu den Regierenden haben schon andere Autoren hingewiesen, von Engelhardt spricht sogar vom Kontakt zu hohen und höchsten Kreisen als auffallendem sozialpsychologischem Charakteristikum dieser Mediziner. So waren beispielsweise C. G. Carus und K. J. H. Windischmann Leibärzte des sächsischen Königs bzw. des Kurfürsten von Dalberg. Mehrere Bekannte bzw. Briefpartner Humboldts verkehrten am Hofe, darunter der Philosoph Henrich Steffens,(104) es gibt zahlreiche biographische Verflechtungen, so kannten sich auch Israel Stieglitz und Wilhelm von Humboldt - I. Stieglitz hatte ihm sogar einmal das Leben gerettet, als er zu ertrinken drohte.(105)
Humboldt bedauerte sehr Schellings Hinwendung zu religiösen Themen, wie es für diese Zeit typisch war. 1854 konstatierte er bitter, daß Wissenschaft und Kunst in dieser Zeit einen großen Verlust erlitten hätten - Schelling, vor fast zwanzig Jahren der größte Name in Deutschland, habe sein System seitdem modifiziert, sich der pietistischen "Philosophie der Offenbarung" angepaßt (106)/(107) und damit sich selbst vernichtet, weil er Dinge mischen wollte, die sich fremd seien und besser getrennt bleiben sollten, historisches Christentum und Metaphysik.(108) Die Vorlesungen Schellings zur "Philosophie der Offenbarung"(109), mit deren Veröffentlichung 1841 begonnen wurde, sollen bei Humboldt die Abneigung gegen die Person des Philosophen verstärkt haben (110) - überliefert sind zahlreiche bissige Bemerkungen. So meinte er 1841 während einer Abendgesellschaft beim russischen Gesandten, "Herr von Schelling" scheine in Berlin so viel Einfluß zu haben, als der neue Bischof in Jerusalem sich bei den Juden versprechen könne.(111) Auch anderen Personen gegenüber drückte er sein Unbehagen über Schellings neues Thema aus. Gegenüber dem Berliner Philosophen Carl Ludwig Michelet bekannte er, er sei weit davon entfernt, die "Natur des Geistes" aus dem Bereich der erkennbaren Natur auszuschließen, habe den größten Schauder, wenn er den "Hang neuerer Zeiten", nämlich wie sich die Philosophie einem anderen Gebiete, dem der historischen Mythen und des Christentums "anschmiege".(112)
Anmerkungen:
(67) Diese Bemerkung bezog sich auf C. G. Carus. Vgl. Brief A. v. Humboldt an I. v. Olfers, ohne Tages- und Monatsangabe, 1846. Vgl. Olfers 1913.
(68) Brief A. v. Humboldt an J. F. Encke ohne Monatsangabe, 1834, ABBAW Encke, Berlin I, Nr. 168. Man kann solche Bekenntnisse wegen ihrer Situationsbedingtheit nicht immer ernst nehmen, zumal Humboldt von diesen Vorsätzen zuweilen abwich und beispielsweise doch auf Carus verwies. Humboldt erwähnte im ersten Band Carus mit seinem 1828 erschienenen Werk über die "Ur-Theile des Knochen- und Schalengerüsts". Im zweiten Band nahm er Bezug auf Carus, als er über Gemütsstimmungen schrieb, welche durch Landschaftsmalerei hervorgerufen werden.
(69) Brief A. v. Humboldt an F. v. Paula Gruithuisen vom 2. 10. 1844, Bayerische Staatsbibliothek, München, Gruithuisiana 62 (V).
(70) Vgl. Brief A. v. Humboldt an Chr. G. Ehrenberg ohne Monatsangabe, 1836, NL Ehrenberg, ABBAW, Nr. 81.
(71) Einzelheiten vgl. Biermann/Schwarz 1996.
(72) Vgl. Brief A. v. Humboldt an C. G. Carus vom 11. 2. 1853. Vgl. Schwarz/Wenig 1996, S. 178.
(73) Vgl. Brief A. v. Humboldt an Friedrich Wilhelm IV. Ohne Tages- und Monatsangabe, 1856. In: Müller 1928, S. 285-287.
(74) Die 1928 gedruckten Briefe "Alexander von Humboldt und das Preußische Königshaus. Briefe aus den Jahren 1835-1857", lassen große Distanz zwischen A. v. Humboldt und C. G. Carus erkennen. Vgl. Müller 1928.
