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HiN III, 5 (2002)
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Gerhard Kortum
“Alexander von Humboldt” als Name für Forschungsschiffe vor dem Hintergrund seiner meereskundlichen Arbeiten
5. Humboldts meereskundliche Arbeiten im Überblick
Humboldt war zweifellos einer der Vordenker der Meeresforschung, hat selbst ozeanographische Messungen in großer Zahl durchgeführt und erstmals innovativ die Grundlagen der globalen thermohalinen Zirkulation des Weltozeans angedeutet. Im Rahmen seines großartigen interdisziplinären und vielschichtigen Gesamtwerkes sind diese meereskundlichen Aspekte hingegen auf zahlreiche relevante Passagen in seinen Hauptwerken verteilt. Sie müssen erst mühsam erschlossen werden. Humboldt hat im ersten “Kosmos”-Band (1845, S. 320-332) vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen und des damaligen internationalen Wissensstandes seine Vorstellung vom Wesen und Funktionieren des Weltozeans in klassischer Weise auf hohem theoretischen Niveau zusammen gefasst. Schon KRÜMMEL (1904), DEFANT (1960), WÜST (1959) und DIETRICH (1970) haben den ozeanographischen Teil in Humboldts Werk herausgestellt. Neuere Studien haben weitere Aspekte seiner marinen Studien erschlossen (KORTUM 1985- 2002).
In der klassischen Zusammenfassung seiner vielfältigen, über seine Hauptwerke und teils schwerer zugänglichen Arbeiten verstreuten Beiträge zur Meereskunde im “Kosmos” (I845, Bd. I, S. 320-332) umschrieb Humboldt ganz richtig einen fundamentalen Grundsatz der Meeres- und Klimaforschung: ”Das Meer hat unter allen Zonen eine Tendenz, die Wärme seiner Oberfläche in den der Luft nächsten Wasserschichten zu bewahren, da die erkalteten Theile als die schwereren hinabsteigen”. Er hat die Existenz polarer Tiefenströmungen zwar nicht selbst messen können, aber spekulativ richtig erschlossen. Die gegenwärtig mit Hochleistungscomputern in den großen meereskundlichen Instituten ausgewertete und modellierte Datenfülle des in internationaler Zusammenarbeit über 10 Jahre durchgeführten World Ocean Circulation Experiments (WOCE) bestätigen in großartiger Weise viele von Humboldt erstmals theoretisch formulierten Erkenntnisse. Hierzu rechnet auch die heute gängige vereinfachte Vorstellung vom Ocean Conveyor Belt, dem alle Ozeane umfassenden Transportband der Meeresströmungen an der Oberfläche und in der Tiefsee, das letztlich durch bislang unzureichend verstandene Konvektionsprozesse in polaren Meeren in Gang gehalten wird und das Weltklima in seiner Variabilität steuert.
Während seiner “Reise in die Äquinoctial-Gegenden des neuen Continents” 1799-1804 (deutsch von H. Hauff, 1861) war Alexander von Humboldt im Nordatlantik und auch im Pazifik mit ozeanographischen Forschungen beschäftigt. Seitdem er 1790 erstmals als Gefährte des Weltumseglers Georg Forster am Nordseestrand vor der Überfahrt nach England das Meer erlebte, durchzieht eine “eigenthümliche Vorliebe für das Meer” (Kosmos, I, S.332) sein erstaunlich breites naturwissenschaftliches Schaffen. Leider kam er in seinem hohen Alter dann nicht mehr dazu, seine Ansichten des Meeres noch einmal wie länger geplant in einem größeren Zusammenhang unter dem Titel “Oceanica” als Band II der “Kleineren Schriften” zu veröffentlichen. Dennoch wissen wir recht gut über seine meereskundlichen Arbeiten und Kenntnisse, da besonders bedeutende deutsche Ozeanographen, hauptsächlich aus der Seeuniversität Kiel, mehrfach auf Humboldts Beiträge zur Geschichte der Ozeanographie hingewiesen haben (KRÜMMEL 1904, WÜST 1959, DIETRICH 1970, KORTUM 1990 und 2001, vgl. auch DEFANT 1960).
