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Stand: 12. August 2005
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„Entziehen Sie uns nicht Ihren Rath.“

Eine Studie zum Briefwechsel Alexander von Humboldts mit den Ehefrauen berühmter Gelehrter.

 

Ina Lelke (Ina.Lelke@berlin.de)

 

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2. Unsichtbare Gehilfen im Bereich der Astronomie

Anhaltspunkte auf Mitarbeit ergaben sich besonders in Hinblick auf die untersuchten Astronomenfamilien. Damit scheint sich ein weiteres Mal die These Londa Schiebingers zu bestätigen, dass die Nähe dieser Wissenschaft zur Handwerkstradition und der häusliche Ort der astronomischen Observationen, die Beteiligung von Frauen begünstigte (Schiebinger 1993, S. 143ff.). Doch zunächst möchte ich die einzelnen, von mir untersuchten Fallbeispiele vorstellen, um dann anschließend zu überprüfen, inwieweit sie möglicherweise über Schiebingers Ergebnisse hinausgehen.

 

2.1. Familie Mädler | 2.2. Familie Arago | (zum Anfang)

 

2.1. Familie Mädler

Nach 1840 (die Datierung ist nachträglich vorgenommen worden) richtete Alexander von Humboldt zwei Briefe an die Familie des Astronomen Johann Heinrich Mädler. Beide Briefe enthalten keine direkten Anreden. Jedoch ist der eine Brief an die „Frau Staatsräthin Minna Mädler“, die Ehefrau des Astronomen, adressiert. Alexander von Humboldt bittet darin: „[....] Ihnen, Gnädigste einmal wieder persönlich meine Verehrung bezeigen zu können; durch Sie Nachricht von meinem vortreflichen Freunde zu erhalten [...] Möchten Sie Sonnabend um 2 Uhr frei sein u. mich beglücken.“[1] Der andere Brief lässt anhand seiner Grußformel erkennen, dass er an den Ehemann gerichtet ist: „Empfangen Sie und die geistreiche Frau Directorin den erneuerten Ausdruk meiner innigsten Verehrung und Hochachtung.“[2] Doch der Inhalt des Briefes bezieht sich auf ein Werk, dessen sich die Schwiegermutter Mädlers rühmen durfte und das einen Grundstein der Mädlerschen Karriere bilden sollte. Dazu später mehr.

Woher resultierte das Interesse Alexander von Humboldts für diese beiden Damen? Auf den ersten Blick scheint es, als wäre es ihm vor allem um seinen „vortreflichen Freunde“ gegangen. Humboldt kannte Mädler noch aus dessen Berliner Zeit. Geboren in Berlin, strebte Johann Heinrich Mädler das Lehramt an und veröffentlichte ein Lehrbuch der Schönschreibekunst. Seine astronomischen Kenntnisse hatte er autodidaktisch erworben. Die Laufbahn als Gelehrter wurde durch eine folgenreiche Begegnung mit Wilhelm Beer, der zu seinem Gönner avancierte, eingeleitet. Die spätere Ehefrau Mädlers setzte dieser Begegnung in einer Publikation zur Biographie ihres Mannes ein Denkmal: „Als Hülfsarbeiter bei der Königlichen Sternwarte in Berlin, kam er mit dem Kommerzienrat Wilhelm Beer in Berührung. Beer ließ sich von ihm in die Geheimnisse der höheren Mathematik und Astronomie einweihen, und fasste bald ein solches Interesse namentlich für letztere Wissenschaft, dass er in seiner Villa im Thiergarten sich seine eigene Sternwarte herrichtete, sie mit ausgezeichneten Instrumenten versah, und so Mädler in den Stand setzte, in seinen Mußestunden nun auch die Astronomie praktisch zu betreiben. Man weiß mit welchem glänzenden Erfolg dies geschah. [...] Während die Resultate der letzteren Beobachtungen hauptsächlich in den astronomischen Nachrichten mitgeteilt wurden, benutzten Beer und Mädler das reiche in 600 Nächten durch Beobachtung des Mondes gewonnene Material 1834 zur Herausgabe ihrer berühmten Mappa selenographica, welche in 300facher Vergrößerung die Mondoberfläche mit soviel Einzelheiten darstellt, wie etwa eine auf einem Quartblatte dargestellte Karte von Frankreich aufzeigen würde.“ (Mädler 1888, S. 145)

