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Heinz Krumpel

Identität und Differenz
Goethes Faust und Alexander von Humboldt

3. Mensch und Natur

Goethes Faust wie auch Humboldt gehen von der Einheit von Natur und Mensch aus. Eine Einheit, die durch die schöpferische Tätigkeit des Menschen vermittelt ist. In ihrer Naturphilosophie waren Goethe und Humboldt, wie es in Goethes Faust zum Ausdruck kommt, von den Ideen Schellings beeinflusst. Das Vorurteil von Friedrich Schiller, nach dem Humboldt nur die Welt schamlos ausgemessen habe, wurde von Humboldt selbst gründlich widerlegt. Humboldt hat in seinem Briefverkehr wiederholt darauf hingewiesen, dass er während seiner Forschungsreise von einem Gefühl durchdrungen gewesen sei, wozu Goethes Naturansichten ihm eine Vielzahl von Anregungen vermittelt haben und zur Erweiterung seiner ästhetischen Vernunft beitrugen.

Goethes dynamische ganzheitliche Morphologie hat auf Humboldts Weltbetrachtung stark gewirkt und Spuren hinterlassen. Adolf Meyer-Abich hat zu der Thematik »Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt« eine ausführliche Arbeit vorgelegt.[1] Zwischen Goethes Pflanzenmorphologie und Humboldts Pflanzengeographie besteht eine Denkgemeinschaft.[2]

Humboldt ging es nicht nur um eine Vermessung der Welt, sondern um einen Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte. In seinem fünfbändigen Kosmos arbeitet er an Hand empirischen naturwissenschaftlichen Materials und seiner theoretischen Verallgemeinerung die Genesis des Zusammenwirkens der Kräfte zwischen Himmel und Erde heraus, was auch in poetischer Weise Goethes Anliegen in seinem Faust war. Die von Goethe ausgehenden naturwissenschaftlichen – ästhetischen Prinzipien findet man auch in Humboldts Kosmos. Das von Goethe konzipierte »Organ« der ästhetischen Vernunft stieß jedoch bei Humboldt auch auf Skepsis. In einem Brief an Varnhagen von Ense schreibt er: »Die Hauptgebrechen meines Stils sind eine unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen, eine lange Partizipal-Konstruktion und ein zu großes Konzentrieren vielfacher Ansichten, Gefühle in einem Periodenbau.«.[3]

Faust sucht in entscheidenden Wendepunkten seines Lebens, Kraft aus der Natur zu gewinnen. Auch Humboldt sieht in der Natur eine für den Menschen wesentliche Quelle der Kraft. In seiner Vorrede zu seiner Schrift Ansichten der Natur schreibt er: »Überall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und ihre Schicksale ausübt. [...] Wer sich herausrettet aus der stürmischen Lebenswelle, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andenkette. Zu ihm spricht der weltrichtende Chor: Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte; Die Welt ist vollkommen überall, Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual«.[4] Für Faust ist die Natur ein Partner, um in Zwiegesprächen mit ihr sich selbst Klarheit zu verschaffen. Darüber hinaus ist sie für ihn ein geheimnisvolles liebevolles Wesen, das er immer wieder von neuem umwirbt. Für Faust ist die Natur vor allem deshalb wichtig, da er hofft, aus ihr wundersame Kräfte für einen Neuanfang zu schöpfen. Hierbei muss gesehen werden, dass die Natur für Goethe die Vermittlung zwischen Faust I und Faust II darstellt. Dies darf nicht im Sinne der Fortsetzung der Tragödie verstanden werden, sondern die Natur ist der Kreislauf des natürlichen Geschehens. Die heilenden Kräfte der Sonne und der Nacht sollen Unregelmäßigkeiten und Störungen zwischen Mensch und Natur rückgängig machen. Faust ist bemüht, daraus eine neue Erfahrungsgrundlage für ein neues Leben zu gewinnen.