(75) Er erwähnte auch spätere Briefe mit freundlichen, sehr allgemein gehaltenen Bemerkungen Humboldts über seine wissenschaftlichen Ansichten. Er bemerkte, er habe früher aus diesen Briefen entnommen, daß unter seinen, Carus´, späteren größeren Arbeiten auch andere einen tieferen Eindruck hinterlassen hätten. Carus kam aber nun zu folgender verbitterten Einschätzung: "Übrigens blieb, sobald man sich etwas mehr mit seiner Art des Urteils vertraut gemacht hatte, es doch meist sehr geeignet, dasselbe stets nur mit einer gewissen Reserve aufzunehmen." C. G. Carus zitiert nach Zaunick 1931, S. 88.
(76) Ebenda, S. 80.
(77) Ebenda.
(78) Ebenda.
(79) Vgl. C. G. Carus 1861. Darauf weist bereits Kristian Köchy (vgl. Köchy 1997, S. 72).
(80) Ebenda, Bd. 1, S. 66ff.
(81) Der Briefwechsel zwischen Humboldt und Schelling ist leider nur lückenhaft erhalten geblieben - so ist zwischen 1806 und nach 1840 keine Korrespondenz überliefert.
(82) In der 1993 erstmals veröffentlichten Vorlesungsmitschrift (Vgl. Hamel/Tiemann 1993) findet sich kein Hinweis darauf. Entweder wurde Schelling bei der Niederschrift weggelassen oder es handelt sich um eine Zweckbehauptung Humboldts.
(83) Vgl. Äußerung von Johannes Schulze, o. D., vgl. Tilliete 1974, S. 424-425. Schulze war ab 1818 Vortragender Rat im Ministerium für Kultus-, Unterrichts- und Medizinalwesen in Berlin, bearbeitete bis zum Tode des Ministers Altenstein die Angelegenheiten des Schulwesens, dann die Universitätssachen. Es existiert eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Humboldt und ihm, es konnte aber bisher in den Briefen von A. v. Humboldt an J. Schulze kein Hinweis dafür nachgewiesen werden, daß sich Humboldt für Schelling verwendet hat. Dasselbe gilt für die Korrespondenz mit K. Freiherr von Stein zum Altenstein.
(84) Vgl. Brief A. v. Humboldt an C. C. J. v. Bunsen vom 22. 3. 1835, Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 92, von Bunsen, Nr. 19. Es gibt in diversen Briefen an unterschiedliche Korrespondenzpartner ähnliche Bemerkungen. So verweist Ilse Jahn (vgl. I. Jahn, 1969, S. 148) auf einen entsprechenden Brief Humboldts an seinen langjährigen Reisegefährten G. Ehrenberg aus dem Jahre 1836.
(85) Brief A. v. Humboldts an J. F. Cotta v. Cottendorf vom 15. 3. 1841, DLA Marbach.
(86) Vgl. A. v. Humboldt 1845, S. 69.
(87) Vgl. Löw 1977, S. 295.
(88) Mit Nees von Esenbeck, der Präsident der Leopoldina war und wegen diplomatischer und politischer Aktivitäten wegen von allen Ämtern suspendiert worden war, tauschte sich Humboldt nur in sehr früher Zeit über wissenschaftliche Fragen aus und dankte für dessen Arbeiten, für die er unverbindlich-freundliche Worte fand - später schmiedete er mit Nees von Esenbeck soziale Netzwerke. Auch in anderen Briefen an die genannten Korrespondenzpartner finden sich darüber keine Bemerkungen.
(89) Brief von A. v. Humboldt an K. A. Varnhagen von Ense vom 28. 4. 1841. In: Assing 1860, S. 48.
(90) Ebenda.
(91) Ebenda.
(92) Diese Unterschätzung der anregenden Rolle der Naturphilosophie wurde erst ab etwa 1930 aufgegeben und wich einer differenzierteren Beurteilung.
(93) Ohne Datumsangabe.
(94) Brief F. W. J. Schelling an A. v. Humboldt vom 9. 3. 1850, ABBAW, NL Schelling, Nr. 825.
(95) Vgl. Lehmann 1913.
(96) Vgl. Brief A. v. Humboldt an F. W. J. Schelling vom 1. Dezember 1851, ABBAW, NL Schelling, Nr. 357.
(97) Vgl. Brief A. v. Humboldt an F. W. J. Schelling o. D., in stiller Nacht, ABBAW, NL Schelling, Nr. 357. Dies trübte offensichtlich das Verhältnis zwischen Humboldt und Werder nicht - aus einem Brief Werders vom 11. 11. 1854 an Humboldt geht hervor, daß Humboldt ihm gegenüber seine gute Absicht bekundet hatte, ihm Aussichten eröffnete und einen Platz in seinem Gemüt versprach. Vgl. Brief K. F. Werder an A. v. Humboldt vom 11. 11. 1854, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, acc. Darmst. 1927, 2ax 1875 (V).