Über diese Arbeiten trat Mädler in Briefwechsel mit Gauß, welcher ihn als Direktor für „eine der erledigten Sternwarten“, genaugenommen für das Dorpater Observatorium vorschlug (Zit. nach: Eelsalu/ Herrmann 1985, S. 32). Mädler erhielt diese Stelle und am 18. Juni 1840 sogar eine ordentliche Professur an der Universität in Dorpat. Vor seinem Weggang aus Berlin war es ihm aber noch gelungen, wichtige Verbindungen mit den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit zu knüpfen. So gründete er im Jahr 1828, inspiriert von den Kosmos-Vorlesungen, gemeinsam mit seinem Gönner, Wilhelm Beer sowie mit Zeune, Chamisso, Alexander von Humboldt, Lichtenstein und Ritter den Verein für Erdkunde (Mädler 1888, S. 150).

Abgesehen von der Bekanntschaft mit Beer erlebte Mädler aber noch eine weitere in bezug auf seine Profession folgenreiche Begegnung. Bei einem Besuch der Pyrmonter Naturforscherversammlung (September 1839) traf er auf Wilhelmine Witte, seine zukünftige Schwiegermutter. Dieses Treffen war nicht ganz zufällig, Frau Witte aus Hannover hatte es selbst lange vorbereitet. Sie beabsichtigte, ihr eigenes Werk zu präsentieren. Als Hofrätin und „Mutter einer zahlreichen Familie“ hatte sie schon früh „Neigung zu den Studien und namentlich der Mathematik gezeigt, mit der sie sich, auch in den höhern Theilen derselben, hinreichend vertraut machte.“ (Mädler 1862/63, S. 396) Und weiter heißt es in der Darstellung Mädlers über berühmte Astronominnen, zu denen er u.a. neben Mary Somerville und Karoline Herschel – die selbst zu astronomischen Fragestellungen publiziert hatten – die eigene Schwiegermutter zählte: „Als lohnendste Anwendung derselben [der Mathematik – d.R.] erschien ihr die Astronomie, die fortan ihr Lieblingsstudium bildete. In ihrer Vaterstadt stand sie in dieser Beziehung allein und war auf sich selbst und die sich immer reicher entfaltende Literatur angewiesen [...] Wilhelmine Witte besaß ein achromatisches Fernrohr, mit dem sie namentlich den Mond fleißig beobachtete und endlich auf die Idee gerieth, aus den vorhandenen Mondkarten mit Zuziehung ihrer eigenen Beobachtungen eine Reliefkugel des Mondes zu bilden.“ (Ebenda) Diese Reliefkugel gelang Wilhelmine Witte jedoch vollends erst unter Einbezug der großformatigen Mädlerschen Mondkarten. Als Autodidaktin hatte sie aber bislang keinen privaten Gönner oder Förderer finden können. Doch die Naturforscherversammlung bot ihr nun endlich einen guten Anlass, um die Mondhalbkugel (Durchmesser ca. 30 cm) einem gelehrten Publikum vorzustellen – und Mädler war begeistert. In dem Astronominnen-Artikel würdigte der Verfasser, indem er sein eigenes Urteil einfließen ließ, diese Leistung wie folgt: „Hier war nicht die Rede von einer bloß fleißigen und mühsamen Dilettantenarbeit, wie er es allenfalls erwartet hatte; hier lernte er eine Meisterin kennen, die mit gerechtem Stolz auf ihr schönes Werk blicken konnte. Von der Naturforschersammlung in Pyrmont kam dieser Globus nach Berlin, wo ich ihn mehreren Gliedern des preußischen Königshauses vorzuzeigen die Ehre hatte. Humboldt, der ihn bei mir sah, erklärte, dass ein solches Werk Berlin nicht wieder verlassen dürfte, und auf seinen Vorschlag kaufte ihn der König Friedrich Wilhelm IV. für die dortigen Kunstsammlungen.“ (Ebenda, S. 397)

Eben dieses Engagement dokumentiert einer der von mir untersuchten Briefe Alexander von Humboldts. Es heißt darin: „Der König hat mir gestern Abend ,bei Mädlerschem Mondschein’ auf einer nächtlichen Wasserfahrt, mit vielem Interesse von dem beschlossenen Ankauf des herrlichen Mondglobus der Frau Hofräthin W. gesprochen. Er wünscht, da Er für viele Bedürfnisse jezt gleichzeitig sorgen muss, dass die Beleuchtungskosten Ihres Mondes 200 Friedrichs d’or nicht übersteigen mögen.“[3] Humboldt war also an der Würdigung des Witteschen Werkes wesentlich beteiligt, auch wenn er sich in dem Brief nur an den Schwiegersohn wandte.