Im ersten Akt des zweiten Teils der Tragödie wird die Natur zum Kraftquell eines Neuanfangs. Ohne die aus der Natur hervorgehende Kraft kann es Faust nicht gelingen, das Vergangene zu vergessen. Der erste Akt, »Anmutige Gegend«, verdeutlicht dies. »Faust auf blumigen Rasen gebettet, ermüdet, unruhig, schlafsuchend. Dämmerung. Geisterkreis schwebend bewegt, anmutige kleine Gestalten. Ariel (Gesang von Äolsharfen begleitet). Wenn der Blüten Frühlingsregen / Über alle schwebend sinkt, / Wenn der Felder grüner Segen / Allen Erdgeborenen blinkt, / Kleiner Elfen Geistergröße / Eilet wo sie helfen kann, / Ob er heilig? Ob er böse ? / Jammert sie der Unglücksmann« (V. 4615)[5]

Ariel beschreibt hier den Kreislauf der Natur, indem er ihn in Verbindung zum menschlichen Lebensrhythmus bringt. Zu Beginn des II. Teils ist die Geisterwelt in der Natur beheimatet. Die Lichtmetaphysik wird hier als eine neue Kraftquelle des Lebens entdeckt. »So bleibt denn die Sonne mir im Rücken! /Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, Ihn schau ich an mit wachsendem Entzücken«(V.4715)[6]. Im Unterschied zur Lichtmetaphysik, die im ersten Teil auf Faust einen Einfluss ausübt, hat diese Metaphysik im II Teil ihre Kraft verloren. Aus den Lichtübergängen, der Dämmerung, »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« (V4725)[7], wird die Kraft der Erscheinung lumen naturale gespeist. Auch bei Humboldt finden wir die Lichtmetaphysik im Sinne der Ausleuchtung des expandierenden europäischen Raums.

Es soll hier nicht Aufgabe sein, die Goethische Naturphilosophie, wie sie sich in den Faustdichtungen niederschlägt, näher zu erörtern. Doch Goethes und Humboldts Naturansichten ähnelten sich. Beide waren Anhänger des Holismus. »Holismus heißt jene Philosophie, für die die ganze Natur – physisch, organismisch und seelisch – eine lebendige Ganzheit bildet, eben ein Holismus«[8]. Im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Die Ansichten der Natur lesen wir in der Vorrede: »Überblick der Natur im großen Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe«[9].

Humboldt lehnte, bei aller Bedeutung des Experiments für die Naturwissenschaften, einen Instrumentalismus ab, der, wie es in Goethes Faust heißt, mit »Hebeln und Schrauben« der Natur auf die Schliche kommen wollte. Humboldt war nie ein mechanistisch denkender Naturwissenschaftler. Er richtete sich gegen eine Weltbetrachtung, welche die Natur aus technischer Sicht im Sinne einer Weltmaschine bzw. als eine Sammlung von Mechanismen interpretierte. Liest man Goethes Fragment über die Natur und Humboldts »Rhodischen Genius«, dann empfindet man unmittelbar, dass beiden Essays ein und dieselbe Lehre von der Natur zugrunde liegt. Die bei Goethe und Humboldt anzutreffende Verknüpfung von Realismus und Romantik erhält in dem Begriff »Naturgemälde« eine eigene Wortschöpfung Humboldts, seinen Ausdruck. Unter einem Naturgemälde versteht er die Synthese von Begriff und Anschauung, von Wissenschaft und Ästhetik.

Die Idee des Naturgemäldes beinhaltet die Harmonie der physischen Natur mit der moralischen bzw. die Harmonie von Natur und Geschichte.

In den 29 Bänden von Humboldts Reisewerk sind die empirischen Fakten und Beschreibungen seiner Lehre von den physiognomischen Naturgemälden enthalten, die sich dann in seinem Hauptwerk Kosmos zu einer universalen Weltansicht der lebendigen irdischen und himmlischen Natur, in welcher die Menschen existieren, vereinigen. Humboldts Ideen orientieren auf eine Internationalisierung und Interdisziplinarisierung der Naturwissenschaften. Insofern kann man sagen, dass das globale Dorf der modernen Naturwissenschaften von Humboldt vorgedacht wurde. Unter dem Begriff Freiheit verstand Humboldt im Sinne Goethes Bildung. Für ihn ist Bildung identisch mit einer endlich gewonnenen Freiheit.[10] Gegen den Prozess einer ständig anwachsenden Information und Überinformation ist für ihn die Bildung ein wirksames Gegengewicht.