Humboldt wurde auf seinen zahlreichen Seereisen im Atlantischen und Pazifischen Ozean, auf der Nord- und Ostsee sowie auf dem Kaspischen Meer bei seinen regelmäßigen Messungen der Oberflächentemperaturen nie seekrank und fühlte sich durch die Bewegungen des Schiffes vielmehr immer zur Arbeit angespornt.
Sicherlich stehen seine Beiträge zur Meereskunde denen zu anderen Disziplinen, wie Klimatologie, Geologie oder Pflanzengeographie gerade in ihrer weiterführenden konzeptionellen Wirkung kaum nach. Humboldt war aus disziplingeschichtlicher Sicht zweifellos einer der Pioniere der Ozeanographie. Nach ihm hat sich zumindest im deutschsprachigen Raum entgegen der üblichen ozeanographischen Nomenklatur die Bezeichnung “Humboldt-Strom” für die Kaltwasserströmung an der Küste von Chile bis Ecuador durchgesetzt. Dies ist als eine besondere Ehrung anzusehen.
Diese Namensgebung war indes von Beginn an nicht unumstritten: Heinrich Berghaus, dem Humboldt seine handschriftlichen Aufzeichnungen über Meeresströmungen uneigennützig für dessen kartographische Arbeiten zur Verfügung gestellt hatte, druckte diese verbatim Seiten weise in seinem Kompendium zur Länder- und Völkerkunde (1837, Bd. I, S. 575-583) ab, unter anderem auch den klassischen Bericht über den “Peru-Strom”. Der Kieler Geograph und Meereskundler Krümmel nahm dann diese Kurzmonographie in seine Klassiker-Sammlung bereits 1904 für die Lektüre im Hochschulbereich auf. Nur auf diese Weise überlebte der Text Humboldts, denn seine Abhandlung “Über Meeresströmungen im allgemeinen; und über die kalte peruanische Strömung der Südsee, im Gegensatze zu dem warmen Golf- oder Florida-Strome” blieb unvollendet und behandelte im ersten Teil ausschließlich den Golfstrom. Von Humboldt selbst kommt der Name somit nicht. Berghaus aber fügte am Ende seines “Raubdrucks” (1837, S. 584) den Zusatz an: ”Zwanzig Jahre nach seiner Zurückkunft nach Europa hatte Hr. von Humboldt endlich die Freude und Genugthuung, die von ihm zuerst gemachte Beobachtung und gleichsam Entdeckung einer kalten Meeresströmung in dem östlichen Theile des Stillen Oceans und dem Einfluß dieser Meeresströmung auf das Klima des Flachlandes von Peru durch drei ... Reisende... in den verschiedensten Jahreszeiten auf’s Vollständigste bestätigt zu sehen.” Hierzu wird folgende Fußnote angefügt: ”Weshalb man sie auch mit Recht “Humboldt’s-Strömung nennen kann”. Berghaus folgte hiermit einer Anregung von F.J.F. Meyen (“Reise um die Welt” 1835). Berghaus arbeitete gleichzeitig an einer Karte über die Gewässer vor Peru für seinen Royal Prussian Maritime Atlas, die er Humboldt mit einer ausführlicheren Widmung im Geiste der Zeitwidmen wollte. Es heißt dort u.a. “Showing Bn Humboldts thermometrical navigation and various passages from Callao to Guayaquil during the last days of the month of December 1802.” In einem Brief vom 21. Februar 1840 verwahrte sich Humboldt allerdings hiergegen entschieden. ”Ebenso protestiere ich (auch allenfalls öffentlich gegen alle ‘Humboldtsche Strömung... Die Strömung war 300 Jahre vor mir allen Fischerjungen von Chili bis Payta bekannt: ich habe bloß das Verdienst, die Strömung des strömenden Wassers zuerst gemessen zu haben.” Als Berghaus ihm schließlich die Karten am 6. Dezember 1840 zuschickte, war Humboldt dann aber doch geschmeichelt: “Ich finde bei meiner Rückkunft von Charlottenburg Ihre schönen Karten, unter ihnen die, auf der Sie für ganz kleine Verdienste meinen Namen zu sehr verherrlicht haben”, heißt es im Antwortschreiben am folgenden Tag. Die Namensgebung wurde also in Berlin vorgenommen, fernab von Humboldts Expeditionsgebiet.