Für Mädler war das Mondrelief ein Hilfsmittel von wissenschaftlicher Qualität. Er trug darüber nicht nur in Pyrmont vor, sondern noch 1857 auf der in Bonn stattfindenden Naturforscherversammlung. Zur Bedeutung des Reliefs hielt er fest: „ Ich habe mich [...] durch genaue Prüfung überzeugt, dass hier wirklich allen Anforderungen der Kunst und Wissenschaft entsprochen und dass die Treue der Nachbildung unübertrefflich ist. Da durch eine leichte und einfache Vorrichtung der Globus in jede Lage gebracht und erhalten werden kann, so richtete ich ihn gegen die Sonne, produzierte so beliebig alle Phasengestalten und betrachtete ihn nun aus einiger Entfernung durch ein Fernrohr, wo ich zu meiner freudigsten Überraschung alle Schattenkonturen, abgetrennte Lichtinseln u. dgl., wie sie mir durch meine zahlreichen Mondbetrachtungen sehr gut erinnerlich waren, wiederfand [...]. Es hat also nun die Plastik ausgeführt, was die Grafik nicht vermochte: wir können alles auf unserem Nachbarplaneten Erkennbare nun buchstäblich mit Händen greifen, und gelingt eine Vervielfältigung dieser Arbeit durch Abdrücke [...], so besitzt das Publikum ein Werk, das man vielleicht noch vor einem Jahrzehnt für unausführbar betrachtet hätte [...].“ (Zit. nach: Eelsalu/ Herrmann 1985, S. 31)

Die Vervielfältigungen gelangen, Modelle der Mondhabkugel gingen in den Besitz der Kunstkammern Georgs V. sowie in den Besitz John Herschels über. Wilhelmine Wittes Leistung wird in biographischen Ausführungen über Johann Heinrich Mädler als wichtiger Abschnitt seiner professoralen Karriere angeführt.

Das Leben der Ehefrau Mädlers, welches sich ebenfalls in sein Werk einordnete, ist ohne diese etwas längere Vorgeschichte nicht ausreichend zu verstehen. Sie ist nämlich ein Indiz dafür, dass Minna Witte nicht ganz ohne astronomische Vorkenntnisse die Ehe mit Johann Heinrich einging. Auf der Pyrmonter Naturforscherversammlung erwarb Mädler nämlich nicht nur den spektakulären Mondglobus, sondern gleichzeitig eine zukünftige Assistentin und Lebenspartnerin.