(98) Vgl. Scurla 1980, S. 316 - 317. Scurla wertete das Verhalten Schellings m. E. etwas einseitig als selbstgefällige Überheblichkeit von Philosophen gegenüber Naturwissenschaftlern, ohne frühere Kontroversen zu erwähnen.
(99) Diese Bemerkungen bezogen sich auf Schellings Vorlesungen in Berlin zum Thema "Mythos und Offenbarung", denen Humboldt kritisch gegenüberstand.
(100) Vgl. Brief A. v. Humboldt an F. W. J. Schelling vom 5. Juni 1854, ABBAW, NL Schelling, Nr. 357.
(101) Brief A. v. Humboldt an F. W. J. Schelling vom 13. September 1849, ABBAW, NL Schelling, Nr. 357.
(102) Vgl. Brief A. von Humboldt an A. Böckh, o. D., 1843. In: Tilliete 1974, S. 487.
(103) Brief A. v. Humboldt an K. A. Varnhagen von Ense (wahrscheinlich vom April) 1841. In: Assing 1860, S. 46. Das Datum ist in der Ausgabe mit 22. Dezember 1841 angegeben, was aus inhaltlichen Gründen falsch sein muß.
(104) Steffens bekannte in einem Brief vom September 1799 an Schelling, von A. v. Humboldt anregt worden zu sein (vgl. Brief H. Steffens an F. W. J. Schelling vom September 1799. In: Fuhrmanns 1962-1975, S. 193-198). Dies betraf seine Versuche zur Meteorologie, in denen er sich auf Humboldt stützte (ebenda, S. 195) sowie die Tatsache, daß er sich ein Humboldtsches Eudiometer besorgte (ebenda, S. 196). Allerdings wies er bereits 1799 auf Diskrepanzen mit Humboldt hin, der "nicht die Wichtigkeit dieser Versuche einsah", die Steffens als so bedeutend erschienen (ebenda, S. 196).
(105) Vgl. u. a. Brief A. v. Humboldt an K. A. Varnhagen von Ense vom 4. 10. 1837 sowie vom 7. November 1837. In: Assing 1860, S. 24 und 25-26.
(106) Wie Vorlesungsmitschriften (z. B. "Über das Evangelium Johannes", "Über die kleinen Propheten", "Aufzeichnungen über den Römerbrief") bzw. Eintragungen von Schelling in Jahreskalender belegen, wandte er sich spätestens ab 1828 über einen Zeitraum von mindesten 20 Jahren der Theologie zu. Vgl. ABBAW, NL Schelling, Nr. 50-54.
(107) Wahrscheinlich meinte Humboldt "Pietismus" in des Wortes ursprünglicher theologischer Bedeutung. Daß es aber mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt, beweist eine Passage aus Bismarcks Gedanken und Erinnerungen (vgl. Bismarck 1921, Bd. II, S. 319) in denen er den Kronprinzen von Preußen mit dem Hinweis zitierte, ein Pietist sei ein Mensch, der in der Religion heuchele, um Karriere zu machen.
(108) Vgl. Brief A. v. Humboldt an A. v. Hedemann vom 15. 9. 1854, DLA Marbach.
(109) Schelling hatte nach seiner Berufung als "lesendes Akademiemitglied" Vorlesungen über "Philosophie der Mythologie und Offenbarung" gehalten, die von dem Theologen Heinrich Eberhard G. Paulus ohne die Genehmigung Schellings herausgegeben wurden. Dies führte zu einem längeren Rechtsstreit zwischen beiden.
(110) Horst Fuhrman, Herausgeber der Werke Schellings, sprach in einem Brief an die Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle vom 1. 8. 1959 sogar von einer Gegnerschaft Humboldts gegenüber Schelling. Er teilte mit, Anlaß sei Schellings "Philosophie der Offenbarung" gewesen. Fuhrmann betonte, daß es Humboldt ärgerte, in der Öffentlichkeit immer mit Schelling in einem Atemzug genannt zu werden (die beiden "Fürsten des Geistes" usw.) Angeblich soll es Humboldt auch nicht gern gesehen haben, daß Schelling unter den ersten Trägern des neugegründeten Ordens "Pour le mérite" war. Leider blieb Fuhrmann Quellennachweise schuldig. A. Gulyga schildert in seiner Monographie, Humboldt habe die am 15. November 1841 stattgefundene erste Vorlesung Schellings in Berlin zum Thema "Philosophie der Offenbarung" angehört. Vgl. Gulyga 1989, S. 358.
(111) Vgl. Varnhagen 1861, S. 380.
(112) Brief A. v. Humboldt an C. L. Michelet, 31. 3. (?) 1841. In: Michelet 1884, S. 48.