Humboldt konnte 1802 auf dem Wege von der Inka-Stadt Caxamarca zur Küste erstmals die Südsee sehen. Ein seit seiner Jugend gehegter Traum ging in Erfüllung, wie wir einer Passage in den “Ansichten der Natur” entnehmen können. “Das erste Geschäft eines reisenden Physikers, wenn er nach langer Abwesenheit in Gebirgsgegenden an die Meeresküste gelangt, ist die Bestimmung der Barometerhöhe und der Temperatur des Wassers. Ich war mit letzterer beschäftigt in der Gegend zwischen Truxillo und Guaman, bei Callao de Lima und auf der Schifffahrt von Callao nach Guayaquil und Acapulco in einer Strecke des Stillen Meeres von mehr als hundert deutschen Meilen. Zu meinem größten Erstaunen fand ich das Meer an der Oberfläche unter Breiten, wo es außerhalb der Strömungen 26 Grad bis 28,5 Grad ist, bei Truxillo, Ende September, 16 Grad, bei Callao, Anfang November, 15 Grad.” Humboldt teilt eine große Menge Beobachtungsmaterial mit und kommt zu der “durch viele Seefahrer bestätigten Ansicht, dass die peruanische Strömung eine Polarströmung sei, welche von hohen Breiten niedern zueilend den Hauptsinuositäten der Küste und NNW Richtung folgt”
Diese Auffassung wurde seitdem aufgegeben. Meereskundlich rechnet man das Seegebiet vor Chile und Peru zu den Auftriebsregionen des Weltmeeres, die sich ähnlich unter dem Einfluss der Passatwinde an den Ostküsten der Kontinente von Nordamerika und Afrika finden. Das oft wegen seines Planktonreichtums flaschengrüne Wasser des Humboldt-Stroms (diesen Namen sollte man in der wissenschaftlichen Literatur von deutscher Seite beibehalten) setzt als 3000 km langes und 80-100 km breites Stromband von 32 Grad S bis Cabo Blanco (4 Grad S) mit einer Geschwindigkeit von 0,4 - 0,7 m/sec (15 sm/Tag). Mit einem Wassertransport von 10-15 Mio. cbm/sec erreicht der Humboldtstrom aber nicht die Bedeutung des Golfstroms. Wie bei diesem ist aber auch der Humboldt-Strom durch Variabilität in Raum und Zeit geprägt. Wichtig ist, die um 5 - 8 Grad kühlere Wassertemperatur durch den Auftrieb aus etwa 200 m Wassertiefe zu erklären, also durch Querzirkulation zur Stromrichtung. Die Folge ist eine sehr gute Nährstoffversorgung mit allen Folgen für die Nährstoffversorgung des Planktons an der Oberfläche, das wiederum den Fischreichtum und hohen Seevogelbestand im küstennahen Ökosystem bedingen.
Hierbei kann es zu Störungen kommen, gerade am Cabo Blanco, wo sich der Strom Richtung Galapagos-Inseln nach Westen wendet. Ein warmer Gegenstrom kann sich auf der rechten Stromflanke unter bestimmten Vorbedingungen im weiten Pazifikraum an der Küste nach Süden vorarbeiten, mit katastrophalen Folgen für die Fischerei an der Küste. Alle 5 bis 7 Jahre kehrt diese “El Niño” genannte Störung im Strömungssystem wieder, genannt “Christkind”, weil dieses Phänomen vornehmlich zur Weihnachtszeit und zuerst bei Cabo Blanco auftritt.