Nach der Begegnung mit Hofrätin Witte, die auf ihrer Reise von ihrer Tochter Minna begleitet worden war, hielt der Gelehrte sogleich um deren Hand an. Der Öffentlichkeit war Minna Witte bereits durch den Gedichtband „Lilli“, den sie mit 16 Jahren publiziert hatte, bekannt. „Die 1000 Stück umfassende Auflage dieses Bändchens war innerhalb von 8 Tagen vergriffen. Auch später trat sie mit verschiedenen Dichtungen hervor.“ (Ebenda) Die öffentliche Wertschätzung als Dichterin verdeckt aber, dass Minna Mädler ihr Talent und ihre im Hause Witte erworbenen Fähigkeiten auch dazu nutzte, um sich gemeinsam mit dem Ehemann auf dem Feld der Astronomie zu betätigen. Sie begleitete ihren Mann auf fast allen seinen zahlreichen Reisen. In einem Brief heißt es, dass ein „Herr von Rennenkampf“, ein Liebhaber der Astronomie, „bei der letzten totalen Sonnenfinsternis in Spanien nebst Frau Minna Herrn Mädler assistierte [...]“ (Ebenda, S. 72). Mädler bezeichnete sie selbst als „ma femme m’accompagnera“ (Zit. nach: Ebenda, S. 66). Die Spanien-Expedition wertete der Astronom in verschiedenen Artikeln aus, dazu fügte er als Beilagen die Beobachtungsberichte bei, die der Diener seiner Sternwarte und die seine Ehefrau verfasst hatten (Ebenda). In dem 96 Seiten umfassenden Gesamtbericht über die beobachtete Sonnenfinsternis befand sich unter den Zeichnungen eine eigene und eine von der Hand seiner Frau (Ebenda, S. 67). So konnte der Kurator des Dorpater Lehrbezirks mit Recht über Minna Mädler behaupten: „Sie half ihm auch bei seinen astronomischen Arbeiten [...].“ (Zit. nach: Ebenda, S. 73) Diese Tatsache mag zwar zunächst erstaunen, denn Mädler stand an der Dorpater Sternwarte ein eigenes Dienstpersonal zur Verfügung. Doch seine weitläufigen Reisen mögen es mit sich gebracht haben, dass er auf eine vertraute Person angewiesen war, welche die Möglichkeit hatte, ihn jederzeit begleiten zu können. Davon abgesehen, übernahm Minna Mädler auch andere Aufgaben, die ihrem dichterischen Talent näher lagen. Schon der Mathematiker C. G. J. Jacobi äußerte über den Dorpater Professor etwas spitz: „[...] die Reden macht ihm seine Frau, die hannöversche Sappho.“ (Zit. nach: Ebenda, S. 72) Auf der Bremer Naturforscher-Versammlung von 1844 sollte diese Zuarbeit deutlich werden. In Bremen hatte sich einige Zeit zuvor ein Olbers-Verein gegründet, der dem 1840 verstorbenen Gelehrten ein Denkmal errichten wollte. Mädler berichtete über die Versammlung: „Am 21. September nach einem von mir gehaltenen astronomischen Vortrage, an dessen Schluss ich auch der Verdienste Wilhelm Olbers’ erwähnte, forderte mich der Senat der Stadt und der Vorstand des gedachten Vereins auf, die Einweihungsrede auf dem zur Aufstellung des Denkmals eingerichteten Platze [...] zu halten. Gern entsprach ich diesem Begehren und schloss meine Rede mit dem Gedicht, welches meine auf dieser Reise mich begleitende Gattin auf meine Bitte niederschrieb [...]. Gegen 5000 Zuhörer aus allen Ständen wohnten in lautloser Stille der Feierlichkeit bei.“ (Zit. nach: Ebenda, S. 61) Minna Mädler erhielt dafür, möglicherweise aber auch für weitergehende Verdienste, eine Medaille, die der Enkel von Olbers (Dr. W. Pocke) überreichte. Anlass und Bedeutungsgehalt dieser Ehrung müssten noch einmal eingehender untersucht werden. Minna Mädler nahm übrigens eine Publikation dieser Verse vor, sie erschienen in der Gedichtsammlung von 1848 unter ihrem eigenen Namen (Mädler 1848, S. 118f.). Alexander von Humboldt bezeichnete die Ehefrau Mädlers in einem Brief auch als dessen „kluge Lenkerin“.[4]