Das Mensch – Naturverhältnis wird im Faust einerseits als Bedrohung und andererseits als Rettung verstanden. Faust nimmt visionär die Zerstörung seiner eigenen Tätigkeit wahr und setzt dem Widerstand entgegen. Denn »Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungene; Den faule Pfuhl auch abzuziehn  Das letzte wär das Höchsterrungene« (V.11560)[11].

Faust kann nicht annehmen, dass die Bedrohung vorübergeht. Vielmehr müssen auch hier, durch eine sich immer wieder neu zu setzende Tätigkeit, Widerstände überwunden und Freiheit gewonnen werden. Knechtschaft liegt im Beharren. Ein Aspekt, den Humboldt auch seiner Schrift über die Freiheit des Menschen zugrunde legte. Goethe hat in dem Versuch einer Witterungslehre formuliert: »Insofern sich nun der Mensch den Besitz der Erde ergriffen und ihn zu erhalten Pflicht hat, muß er sich zum Widerstand bereiten und wachsam erhalten [...] Die Elemente sind als kolossale Gegner zu betrachten, mit denen wir ewig zu kämpfen haben, und sie nur durch die höchste Kraft des Geistes, durch Mut und List im einzelnen Fall bewältigen«[12]. Hierbei geht Goethe in seinen Versen über das Verhältnis, Mensch-Natur hinaus und schließt gesellschaftliche Erfahrungen mit ein. In ähnlicher Weise hat sich Humboldt über seine naturwissenschaftlichen Arbeiten hinaus u.a. auch mit den schon weiter oben erwähnten sozialen Fragen beschäftigt. Aus heutiger Sicht geht es bei dem faulen Pfuhl auch um die Trockenlegung jenes Sumpfes, in dem Unterdrückung, Ausbeutung und Verletzung der Menschenwürde gedeihen. Die Trockenlegung dieses Sumpfes, einschließlich der Ursachen von den zahlreichen regionalen Kriegen auf unserem Planeten ist eine Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Hier zeigt sich u.a., dass die Aufklärung bis heute ein unvollendetes Projekt ist. Der Monolog von Faust am Schluss von Teil II der Tragödie bringt den Gemeindrang gegen jene Elemente zur Geltung, welche die menschliche Existenz bedrohen und ermöglicht für Faust jene subjektive Reflexion, die in den Worten gipfelt: »Ja diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss« (V.11575)[13]. Fausts Visionen treten nun deutlich hervor: »Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn« (V.11580) [14].

Humboldt wusste, dass die Elemente kolossale Gegner sind, mit denen die Menschen ständig zu kämpfen haben. Sie zu erforschen war für ihn kein bequemer Genuss, sondern rastlose Tätigkeit. Denn nur, wenn der Mensch die Naturgesetze kennt und sie entsprechend seiner Bedürfnisse zu lenken versteht, kann er sich in zunehmendem Maße frei machen von ihrer blinden Wirksamkeit. Die Klimatologie, Ökologie, Ozeanographie, Hochgebirgsforschung, Landeskunde, Kartographie, die Geographie der Pflanzen haben durch seine Beobachtungs- und Messergebnisse ihre Bereicherung erfahren. Aus dem Vergleich der Vulkane bzw. ihrer Zuordnung zueinander resultierte seine Spaltentheorie. Im Streit um die Entstehung der Basalte grenzte er sich von Goethe ab. Humboldts erdmagnetische Intensitätsbestimmungen, die er miteinander in Beziehung setzt, führten zu seiner Entdeckung des Gesetzes der Abnahme der Totalintensität der magnetischen Feldstärke von den magnetischen Polen der Erde zum magnetischen Äquator. Humboldt verbindet seine exakten Messungen mit einer ganzheitlichen Naturbetrachtung und wird damit zu einem Wegbereiter für die Anwendung der Mathematik im Bereich der Ingenieur- und Naturwissenschaften. Die internationalen Netzwerke für die Beobachtung des Erdmagnetismus haben wesentliche Impulse von Humboldts Forschungen erhalten. Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er in seinem 34 Bände umfassenden selbst finanzierten Reisewerk Relation historique du Voyage aux régions equinoxiales du Nouveau Continent.

