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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     II, 3 (2001)
 
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Gerhard Kortum: Humboldt der Seefahrer und sein Marinechronometer
Ein Beitrag zur Geschichte der Nautik und Meereskunde

 

4. Paris 1798: HUMBOLDT im Umfeld französischer Seefahrer und seine Beziehung zu John-Charles de BORDA

Die vielfältige und intensive Zusammenarbeit HUMBOLDTs mit französischen Gelehrten wird meist auf seine Zeit in Paris 1804-1827 bezogen. Aber bereits vor der Amerika-Expedition von Ende April bis Ende Oktober 1798 knüpfte er zahlreiche wissenschaftliche Kontakte im Rahmen der Französischen Akademie (Institut de France), wo er mehrere vielbeachtete Vorlesungen hielt, die in den "Memoires" veröffentlicht wurden. Er soll schon damals die "idée d'une physique du monde" entwickelt haben, die in seinem Lebenswerk "Kosmos" gipfelte.

In diesem Zusammenhang ist die bisher wenig bekannte Sonderbeziehung HUMBOLDTs zu BORDA zu stellen. Man plante eine erneute, fünfjährige wissenschaftliche Weltumsegelung unter der Führung von Louis Antoine Comte de BOUGAINVILLE (1729-1811), der 1766-1768 mit der "La Boudeuse" in der Südsee war, 1791 Vize-Admiral wurde und 1796 zum Mitglied des Institut de France und des französischen Längengradbüros ernannt wurde. Diese französische Pazifik-Expedition war sehr erfolgreich. Als Naturwissenschaftler nahmen der Botaniker Philibert de COMMERSON und der Astronom VERON an der Fahrt teil.

HUMBOLDT lernte BOUGAINVILLE im Rahmen seiner vielfältigen wissenschaftlichen Kontakte in Paris kennen und wurde fest für den wissenschaftlichen Stab der Fahrt auf dem Schiff "Vulcan" vorgesehen, ebenso der Arzt und Botaniker Aimé BONPLAND (1773-1858), der dann HUMBOLDTs Reisegefährte in Südamerika wurde. Wegen des hohen Alters BOUGAINVILLEs wurde die Expeditionsleitung aber an Thomas Nicolas BAUDIN (1754-1803) übergeben. Die Weltumsegelung wurde dann aber auf unbestimmte Zeit verschoben, und HUMBOLDT ging eigene Wege (Einzelheiten hierzu im Brief an K.L. WILLDENOW vom 20. April 1799 in Jugendbriefen, JAHN u. LANGE 1973, S. 661).

Die Reise unter dem Kommando von BAUDIN mit den Schiffen "Le Naturaliste" und "Géograph" fand dann im Auftrag NAPOLEONs 1800-1803 statt und verlief wenig glücklich. Sie führte in den Indischen Ozean und rund um Australien. Der Reisebericht wurde schließlich von dem mitfahrenden Naturforscher PERON verfasst (vgl. HUMBOLDT/BONPLANDT 1815, S. 365, Fußnote). HUMBOLDT hätte nur mit Geduld einige Monate in Paris weiterarbeiten sollen, dann wäre er mit den Franzosen in See gegangen.

Im Hafen von Toulon sah er BOUGAINVILLEs "La Boudeuse" am 11. November 1798 segelfertig für eine kurze Konvoyfahrt im Mittelmeer liegen, und seit der Jugend gehegte Südseeträume lebten in ihm auf. In diesem wissenschaftlichen Umfeld und bei der Ergänzung seiner Instrumentenausrüstung in Paris muß HUMBOLDT auch de BORDA kennengelernt haben. HUMBOLDT wohnte in Paris im Hotel Boston, Rue du Colombier 7, und führte mit BORDA Messungen zur magnetischen Inklination auf dem Pariser Observatorium durch. Am 30. Juni fanden sich auch andere Gelehrte zur Fortsetzung der Messungen ein, wie der Physiker Jean-Claude DELAMÉTHERIE, der Astronom Alexis BOUVARD, der Mineraloge Louis-Benjamin Fluxian de BELLEVUE und der Meteorologe Louis COTTE (BIERMANN, JAHN, LANGE 1983, p. 25).