Da die Eheleute so eng zusammen arbeiteten und Mädler durchaus gern mit den Worten seiner Frau an die Öffentlichkeit trat, ist letztendlich der Anteil Minna Mädlers schwer bzw. kaum noch zu eruieren. Schließlich wurden ihre Leistungen nicht immer so auffällig geehrt wie in Bremen. Meines Erachtens ist daher auch die Autorschaft des Astronominnen-Artikels Johann Heinrich Mädlers mit Vorsicht zu betrachten. Sicher mögen ihn seine Erfahrungen dazu bewegt haben, den Anteil von Frauen an der von ihm betriebenen Wissenschaft zu würdigen. Doch nach dem wenigen, was bisher über Minna Mädler bekannt ist, lässt sich ein Interesse an diesem Thema von ihrer Seite kaum ausschließen. Berücksichtigt man auch das später einsetzende wissenschaftshistorische Interesse Mädlers, so muss doch davon ausgegangen werden, dass seit der Eheschließung die meisten Arbeiten kollaborativ entstanden. Sie waren eben keine „Einzelleistungen“. Auffällig ist, dass in dem Astronominnen-Artikel die Verdienste Karoline Herschels geschildert werden, die der damals noch unverheirateten Minna ein Gedicht über Herschels Teleskop verehrte, sowie die Verdienste Wilhelmine Wittes (Mädler 1862/63, S. 392f. sowie S. 396ff.). Gewöhnliche Ressentiments gegenüber dem anderen Geschlecht versucht der Artikel konsequent zu widerlegen. Auf die Frage: „Und sollen wir uns noch auf den andern Vorwurf einlassen, dass ernste Wissenschaft die häuslichen Pflichten des Weibes in den Hintergrund treten lasse und zu deren Vernachlässigung führe?“ wird folgende Antwort gegeben: „Wir wissen nicht anzugeben, welches Vorbild Schiller bei seiner ,berühmten Frau’ im Auge hatte, das aber wissen wir, dass keine Astronomin ihm dabei gesessen habe. Der Verfasser, dem ein günstiges Geschick vergönnt hat, die persönliche Bekanntschaft von mehr als einer dieser Zierden ihres Geschlechts zu machen, kann nur den Wunsch hegen, dass es auch in der Häuslichkeit aller nichtwissenschaftlichen Frauen so wohl bestellt sein möge als bei denen, die der Pflege ihres Geistes in der oben geschilderten Weise oblagen.“ (Ebenda, S. 398) Deutlich benannt wird, warum so viele Frauen einen Zugang zur Astronomie finden konnten, trotz der so schwierigen „astronomischen Berechnungen“: „Denn eine Vertrautheit mit diesen macht erst aus dem bloßen Beobachter den wahren Astronomen; erst der strenge Calcul kann die Sicherheit gewähren, die insbesondere unsere neuere Astronomie auszeichnet, und eine richtige Beurtheilung und Würdigung des Gesehenen ermöglichen.“ (Ebenda) Voraussetzung astronomischen Arbeitens ist also gerade die Vertrautheit mit den Berechnungen. Abschließend weiß der Artikel den Frauen sogar eine Fähigkeit zuzuschreiben, die quasi ,medizinisch’ belegt sei und die sie in besonderer Weise dazu prädestinieren würde, die Forschungsdesiderate der neueren Astronomie einzulösen: „Schon die alten Maler haben es erkannt, dass gebildeten Frauen ein bei Weitem feinerer Sinn und ein viel sicheres Urtheil  über Farben eigen sei als Männern [...]. Sie haben in schwierigen Fällen stets Damen zu Rathe gezogen und bei diesem Rathe sich wohl befunden. Die gar nicht seltene partielle Farbenblindheit, zum Beispiel die Unfähigkeit, Roth zu erkennen oder es vom Grün zu unterscheiden, ist beim andern Geschlecht fast unerhört. Ein Augenarzt, der fünfzehn an diesem Übel Leidende behandelt hatte, zählte unter ihnen nur eine Frau, und bei dieser fand es nur in geringem Grade statt. Wäre es also nicht wohlgethan, dieses Feld den künftigen Lepaute’s und Somerville’s zu überlassen in Anbetracht der vielen andern, die der Zukunft noch vorbehalten sind? Wir zweifeln nicht, dass diese Beschäftigung ihnen zusagen würde; wir zweifeln eben so wenig, dass eine sichere und in’s Specielle gehende Kenntnis der Farben insbesondere der Doppelsterne uns Aufschlüsse über die Physik der Weltkörper geben werde.“ (Ebenda, S. 399). Derartige Publikationen, welche die Leistungen der Astronominnen würdigen, sind äußerst selten. 1786 gab der französische Astronom Jérôme de Lalande erstmals eine kurze Geschichte weiblicher Astronomen heraus (Schiebinger 2000, S. 38).