Analysieren wir nun Humboldts Aufzeichnungen und Messergebnisse von seiner Seereise von Lima über Guayaquil nach Acapulco, wird deutlich, dass Humboldt zu eben dieser Zeit die Küste befuhr. Er schiffte sich mit seinen Begleitern am 24. Dezember 1802 in Callao auf der spanischen Fregatte “La Castora” ein und erreichte am 4. Januar Guayaquil (Weiterreise am 17.2.1803, Ankunft in Acapulco am 22. März 1803). Es war offensichtlich kein “El Niño”-Jahr, wie Humboldts Tabelle der Meeres- und Luftwärme vom Callao de Lima Guayaquil zeigt (in KRÜMMEL 1904, S. 26). Archivstudien im Rahmen der modernen El Niño-Forschungen, dass dieses Phänomen 1791 und 1804 auftrat. Humboldt diskutiert ausführlich mit zahlreichen Belegen die Veränderlichkeit der maritim-meteorologischen Gegebenheiten dieses meeresökologisch sehr sensiblen Küstenbereiches und berichtet von Auswirkungen abnormaler Jahre mit Starkregen und anderer Ausbildung der typischen Küstennebel (Garua). “Nur der mehrjährige Aufenthalt eines Physikers an diesem Grenzpunkte, einer wahren Wetterscheide, würde uns befriedigen können...”, die von Humboldt klar erkannte Labilität von Meer und Atmosphäre aufzuklären.
Ein früher Hinweis auf “El Niño”? Sicher, aber dies ist bei der Breite und intuitiven Ahnung Humboldts in seiner universalen Natursicht nicht überraschend. Hat doch Humboldt auch zuerst den Vorschlag gemacht, im Atlantik mit mehreren Forschungsschiffen eine synoptische Aufnahme des Golfstromsystems vorzunehmen. Seine Gesamtschau “Oceanica” wurde von ihm nie vollendet, es lebt aber Humboldts Geist in vielen Projekten der heutigen Klima- und Meeresforschung weiter.
Dem Nordatlantik, den Humboldt selbst auf der Anreise nach Südamerika 1799 und auf der Rückreise 1804 im engeren Bereich des Golfstroms und seiner Ausläufer befuhr, galt sein wissenschaftliches Hauptinteresse auch noch lange nach seiner Rückkehr nach Europa ( zu Humboldts Atlantikquerung 1799 vgl. ausführlicher KORTUM 1999). Humboldt war in allen Fragen der Nautik wohl bewandert, mit seinen eigenen Instrumenten (Präzisionssextanten und -chronometer) waren seine Berechnungen zum Schiffsort stets besser als die der erfahrenen Steuerleute an Bord (vgl. KORTUM 2001). Zahlreiche Messungen der Oberflächentemperaturen mit exakten chronometrischen Positionsangaben wurden von ihm durchgeführt. Sein letztes Thermometer ging im Juli 18o4 auf der Rückreise von Philadelphia nach Bordeaux bei den Azoren zu Bruch.
Es war seinerzeit sehr schwierig, Tiefentemperaturmessungen im Ozean durchzuführen, aber einigen der frühen naturwissenschaftlich interessierten Seefahrer gelang es. Humboldt berichtet in seiner Reisebeschreibung nur von einem Versuch, den er kurz vor der Abreise nach Amerika in der Bucht von Ferrol in der ersten Juni-Woche 1799 anstellte. Häufig wird Humboldt die Erkenntnis zugeschrieben, dass polare Tiefenströme im Zuge der ozeanischen Gesamtzirkulation zum Äquator fließen und die dortigen kalten Temperaturen in der Tiefe erklären. Dies ist richtig für die Theorie, messen konnte Humboldt dies aber nicht. Er hatte aber eine im Prinzip richtige Vorstellung von Konvektionsvorgängen in arktischen und antarktischen Gewässern, ebenfalls eine Ahnung von dem Global Ocean Conveyor Belt, besonders hinsichtlich des Einflusses des Indischen Ozeans auf den Südatlantik (vgl. KORTUM 2001).