Alexander von HUMBOLDT besaß also eine recht berühmte Längenuhr, denn sie war aus dem Bestand von Jean-Charles de BORDA (1733-1799). Dieser war zunächst Schiffbauingenieur und mit den Problemen der Längenbestimmung auf See einschlägig vertraut. Er unternahm 1771 auf der französischen Fregatte "La Flora" unter dem Kommando von Verdun de la CRENNE im Auftrag der Académie des Sciences eine Seereise zu den Azoren, Kapverden und Kanaren sowie an die Westküste Nordafrikas, um die Ganggenauigkeit und Seetauglichkeit verschiedener Längenuhren von LE ROY und BERTHOUD zu prüfen. HUMBOLDT bezieht sich mehrfach auf diese Expedition und ihre wissenschaftlichen Ergebnisse HUMBOLDT/BONPLANDT 1815, S. 112, 127, 131, 310). 1776 kommandierte BORDA die "Boussole" auf einer Mission zur exakten Längenbestimmung der Kanarischen Inseln und traf dort James COOK auf dessen Ausfahrt zu seiner dritten und letzten Reise in den Pazifik.

BORDA wurde 1783 Direktor der Schiffbauschule und wurde 1790 in die Kommission zur Einführung des metrischen Systems in Frankreich aufgenommen. Er verfaßte zahlreiche Beiträge zu geophysikalischen und geodätischen Fragen und arbeitete an der berühmten Vermessung des Meridians von Paris zwischen Dünkirchen und Barcelona mit. Er gilt auch als Erfinder des Repitionskreises (vgl. FAAK 2000, S. 554).

Die BORDA-Expedition zu den Kanaren wird in HUMBOLDTs Schriften häufiger erwähnt, hauptsächlich aber in Zusammenhang mit geomagnetischen Messungen. So heißt es im "Kosmos" (Bd. II, S. 374): "Inclinations-Beobachtungen wurden nur in einigen Hauptstädten des westlichen und südlichen Europas angestellt, und die ebenfalls in Raum und Zeit veränderliche Intensität der magnetischen Erdkraft ist zwar von Graham zu London (1723) durch die Oszillation einer Magnetnadel zu messen versucht worden, aber nach dem resultatlosen Unternehmen von Borda auf seiner letzten Reise nach den canarischen Inseln (1776) ist es erst Lamanon (1785) in La Perouse’s Expedition geglückt, die Intensität in verschiedenen Erdzonen mit einander zu vergleichen". Ferner wird auf die "große Vervollkommnung der Instrumente und Methoden durch Borda, Kater und Bessel" bei geodätischen Pendelversuchen hingewiesen (Kosmos, Bd. VI, S. 26) .

HUMBOLDTs berühmte Beschreibung der Insel Teneriffa, die für ihn eine erste "Neue Welt" im Kleinen war, enthält mehrere Verweise auf BORDAs geodätische, trigonometrische und barometrische Beobachtungen. Auf der Kanareninsel folgte HUMBOLDT auch bei der Besteigung des Pic de Teide auf BORDAs Spuren. Der Zeitmesser war natürlich auch bei dieser Exkursion dabei: "Ich wünschte in so bedeutender Höhe wie die, welche wir am Pik von Teneriffa erreicht hatten, den Moment des Sonnenaufgangs genau zu beobachten. Kein mit Instrumenten versehener Reisender hatte noch eine solche Beobachtung angestellt. Ich hatte ein Fernrohr und einen Chronometer, dessen Gang mir sehr genau bekannt war. Der Himmelsstrich, wo die Sonnenscheibe erscheinen sollte, war dunstfrei. Wir sahen den obersten Rand um 4 Uhr 48'5" wahre Zeit ..." (vgl. GEBAUER 1988, S. 49).

So verdichtet sich HUMBOLDTs intensive wissenschaftliche Beziehung zu BORDA erneut während der denkwürdigen Woche auf Teneriffa. Hier erfuhr er vom Tode seines Pariser Mentors.