Insgesamt ist also festzustellen, dass Alexander von Humboldt sich in dem eingangs erwähnten Brief an die „Staatsräthin Minna Mädler“ an eine Frau wandte, die nicht nur für ihre Dichtungen bekannt, sondern die sozusagen aus erster Hand mit dem Forschungswerk ihres Mannes vertraut war. Wenn er sie um Nachrichten von seinem „vortreflichen Freunde“ bat, so konnte er damit rechnen, dass sie als Kompagnon ihres Ehemannes auch eine detaillierte Auskunft über dessen Forschungsabsichten zu geben wisse. Lässt der Brief auch keine direkten Hinweise auf die Mitarbeit zu, so haben doch die einbezogenen Quellen gezeigt, in welcher Weise Minna Mädler zum Lebenswerk ihres Mannes beigetragen hat.

Dass die wissenschaftlichen Unternehmungen der Forscher das gesamte Familienleben in Anspruch nehmen konnten und dass die Familie eines Astronomen mitunter nicht nur mit den Forschungsinstrumenten sondern sogar in ihnen lebte, demonstriert das Gedicht über Herschels Teleskop, welches Minna Mädler übersetzte. John Herschel dichtete die heiteren Verse, um gemeinsam mit seiner Familie im abgebauten Rohr des 40füßigen Teleskops seines Vaters das alte Jahr (1839) zu verabschieden: „Wie sitzen im alten Tubus gereiht,/ und Schatten umziehn uns vergangener Zeit./ Sein Requiem singen wir schallend und klar,/ indem uns verlässt und begrüßet ein Jahr.  Chor: Fröhlich und lustbewegt singet, o singt,/ dass rasselnd der alte Tubus erklingt!“ (Mädler 1840, S. 323)

In den Korrespondenzen Alexander von Humboldts konnte ich noch weitere Indizien sammeln, die auf die Einbeziehung der Familienmitglieder in die Forschungsarbeit der Gelehrten schließen lassen. Schon Minna Mädler deutete auf diesen Zusammenhang, als sie die Worte des Astronomen Bessels wiedergab, den sie mit seiner Tochter in Königsberg angetroffen hatte: „Sehn Sie, sagte ihr Vater, ihre Wange streichelnd, dieses junge Kind ist mit der Sorge für alle meine Uhren und Chronometer betraut, die sie aufzieht und vortrefflich in Ordnung hält. Hier auf der Sternwarte sind wir alle im Dienste der Astronomie beschäftigt.“ (Mädler 1888, S. 152). Ähnliches dokumentiert der Briefwechsel Humboldts mit Lucie Laugier, auf den ich abschließend eingehen möchte.

 

2.1. Familie Mädler | 2.2. Familie Arago | (zum Anfang)

 

2.2. Familie Arago

An Lucie Laugier formulierte Humboldt in einem Brief von 1854 sehr genaue und detaillierte Bitten. Der Brief ist neben einer Publikation im Arago-Briefwechsel auch als Abschrift erhalten (Vgl. Hamy 1907, Nr. 122).[5] Die Bitten in diesem Brief konzentrierten sich auf insgesamt drei Fragen. Humboldt wollte von seiner Korrespondenzpartnerin wissen, wann der Physiker Malus die große Entdeckung mit dem Sonnenuntergang am Fenster des Palais Luxembourg gemacht habe.[6] Humboldt glaubte, diese in seinem Kosmos falsch datiert zu haben. Des weiteren wollte er wissen, in welchem Monat und Jahr er sich mit Arago im Observatorium in Greeenwich aufgehalten habe. Als drittes fragte er nach, in welchem Jahr er gemeinsam mit Arago und Mathieu die Deklination der Sterne observiert habe. Warum wandte Humboldt sich mit diesen Fragen aber ausgerechnet an Lucie Laugier?[7]

Alexander von Humboldt lernte Lucie bereits als Kind kennen und bezeichnete sie auch als „enfant spirituel“ (Ebenda, Nr. 123, S. 353). Lucie war die Nichte des berühmten Astronomen Arago, mit dem Humboldt nicht nur gemeinsam observierte, sondern der bekanntlich zu seinem engsten Freundeskreis zählte. Humboldt hatte während seines Aufenthaltes in Paris 1809 bis 1811 ein Zimmer mit Arago geteilt. Lucies Vater, Claude Louis Mathieu, hatte einen ähnlichen Aufstieg wie Johann Heinrich Mädler vollzogen. Als Sohn eines Tischlers trat er in die Pariser polytechnische Schule ein und erlangte eine Stelle an der dortigen Sternwarte, die er übernehmen konnte, nachdem sein Freund Arago wegen der Meridianmessung nach Spanien gegangen war. Mathieu erlangte mehrfach Preise der Akademie, deren Mitglied er 1817 wurde, und erhielt eine Professur für Analysis und Mechanik. Humboldt lernte ihn persönlich während der gemeinsamen Beobachtungen mit Arago kennen. Wenn Humboldt nun in seinem Brief sich auf diese Bekanntschaft bezieht und sich damit an Lucie Laugier wendet, dann ausdrücklich auch im Namen ihres Vaters („en grâce á M. votre Père [...]“). Sollte Lucie Laugier die ihr gestellten Fragen aber eventuell nur an ihren Vater weitergeben?

