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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                      III, 4 (2002)
 
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Michael Zeuske

Humboldt, Historismus, Humboldteanisierung. 
Der "Geschichtsschreiber von Amerika", die Massensklaverei und die Globalisierungen der Welt.

 

7. Humboldt und Kuba

Das Verhältnis von Kuba zu Humboldt ist eigentümlich unscharf und gespalten[1]. Die Höflichkeiten, mit der er während seines Besuches von den Spitzen der Kolonialverwaltung und der kreolischen Oligarchie überhäuft wurde, machen es schwer, wirkliche Transfers[2] auszumachen. Zunächst fällt eine reale Intertextualität ins Auge. Die Herausgeber des Vives-Zensus von 1827 benutzten den Essai politique über Kuba und Humboldt selbst zitiert diesen Zensus im „Supplément“[3].

Vereinzelt schon in der Kolonialzeit, aber vor allem seit Ende der Kolonialzeit, etwa beginnend mit Morales y Morales[4], ist der „Entdecker Amerikas“ sehr positiv, im Tenor des „zweiten Entdeckers“ der Insel genannt worden.  Er gewann schnell den Rang eines „Großvaters der Unabhängigkeit“. Die weiße Eliten Kubas ahmten damit seit etwa 1880 einen Prozeß der ideologischen Humboldteanisierung (oder Humboldtisierung, humboldtización)  Kubas nach, den anderen nationale Eliten Lateinamerikas schon hinter sich hatten. [5]

Teodoro Hampe spricht von einem Modell der ‚Humboldtisierung‘, bei dem durch „ ... die Eingliederung von Elementen aus der westlichen Welt (Wissen, Technologie und Kapital) in Lateinamerika und anderen ‚unterentwickelten‘ Regionen eine Entwicklung ‚von innen heraus‘ angestrebt wird [6]“. So haben auch die Liberalen der Nachindependencia (vor allem in Mexiko) den Kulturtransfer der Humboldteanisierung unbewußt deutlich charakterisieren wollen. Ortega y Medina bezieht sich auf Ignacio Ramírez, “el Nigromante” der Liberalen, der für Mexiko eine humboldtización im Sinne einer wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und philosophischen Erneuerung auf liberalem Wege gefordert habe.[7]

Historische Humboldteanisierung muss aber viel mehr sein. Es ist nicht nur kulturell gebundener Wissensaustausch oder Wissensvermittlung, Ideologisierung und Manipulation Humboldts durch Verwendung seines Werkes und gebetsartige Anrufung seines Namens seitens der lateinamerikanischen (oder deutschen) Eliten. Historische Humboldteanisierung muß vor allem auch die Entstehung der Texte Humboldts und ihre Auffüllung mit Wissen durch Transfers, Medien und Kontakte mit der Realität (auch der zeitgenössischen diskursiven Realität) nachvollziehen. Es geht mir dabei nicht um Neuauflage des Ortega y Medina-Ansatzes von 1960 oder postmoderne Repetierung von Schattengefechten. Es muß auch nicht auf billige Weise Vatermörderei betrieben werden. Dazu haben Jaime Labastida und Ottmar Ette - in bezug auf Mexiko - das Wesentliche gesagt.[8] Sodann müsste die geistige Inkorporierung des Humboldtschen Amerika-Bildes (mit seinen Abteilungen: Mexiko-Bild, Kuba-Bild, Venezuela-Bild, Neu-Granada-Bild, etc.) in die europäische Geistesgeschichte nachgezeichnet werden. Dann erst – folgt man dieser Systematik - käme der nochmalige Transfer eines europäisch geadelten Amerika-Bildes in den Blick und seine Rolle bei der Formierung eines nationalen Imaginariums (und einer akademischen Elite) in den einzelnen Staaten Lateinamerikas. Sicherlich ist wegen der Parallelität vieler Prozesse diese Systematik manchmal eher störend als hilfreich. Aber davon ausgehend könnten dann die methodischen Finessen des transfert culturel-Ansatzes ausgelotet werden.

Das Verhältnis der kubanischen Elite zum Problem „Humboldt und Kuba“ war schwieriger als das der mexikanischen liberalen Elite. Es handelte sich faktisch um eine Humboldteanisierung aus zweiter Hand. Allerdings mit dem großen Vorteil gegenüber solchen Ländern wie Neu-Granada (die eine viel stärkere koloniale Wissenschaftstradition als Kuba hatten), dass Humboldt eben einen Kuba-Essay, aber keinen Neu-Granada-Essay (oder Peru-Essay) geschrieben hatte. Die kubanische intellektuelle Elite nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts das von Humboldt aus dem Abstand von zwanzig Jahren konstruierte Bild eines „großen Kuba“ gern auf.