Auch der bereits erwähnte Kapitän BAUDIN war zwei Jahre vor HUMBOLDT auf Teneriffa gewesen, und zwar im Zusammenhang einer wissenschaftlich begründeten Reise nach den Antillen. Er hatte die Aufgabe, unter Aufsicht des Botanikers LEGROS tropische Pflanzen nach Europa zu überführen. LEGROS blieb dann aber, wie HUMBOLDT in seiner Reisebeschreibung ausführt, nach einem Sturm auf der Rückseite auf Teneriffa und wurde Leiter des berühmten, 1795 gegründeten Botanischen Gartens von Orotava (Jardin de Aclimatación nahe dem Hafen Puerto de la Cruz), in dem tropische Pflanzen akklimatisiert werden sollten. HUMBOLDT beschrieb den heute noch im Ortsteil von La Paz bestehenden Jardin d'Acclimatación in einiger Ausführlichkeit und lobte aus der Sicht der angewandten Pflanzengeographie dessen Aufgabe.

LEGROS war selbst dann französischer Vizekonsul auf Teneriffa und führte HUMBOLDT am 20.-21. Juni 1799 auf den 3718 m hohen Pic de Teide. Er galt als naturhistorischer Experte für die Kanareninsel. BAUDIN war Ende Dezember 1797 bei seiner Besteigung des Gipfels in Begleitung von einheimischen Führern und mehreren französischen Naturforschern (darunter auch LEGROS) beinahe abgestürzt und ums Leben gekommen.

HUMBOLDT war wie BORDA ein leidenschaftlicher Geomagnetiker. Auf diesem Gebiet hat HUMBOLDT in Fortführung der Arbeiten des von ihm sehr geschätzten französischen Gelehrten eindeutig auch einen eigenen Forschungsbeitrag geleistet. Hierzu schreibt er selbst 1858 (Kosmos, Bd. IV, S. 60 f.): "Die Einsicht in die Intensitäts-Verschiedenheit der magnetischen Erdkraft an verschiedenen Punkten der Erde, durch die Schwankungen einer senkrechten Nadel im magnetischen Meridian gemessen, verdankt die Wissenschaft allein dem Scharfsinn des Chevalier Borda: nicht durch eigene geglückte Versuche, sondern durch Gedankenverbindung und beharrlichen Einfluß auf Reisende, die sich zu fernen Expeditionen rüsteten.... Das Gesetz selbst hat, wie ich glaube mir schmeicheln zu dürfen, erst in der Wissenschaft Leben gewonnen durch die Veröffentlichung meiner Beobachtungen von 1798 bis 1804 im südlichen Frankreich, in Spanien, auf den canarischen Inseln, in dem Inneren des tropischen Amerika’s (nördlich und südlich vom Äquator), in dem atlantischen Ocean und der Südsee." Und die Beziehung HUMBOLDTs zu BORDA geht noch weiter, beide kannten sich gut aus der Zeit vor HUMBOLDTs Ausreise nach Amerika. Im "Kosmos" (1858, Bd. IV, S. 86) sind häufige persönliche Unterredungen beider Gelehrten belegt. BORDA gab auch Anregungen zu HUMBOLDTs Meßprogramm: "Die ersten veröffentlichten Intensitäts-Beobachtungen, ebenfalls auf Borda’s Aufforderung angestellt, sind die meiner Reise nach den Tropenländern des Neuen Continents von den Jahren 1799-1804."

BORDA verstarb in dem Jahr, als HUMBOLDT seine Reise über den Atlantik nach Südamerika antrat. Seine Anregungen und Ideen nahm HUMBOLDT mit, ebenfalls seine Uhr. Wie HUMBOLDT in ihren Besitz gekommen ist, wissen wir nicht. BORDA hat ihm kurz vor seinem Tod den tragbaren Chronometer der Marke Louis BERTHOUD, Bau-Nummer 27, entweder geschenkt, verkauft oder in sonst einer Form überlassen. Vielleicht hat HUMBOLDT den See-Chronometer auch über Dritte erhalten. Wir wissen aus einem Brief von HUMBOLDT an Karl-Ludwig WILLDENOW (1765-1812) vom 20.4.1799, daß er als wissenschaftliches Mitglied der geplanten BOUGAINVILLE-Expedition um die Welt auf der Korvette "Vulcan" vorgesehen war. "Alle National-Sammlungen wurden mir geöffnet, um von Instrumenten zu sammeln, was ich wollte. Bei der Wahl der Naturalisten, bei allem, was die Ausrüstung betraf, wurde ich gefragt ..." (in JAHN und LANGE 1973, S. 661). In diesem Falle wäre die Uhr als eine Leihgabe zu betrachten.