Dem Wortlaut des Briefes zufolge ist diese Frage nicht endgültig zu entscheiden. Dagegen steht aber, dass Lucie Laugier nicht nur über enge Verbindungen zu Mathieu und Arago verfügte, sondern quasi als ,Mittelsfrau’ auch in Hinblick auf eine weitere, bedeutende astronomische Leistung angesprochen werden konnte. Ihr Ehemann, Auguste Ernest Paul Laugier, arbeitete ebenfalls als Astronom. Im Jahr 1854 hielt er während einer öffentlichen Vorlesung in der Akademie einen Festvortrag über Malus. An dieser Akademiesitzung nahm Lucie Laugier teil (Hamy 1907, Nr. 123, S. 354). Bis zu diesem Jahr lebten die Hinterbliebenen Aragos, die Familien Mathieu und Laugier gemeinsam in einer Wohnung der Pariser Sternwarte, in der auch Humboldt viele Jahre verbracht hatte.[8]

Daher wirft der Brief Humboldts bei genauem Hinsehen ein bezeichnendes Licht auf die Arbeitszusammenhänge Aragos. Die Organisation seiner Arbeit wurde durch die familiären Bande gestützt und teilweise durch diese erst ermöglicht. Lucie Laugier stand im Schnittpunkt dreier bedeutender Gelehrtenfamilien. Ihre eigenen Leistungen bleiben dabei im Hintergrund. Um sie zu ermitteln, müsste weiteres Brief- und Quellenmaterial studiert werden. Während anzunehmen ist, dass Lucie bereits als Kind in astronomische Praktiken eingeweiht worden war, bildete die Ehefrau Aragos eher eine Ausnahme bezüglich der von mir untersuchten Fallbeispiele.

Marie-Suzanne-Lucie Arago schrieb Alexander von Humboldt im Jahr 1817 ausdrücklich, dass sie mit keinerlei wissenschaftlichen Neuigkeiten aufwarten könne.[9] Sie sei viel zu häuslich, um sich in diese Sachen einzumischen und zu wissen, was in der Gesellschaft passiere. Sie sei eine unbedeutende Person und deshalb wenig würdig, mit Humboldt zu korrespondieren. Immerhin gelang es dem Gelehrten dennoch, in Verbindung mit Madame Arago zu bleiben (Vgl. Hamy 1907). Sicher beabsichtigte die Ehefrau Aragos mit diesem Brief, dem berühmten Gelehrten in höflicher Weise ein Kompliment auszusprechen, auch wenn sie dabei auf beliebte Geschlechterstereotype rekurrierte. Doch Madame Arago verfügte andererseits tatsächlich nicht über das Erfahrungswissen, welches Lucie Laugier besaß. Denn sie stammte nicht aus einem astronomischen Elternhaus, in dem sie entsprechende Fähigkeiten hätte erlernen können. Ihr Vater war der Generalinspekteur des Saint-Quentin-Kanals (Vgl. Hamy 1907, S. 11, Anmerkung 2).