Zum Schluss soll zusammenfassend noch folgendes festgehalten werden. Wenn es auch zwischen Goethe und Humboldt, infolge des Vulkanismusstreits, unterschiedliche Meinungen gab so fand Goethe, wie anfangs schon erwähnt, viele bewundernde und anerkennende Worte über Humboldt. Beide waren Persönlichkeiten der Aufklärung. Ihre Ideen und Visionen weisen uns heute darauf hin, das die Moderne ein unvollendetes Projekt ist. Goethes Faust besitzt, im Kontext von Tätigkeit, Erkenntnis, Vision sowie Mensch und Natur einen humanistischen Gehalt der sich auch in den Persönlichkeiten von Goethe und Humboldt wiederfindet. In Goethes Faust steht u.a. die Frage nach dem Wesen des Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung. Eine Frage die auch beinhaltet, dass in jedem Menschen das faustische und mephistophelische Prinzip enthalten ist. In der Dialektik zwischen Tätigkeit und Erkenntnis erschließt sich der Sinn menschlichen Lebens und des darin enthaltenen Hoffnungspotentials. Wie ein Blick auf die Geschichte zeigt, stellten sich die Menschen bisher nur Aufgaben die sie auch zu lösen vermochten. Die in der Gegenwart durch die menschliche Tätigkeit hervorgerufene globale Erderwärmung ist eine solche Aufgabe. Zur Bewältigung dieser Aufgabe ist die Tatkraft und Erkenntnis von Faust und Humboldt erforderlich. Dass diese Tatkraft allerdings unter den Bedingungen des kapitalistischen Erwerbsgeistes, wie die Faust-Karriere zeigt, auch ein enormes Gewaltpotential in sich birgt, brachte Goethe im Teil II der Tragödie zum Ausdruck. Das Niederbrennen der Hütten von Philemon und Baucis hat nichts gemein mit den humanistischen Ideen Goethes und Humboldts. Die Verstrickung faustischer Tätigkeit in machtpolitische Mechanismen schließt Hoffnung jedoch nicht aus. Denn die zentrale These der Aufklärung, »Der Mensch ist Schöpfer seiner eigenen Geschichte« lässt auch die Möglichkeit zu, die sozialen Umstände menschlich zu gestalten. Denn der Mensch ist durch die Umstände nicht mechanisch determiniert, sondern er kann sie und damit sich selbst verändern.»Eröffne ich Räume vielen Millionen, [...] Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß« (V.11565)[15].



[1] Vgl. Meyer-Abich, Adolf: Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt, a.a.O.

[2] Ebenda, S. 115 ff.

[3] Humboldt, Alexander von: Über die Freiheit des Menschen, a.a.O., S. 27-28.

[4] Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 6.

[5] Goethe, Johann Wolfgang: Faust Der Tragödie Zweiter Teil, a.a.O., S. 3.

[6] Ebenda, S. 6.

[7] Ebenda.

[8] Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur. Nachwort von Adolf Meyer–Abich. Stuttgart: Reclam 1969, S. 163.

[9] Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur, Ausgabe von 2004, a.a.O., S. 5.

[10] Vgl. Humboldt, Alexander von: Über die Freiheit des Menschen, a.a.O.

[11] Goethe, Johann Wolfgang: Faust Der Tragödie Zweiter Teil, a.a.O., S. 203.

[12] Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Hg. von Erich Trunz, Bd. 13. Hamburg: DTV 1958, S.309.

[13] Goethe, Johann Wolfgang: Faust Der Tragödie Zweiter Teil, a.a.O., S. 203.

[14] Ebenda, S. 203.

[15] Ebenda.

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Letzte Aktualisierung: 21 Juni 2007 | Kraft
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