Entscheidende Hinweise auf die gerade heute im Mittelpunkt der internationalen Klimadiskussion stehende Variabilität des Ozeans finden sich bei Humboldt aber überraschenderweise versteckt in seinem Werk über Zentralasien (1843).
Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass Humboldt auch meeresbiologische Untersuchungen durchführte (vgl. hierzu u.a. KORTUM 1994 und bes. bereits THEODORIDES 1965).
Eine Zusammenstellung der verstreuten Texte und eine Gesamtbewertung der meereskundlichen Kenntnisse und Ideen Alexander von Humboldts unter Einbeziehung des bisher noch nicht veröffentlichten, ursprünglich für Band 2 der “Kleineren Schriften” (Band 1: 1853) vorgesehenen Manuskripts über Meeresströmungen ist in Arbeit und wird in Zusammenarbeit mit der Alexander von Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Zeit erstellt (zum Thema “Humboldt und das Meer” allgemein vgl. KORTUM 2001)
Humboldt hatte bekanntlich selbst ein großes persönliches Interesse an Wissenschaftsgeschichte. Dies zeigt sich besonders im 2. Band seines “Kosmos” sowie, was entdeckungsgeschichtliche und nautische Einzelfragen anbelangt, in akribischer Vielfalt seine “Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15. und 16. Jahrhundert“ (1836/1852). Über mehrere Jahrzehnte hat Humboldt in jeder Mußestunde gerade am letztgenannten Werk gearbeitet.
Inzwischen ist Humboldt und sein umfassendes Werk immer wieder Gegenstand der geowissenschaftlichen Disziplingeschichte geworden. Die Beschäftigung mit seinen Schriften ist zeitlos und mit den meist ohne Schwierigkeiten herzustellenden Bezug zu heutigen Forschungsfragen immer wieder lohnend.
Die Geschichte der Ozeanographie hat sich in den letzten 20 Jahren nun auch in Deutschland durch Bildung eines eigenen Arbeitskreises in der Deutschen Gesellschaft für Meeresforschung sowie die Begründung eines eigenen Organs (“Historisch-meereskundliches Jahrbuch”, hrsg. vom Deutschen Museum für Meereskunde und Fischerei in Stralsund) fest etabliert. In der internationalen Diskussion wurden die herausragenden deutschen Beiträge zur frühen Meeresforschung vorher zugunsten der angelsächsischen Traditionen nur mangelhaft wahrgenommen.
Das fortwährende Erbe Humboldts in der Ozeanographiegeschichte ist bisher trotz verschiedener Würdigungen gerade von Kieler Geographen und Ozeanographen noch keineswegs ausreichend gekennzeichnet (vgl. KRÜMMEL 1904, WÜST 1959, DIETRICH 1970, KORTUM 1990 und 1999, vgl. auch DEFANT 1960). Inzwischen wird Humboldt als einer der Pioniere allgemein anerkannt. Hierbei wird von allen Bearbeitern davon ausgegangen, dass sich die Meeresforschung im deutschen Sprachraum aus der Physischen Geographie entwickelt hat. Es war Humboldt, der dem amerikanischen Hydrographen M.F. Maury anlässlich dessen Besuchs in Berlin 1853 den Titel “Physische Geographie des Meeres” (1855) für sein langjähriges Standardwerk der Meereskunde vorgeschlagen hat. In der deutschen Meeresforschung ist über die vielfältige Arbeit und Wirkung des ehemaligen Museums und Instituts für Meereskunde eine ungebrochene Humboldt-Tradition bis heute festzustellen. Nicht zu Unrecht hängt sein Bildnis deshalb in der Reihe der Wegbereiter der Ozeanographie in der Eingangshalle des Instituts für Meereskunde an der Universität Kiel.