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts astronomische Observationen als „family projects“ (Shteir 1987, S. 41) umgesetzt worden sind. Londa Schiebinger konstatierte bereits für diesen Zeitraum einen beginnenden Ausschluss der Frauen aus der Wissenschaft (Schiebinger 1993, S. 152). Er erfolgte zugleich mit dem Institutionalisierungsprozess der modernen Wissenschaften. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurden die Sternwarten vom Wohnhaus der Familien getrennt (Ebenda, S. 145). Die Einführung eines eigenen Dienstpersonals, das sich zumeist aus Studenten oder anderen Angehörigen der Universität rekrutierte, begünstigte den Ausschluss. Trotzdem zeigen die erwähnten Beispiele, dass noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein damit gerechnet werden muss, dass astronomische Arbeit kaum formalisiert war und von einem Erfahrungswissen bestimmt wurde, welches nicht ausschließlich auf Universitäten, sondern auch im Rahmen von ,vertrauten’ Bekannt- und Verwandtschaften erworben werden konnte. Verschiedene Untersuchungen bestätigen diesen Befund ebenso für andere Nationen. So arbeitete z.B. Margaret Huggins (1848-1915) gemeinsam mit ihrem Ehemann (Vgl. Ogilvie 1987). Er veröffentlichte die Arbeiten jedoch unter seinem Namen. Den Zugang zu wissenschaftlichen Praktiken fand Margaret Huggins durch ihren Großvater, einen „amateur astronomer“, sowie durch autodidaktische Wissensaneignung (Ebenda, S. 110). Astronomische Observationen setzten eine Vertrautheit mit den Instrumenten und Erfahrungen im Beobachten und Messen voraus. Insofern Frauen dieses Wissen über familiäre Verbindungen erwerben konnten, bot sich ihnen die Möglichkeit, in einem begrenzten Rahmen an wissenschaftlichen Unternehmungen zu beteiligen. Monika Mommertz hat zu dieser Eigenart der Astronomie bereits weitere Beispiele aufgezeigt und auf die hinter der scheinbaren Transparenz des institutionalisierten Gelehrten verborgen liegende, häusliche „Schattenökonomie“ aufmerksam gemacht (Vgl. Mommertz 2000). Die Briefe Humboldts werfen ein weiteres Licht darauf.



[1] Vgl. Brief Alexander von Humboldts an Minna Mädler o. D. [nach 1840], SBPK, Berlin, Slg. Alexander von Humboldt, Autographen I/ 187.

[2] Vgl. Brief Alexander von Humboldts an Johann Heinrich Mädler o. D. [nach 1840], Handschrift im Privatbesitz.

[3] Vgl. Brief Alexander von Humboldts an Johann Heinrich Mädler o. D. [nach1840], Handschrift im Privatbesitz.

[4] Brief Alexander von Humboldts an Johann Franz Encke vom [?] 8.7.1844: „Mädler und seine kluge Lenkerin haben mich gestern besucht.“ ABBAW Nl. Encke Nr. 52, II, 106a. An dieser Stelle möchte ich der Humboldt-Forschungsstelle der BBAW für die Unterstützung meines Projekts und für die unkomplizierte Nutzung des Belegstellenkatalogs der Forschungsstelle danken 

[5] Vgl. Alexander von Humboldt an Lucie Laugier, Berlin 23.3.1854, Abschrift, SBPK, Berlin, Handschriftenabt., acc. Darmstädter 1928/ 13, Nr. 5.

[6] „Als Malus 1808 zufällig durch einen Kalkspatkristall den Reflex der untergehenden Sonne des seiner Wohnung gegenüberliegenden Palastes Luxembourg betrachtete, bemerkte er, dass der Kristall statt der gewöhnlichen zwei Bilder, nur ein Sonnenbild zeigte. Unter dem Einfluss der damals die Physiker beschäftigenden elektrischen Entdeckungen nahm er eine Polarisation des Lichtes an.“ (Schwarz/ Wenig 1997, S. 135, Anm. 2).

[7] Die Frage nach der Datierung der Entdeckung von Malus hatte Alexander von Humboldt übrigens schon in einem Brief vom 14.12.1853 an den berühmten Physiologen Emil du Bois-Reymond gestellt. (Vgl. Schwarz/ Wenig 1997, S. 134f.)

[8] Diesen Verweis habe ich dem Belegstellenkatalog der Humboldt-Forschungsstelle entnommen, s.v. „Arago“. Vgl. auch Brief Alexander von Humboldts vom 6.3.1854 an Carl Friedrich Gauß, UB Göttingen, 32.

[9] Vgl. Brief Marie Suzanne Lucie Aragos an Alexander von Humboldt vom 17.5.1817, DLA Marbach, A: Humboldt, Briefe, Zugangsnummer 62.2152.

 

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