Das „große“ Kuba der Generation Arangos zwischen 1791 und 1837 hatte eine Quasi-Unabhängigkeit[9] unter dem Deckmantel des spanischen Kolonialismus genossen. Humboldts Kuba-Bild in seinem Essai politique evoziert auch eine quasi unabhängige kreolische Elite. Francisco de Arango y Parreño empfand sich als gleichrangig mit dem preußischen Reisenden, der viel weniger als er selbst, Arango, über Kuba wusste.[10] Aber es ging nicht nur um positives Wissen, sondern auch um strategisches und konzeptionelles, heute würden wir sagen, „globales“, Denken und Politikberatung, die beide anstrebten. In dieser Art Politikberatung war Arango um 1800 viel erfolgreicher. Er hatte eine originelle ökonomische Konzeption für ein „großes Kuba“ entwickelt, die es erlaubte – und das auch noch zum historisch richtigen Zeitpunkt - , Modernisierung, liberale Marktwirtschaft und Sklaverei zusammen zu denken (Discurso sobre la agricultura, 1792[11]). Diese Konzeption diente, mit Abwandlungen, zur Entwicklung der Plantagenperipherien der Imperien Spaniens, Frankreichs und der USA sowie Brasiliens. Heutige Sklavereihistoriker haben daraus das Konzept der „zweiten Sklaverei“ entwickelt[12]. Arango begründete die Massensklaverei auch politisch und moralisch; er war einer der geistigen Väter des kubanischen Rassismus (1811). Humboldt selbst hielt die Reform-Konzeption Arangos für weitgehend richtig, die Basierung auf Sklaverei, Rassismus und Großbesitz aber für unmoralisch und falsch (nicht unmodern). 

 



[1] Faak, Alexander von Humboldt auf Kuba, Berlin: Alexander von Humboldt-Forschungsstelle, 1996² (Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 11); Leitner, Ulrike: Las obras de Alejandro de Humboldt sobre Cuba. In: Alejandro de Humboldt en Cuba. Catálogo para la exposición en la Casa de Humboldt. La Habana Vieja, octubre de 1997- enero de 1998. Augsburg: Wissner 1997, S. 51-60.

[2] Zur Methode des „transfert culturel“, siehe: Espagne, Michel/Werner, Michel, „Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des CNRS“, in: Francia 13 (1985), München 1986, págs. 502-510; Osterhammel, Jürgen, „Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft“, in: Haupt, Heinz-Gerhard; Kocka, Jürgen (eds.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main/New York: Campus, 1996, pp. 271-314; zuletzt: Paulmann, Johannes, „Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: Historische Zeitschrift, Band 267, S. 649-685; Matthias Middell, „Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis“, in: Comparativ, 10. Jg., Heft 1 (2000): Kulturtransfer und Vergleich, hrsg. v. Matthias Middell, S. 7-40.

[3] Alexander von Humboldt, Cuba-Werk, herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün, Detlev Haberland, Paulgünther Kautenburger, Eva Michels-Schwarz, Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino. Mit einer Karte am Schluß des Bandes (Alexander von Humboldt, Studienausgabe, Sieben Bände, hrsg. v. Hanno Beck, Bd. III), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992 (hier zitiert als "Cuba-Werk"), S. 178 und ff.

[4] Wir zitieren hier nur die wichtigsten Arbeiten: Luz y Caballero, José de la, De la vida íntima. Cartas a Luz y Caballero, La Habana, 1949, S. 120 (Brief Humboldts an Luz vom 31. Juli 1831); Ders., De la vida íntima. Epistolario y Diarios, la Habana, 1946; Morales y Morales, Vidal, „El barón de Humboldt en la Isla de Cuba“, in: El Figaro, La Habana, 6. Juni 1897, S. 258; Ibid., 21. Juni 1897, S. 286; Ibid., 22. Juni 1897, S. 300; siehe auch: Ortiz, Fernando, „Humboldt en Cuba“, in: ders., „Introducción biobibliográfica“, in: Ensayo político sobre la isla de Cuba, La Habana: Fundación Fernando Ortiz, 1998, S. XIII-XCIX, XXVII-XLIII; Branly, Miguel Angel, „Presencia de Humboldt en Cuba“, in: Revista Bimestre Cubana, La Habana (Enero-Junio 1959), S. 7-47; Cabrera, Migdalia, ”Alejandro de Humboldt en la historiografía cubana“, in: Islas. Revista de la Universidad de Las Villas, vol. XI, nº 3, Santa Clara (Septiembre-Diciembre 1969), S. 99-117; Alessio Robles, Vito; Ortiz, El barón Alejandro de Humboldt, La Habana: Casa de las Américas, 1969; Cuevas, Carmen, „Presencia de Alejandro de Humboldt en la Historia de Cuba“, in: Zeuske/Schröter, Alexander von Humboldt ..., S. 234-246; Almodóvar, Carmen, Antología crítica de la historiografía cubana (Época colonial, La Habana: Editorial Pueblo y Educación, 1986, S. 225-246.