Möglicherweise hat HUMBOLDT diese kostbare Uhr nach seiner Rückkehr aus Amerika wieder beim Dépôt de la Marine abgegeben. Wie später ausgeführt, erhielt HUMBOLDT vom Pariser Bureau des Longitudes auch einen BORDAschen Inklinationscompass für seine Reise "abgetreten".

Der berühmte BORDAsche Inklinationskompaß von HUMBOLDT hatte ebenfalls mit den großen französischen Entdeckungsexpeditionen in der Südsee im 19. Jh. zu tun. "Ein Inclinometer von 12 Zoll Durchmesser, von Le Noir nach dem Prinzip von Borda konstruiert. Dieses Instrument ist von perfekter Qualität und wurde mir vom Bureau des Longitudes de France bei meiner Abreise überlassen. Es ist im Reisebericht von M. Entrecasteaux abgebildet..." (vgl. SEEBERGER 1999, S. 59). Die Expedition von Joseph Antoine Bruni d'ENTRECASTREAUX (1739-1793) führte in Begleitung des HUMBOLDT persönlich bekannten Naturforschers LABILLARDIERE 1791-1793 auf der Suche nach dem in den Weiten des Pazifiks 1788 verschollenen Seefahrers Jean François de la PEROUSE (1741-1788) zu den Tonga-Inseln, den Salomonen, Neukaledonien und Neuguinea.

Jedenfalls hat HUMBOLDT gerade an dem Zeitinstrument von BORDA liebevoll gehangen und es immer wieder für nautische Zwecke und zur astronomischen Ortsbestimmung benutzt. Wahrscheinlich war es eine der Seeuhren, die BORDA selbst auf seiner erwähnten Kanaren-Fahrt 1776 auf Seetauglichkeit für die französische Marine prüfen sollte. Man kann davon ausgehen, daß er mit einiger Sicherheit nach der See-Erprobung das beste der präzisen Vergleichsgeräte für sich behielt. Insofern ist die Längenuhr von HUMBOLDT hinsichtlich ihrer Vorgeschichte wissenschaftsgeschichtlich schon etwas besonderes.

Auch später hat HUMBOLDT mit Unterlagen von BORDA gearbeitet. "In einem Manuscripte von Borda über seine Expedition nach den canarischen Inseln im Jahre 1776, welches in Paris im Dépôt de la Marîne aufbewahrt wird und dessen Mittheilung ich dem Admiral Rosily verdanke, habe ich den Beweis aufgefunden, daß Borda den ersten Versuch gemacht, den Einfluß einer großen Höhe auf die Inclination zu untersuchen" (Kosmos, 1858, Bd. IV, S. 112). Es bleibt anzumerken, daß alle routinemäßig auf Land und zur See durchgeführten magnetischen Messungen HUMBOLDTs mit exakten Zeit- und Längenangaben erfolgten.

Im großen Zusammenhang kann man wohl feststellen: Die Babylonier brachten in alter Zeit dem Menschen die Zeit und ihre Gliederung. Der französische Seefahrer und Geodät BORDA gab durch seine einflußreiche Stimme in der Längenkommission der Welt das revolutionäre, heute allgegenwärtige metrische System (1 Meter = millionster Teil eines Erdquadranten), und HUMBOLDT führte viele Bereiche der Naturwissenschaften mit seinem vernetzten Denken auf empirischer Grundlage in die Moderne. Eigene Messungen waren hierfür die Grundlage, zum Beispiel der Zeit - mit BORDAs Uhr.

 

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