Humboldts Beiträge betreffen insbesondere die physikalische Ozeanographie, die Meeresbiologie und maritime Meteorologie, weniger die Meeresgeologie. Insgesamt stehen sie denen zur allgemeinen Klimatologie, Geologie, Pflanzengeographie, Geophysik, Astronomie, vergleichenden Erdkunde und anderen Wissenschaften an Bedeutung nicht nach und lassen Humboldt auch in dieser Hinsicht als großen Polyhistor und Nestor der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert erscheinen. Bereits zu seinem Tode war er ein Denkmal, und bis heute hat es mehrere Phasen erneuter intensiver Perzeption des Humboldtschen Denkens gegeben. Insofern bleibt die Beschäftigung mit Humboldt zeitlos. Gerade heute deutet sich wiederum anlässlich der 200-jährigen Wiederkehr seiner Ausreise nach Amerika ein erneutes Interesse an seinem Leben und Werk an, dies gilt insbesondere für alle ökologisch orientierten Disziplinen.
Humboldt stand forschungsgeschichtlich auch in Beziehung zur Meereskunde zwischen einzelnen Perioden, wie immer man diese abgrenzt. Fast wäre er, den Spuren des von ihm in der Studentenzeit hoch verehrten Lehrers und Reisegefährten Georg Forster folgend, zum Weltumsegler geworden. Die Periode der sog. “Weltumsegelungen” (Circumnavigations) ist klar abzugrenzen von Cooks Reisen bis zu den teilweise zeitgleichen Expeditionen der “Challenger” (1872-1876) und “Gazelle” (1874-1876). Es waren etwa zwei Dutzend Fahrten verschiedener Länder, die von Regierungen finanziert wurden und einen wissenschaftlichen Stab an Bord hatten, am Anfang vielseitige “Naturgeschichtler”. Darwins “Beagle”-Fahrt gehört hierzu. Wie Humboldt in den einleitenden Vorbemerkungen der “Reise...” ausführt, hatte er sich zur Teilnahme für die Weltumsegelung Kapitän Baudins fest vormerken lassen (und hierbei seinen Begleiter Bonpland kennen gelernt). Diese wurde dann aber verschoben, und Humboldt musste seine Reisepläne ändern. Er hatte aber noch in Südamerika die Absicht, zu dieser französischen Expedition zu stoßen, dies war sogar der Anlass, überstürzt aus Kuba nach Südamerika zurückzukehren. Ohne diesen Entschluss wäre Humboldt nie zum Chimborazo gelangt. Seinen nach vielen Mühen erlangten Spezialpaß für die spanischen Besitzungen in Amerika (heute würde man sagen Forschungsgenehmigung) ließ sich Humboldt dann auf die Philippinen erweitern, weil er immer hoffte, über den Pazifik und Indien nach Europa zurückzugelangen. Humboldt auf Forsters Spuren im Pazifik? Die Geschichte der Geowissenschaften wäre wohl anders verlaufen. Andererseits wären die Golfstrom-Untersuchungen Humboldts während der Rückreise dann nie entstanden. Als Begründer und Meister der vergleichenden Methode in der Erdkunde konnte er somit einen meeresgeographischen Vergleich der nordatlantischen und ostpazifischen Strömungssysteme in ihrer raumzeitlichen Variabilität vornehmen. Sein ungedruckt gebliebenes Memoir über Meeresströmungen trägt den Titel “Über Meeresströmungen im allgemeinen und über die kalte peruanische Strömung der Südsee im Gegensatze zu dem warmen Golf- oder Florida-Strome” (vgl. hierzu bereits KORTUM 1990). Diese Fragestellung ist in der gegenwärtigen Meeres- und Klimaforschung von höchstem Interesse. Man nimmt an, dass El-Niño- Effekte (ENSO: El Niño Southern Oscillation)) auch die dekadischen Schwankungen im Nordatlantik (NAO: North Atlantic Oscillation) beeinflussen könnten.
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