______________________________________________________
Joseph Gomsu
Humboldts Umgang mit lokalem Wissen
1. Einleitung
Von einer literarischen Perspektive ausgehend, entwickelt der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o 1993 in einem Essay die These einer Universalität des lokalen Wissens.[1] Da vertritt er den Standpunkt, dass jeder Erkenntnisprozess ein Fortschreiten vom Besonderen zum Allgemeinen sei. Dass ein Schriftsteller eine solche These vertritt, kann überhaupt nicht überraschend sein, da sein Schaffen ohne die persönlichen, alltäglichen Erfahrungen von Menschen, die seine Figuren sind, schwer denkbar wäre. Der Erkenntnisprozess, so Ngugi, beginne mit der Beobachtung des Besonderen bzw. des Lokalen, nur vom Besonderen ausgehend, verstehe man, was das Allgemeine bzw. das Universale sei. Was als Allgemeines in der Erkenntnis die Form des Universalen annehmen könne, müsse aber in der Praxis am Besonderen überprüft werden. Am Erkenntnisprozess entwickelt Ngugi damit einleuchtend eine Dialektik des Besonderen bzw. Lokalen und des Allgemeinen bzw. Universalen (Globalen).
Ngugis These von der Universalität lokalen Wissens erinnert an Georg Forsters Auffassung in seinem Essay Über lokale und allgemeine Bildung, wonach die europäische Aufklärung nichts Anderes als eine „philosophische Beute des erforschten Erdrunds“ sei.[2] Dass er sich als „Repräsentant der gesamten Gattung“ fühlen und darstellen könne, verdanke der Europäer einem Wissen, das er, so Forster, in außereuropäischen Regionen gesammelt habe. Dieses lokale Wissen, so stellt sich Forster das in einer Zukunftsvision vor, sollten die Bewohner dieser Regionen, „mit dem Stempel der Allgemeinheit“ ausgeprägt, von Europa wieder zurück erhalten. Obwohl „mit dem Salz der europäischen Universalität gewürzt“, sollte das neue Wissen jedoch seinen Urhebern noch „angemessen“, es sollte ihnen erkennbar bleiben, denn Ziel des Universalisierungsprozesses sollte es nicht sein, die Menschen außerhalb Europas in Europäer zu verwandeln.
Ich möchte hier diese Überlegungen von Georg Forster und Ngugi wa Thiong’o über eine Universalität lokalen Wissens bzw. über eine Dialektik von lokalem und allgemeinem Wissen aufgreifen, um in Alexander von Humboldts Bericht Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, in seinen Ansichten der Natur sowie in seinen Tagebuchaufzeichnungen zu überprüfen, wie er auf seiner Südamerika-Reise auf das dort vorgefundene lokale Wissen reagiert hat. Das möchte ich an den Bereichen Botanik, Chemie bzw. Medizin und Straßenbau bzw. Bauwesen illustrieren, indem ich drei Episoden aus Humboldts Reisewerk analysiere; ich bezeichne sie als Kuhbaum-Episode, Curare-Episode und als Episode über die Kunststraßen der Inkas.
[1] Ngugi wa Thiong’o: Die Universalität regionalen Wissens, in: ders. Moving the centre: Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen, aus dem Englischen übersetzt von Jörg Rademacher, Münster 1995. S.46-50. Jörg Rademacher übersetzt jedoch die englischen Begriffe ‚local’ und ‚locality’, die Ngugi in seinem Originaltext benutzt, durch ‚regional’ bzw. ‚Regionalität’. Ich werde demgegenüber die deutschen Begriffe ‚lokal’ und ‚Lokalität’ (‚Ortsgebundenheit’) im Kontrast zu ‚global’ und ‚Globalität’ beibehalten, wohlwissend, dass sie nicht in einem allzu engen Rahmen aufgefasst werden dürfen.
[2] Vgl. Georg Forster: Über lokale und allgemeine Bildung, in: ders.: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur, Georg Forsters Werke, Bd.7, Berlin 1963, S.45-56. Hier S.48f.
______________________________________________________
<< letzte Seite | Übersicht | nächste Seite >>