[5] Zeuske, „Vater der Unabhängigkeit? - Humboldt und die Transformation zur Moderne im spanischen Amerika“, in: Alexander von Humboldt. Aufbruch in die Moderne, ed. Ette, Ottmar; Hermanns, Ute; Scherer, Bernd M.; Suckow, Christian (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 21), Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 179-224; Zeuske, ¿Padre de la Independencia? Humboldt y la transformación a la modernidad en la América española, in: Debate y perspectivas. Cuadernos de Historia y Ciencias Sociales, Madrid, No. 1 (Diciembre de 2000): Alejandro de Humboldt y el mundo hispánico. La Modernidad y la Independencia americana, coord. Por Miguel Ángel Puig-Samper, S. 67-100.

[6] Hampe Martínez, Teodoro, „’Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt’. Humboldt und die Politik“, in: Netzwerke des Wissens ... , S. 34.

[7] Mein Ansatzpunkt in bezug auf die „humboldeanización“ war bisher José Miranda. Das geht offenbar auf einen Fehler meiner Rezeption eines Kossok-Artikels zurück: Kossok, „Alexander von Humboldt und der historische Ort der Unabhängigkeitsrevolution  Lateinamerikas ...“, passim, hier S. 4, Fußnote 22, wieder abgedruckt in: Kossok, Ausgewählte Schriften, 3 Bde., Middell, Matthias (ed.), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2000; Bd. I: Kolonialgeschichte und Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika, hrsg. v. Middell, Matthias u. Zeuske, Michael, S. 251-271. Bei José Miranda, “Alexander von Humboldts 'Politischer Versuch über das Königreich Neu-Spanien'”, in: Alexander von Humboldt: Vorträge und Aufsätze anlässlich der 100. Wiederkehr seines Todestages am 6. Mai 1959, hrsg.v. Johannes F. Gellert, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1960, S. 81-87 (verlesen in der Festveranstaltung der Geographischen Gesellschaft der DDR am 7. Mai 1959) findet sich zwar eine fulminante Behandlung des Themas “Humboldt als unbewußter Vorreiter des britischen Kolonialismus”, aber kein Begriff der “Humboldteanisierung”, zumindest nicht expressis verbis.

[8] Teodoro Hampe, „‘Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt‘ Humboldt und die Politik“, in: Humboldt, Alexander von, Netzwerke des Wissens ..., S. 34; Juan A. Ortega y Medina, “La “humboldtización” de México”, in: Ortega y Medina, Humboldt desde México, México: UNAM, 1960, S. 78-84; Ders., “Estudio Preliminar”, in: Humboldt, Alejandro de, Ensayo Político sobre el Reino de la Nueva Granada, México: Editorial Porrúa, 1965, S. XLVI (ich danke Dr. Miguel Angel Puig-Samper Mulero, Madrid, für den Hinweis); Labastida, Jaime, Humboldt, ese desconocido, México, D.F.: Secretaría de Educación Pública, 1975; Ette, “’Unser Welteroberer’: Alexander von Humboldt, der zweite Entdecker, und die zweite Eroberung Amerikas”, in: Amerika 1492-1992. Neue Welten – neue Wirklichkeiten, 2 Bde., Berlin: Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 1992, II. Bd.: Essays, S. 130-140.

[9] Maestri, Raúl, Arango y Parreño: El Estadista sin Estado, La Habana: Publicaciones de la Secretaria de Educación; Dirección de Cultura, 1937; Guerra, Ramiro, „Francisco de Arango y Parreño, Patriota y Habanero. Su posición en la Historia de Cuba“ [Einleitung zu:] Arango y Parreño, Francisco de, Obras de Don Francisco de Arango y Parreño, 2 Bde., La Habana: Publicaciones de la Dirección de Cultura del Ministerio de Educación, 1952, I, S. 11-23. Die Familie Arango führte ihre Abstammung nach Navarra zurück, siehe: Minguet, Alejandro de Humboldt ..., I, S. 321, Anm. 22.

[10] Arango y Parreño, Francisco de, „Observaciones al Ensayo Político sobre la Isla de Cuba del Sr. Barón de Humboldt“, in: Boletín del Archivo Nacional, tom. LVI, La Habana (Enero-Dic. 1957), S. 36-43. (Beobachtungen Arangos über den Essai Politique; der Originalbrief Arangos an Humboldt findet sich in: Staatsbibliothek  zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Nachlaß Alexander von Humboldts, Kleiner Kasten 7b, nº 69.)

[11] Arango y Parreño, "Discurso sobre la agricultura de La Habana y medios de fomentarla", in: Documentos para la historia de Cuba, 5 vols. in 4 Bden., Pichardo, Hortensia (ed.), La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1973, Bd. I, S. 162-197.

[12] Tomich, „The ‚Second Slavery‘: Bonded Labor and the Transformations of the Nineteenth-century World Economy“, in: Ramírez, F.O. (ed.), Rethinking the Nineteenth Century, Stanford, CA.: Stanford University Press, 1988, S. 103-117.

 

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