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Gespiegelte Fassung auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam
Stand: 12. August 2005
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     I, 1 (2000)
 
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Petra Werner: Übereinstimmung oder Gegensatz?
Zum widersprüchlichen Verhältnis zwischen
A. v. Humboldt und F. W. J. Schelling

 

1. Anliegen der Arbeit

Alexander von Humboldt, der Forschungsreisende und vielseitige Naturwissenschaftler mit literarischem Anspruch, gehört zu den Forschern, die gern auf die Kontinuität ihres eigenen Denkens verwiesen haben. So gibt es von ihm in Veröffentlichungen und Briefen zahlreiche Bemerkungen, in denen er auf alte Ideen und Konzepte verwies, denen er sich verpflichtet fühle - sie finden sich vor allem in dem zwischen 1845 und 1862 in fünf Bänden veröffentlichten Alterswerk "Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung." Eine solche Leitidee ist der "Ganzheitsgedanke", der sich durch das Lebenswerk Humboldts wie ein roter Faden zieht. Bereits in seinen sehr frühen Schriften (mindestens ab 1797) äußerte Humboldt den Wunsch, seine Ergebnisse in ein System einzuordnen.(1) Auch in der Vorrede zur 1808 erschienenen ersten Ausgabe von "Ansichten der Natur" betonte er, etwas "geschlossenes Ganzes" machen zu wollen. Mit der Frage, wie der Beitrag Humboldts in seinem Gesamtwerk für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften zu bewerten ist, tauchen Fragen nach seiner Flexibilität bzw. dem Beharrungsvermögen hinsichtlich seiner Konzeptionen, Arbeitsmethoden, Arbeits- und sozialen Kontakte innerhalb der großen Gruppe von Wissenschaftlern und anderen Persönlichkeiten auf, mit denen er in Verbindung stand.(2)

Die Konzeption von Humboldts Gesamtwerk hat bisher besonderes Interesse hervorgerufen, zumal von seinen Zeitgenossen weniger der empirische Beitrag zur Entwicklung einzelner Disziplinen geschätzt wurde als seine allgemeinen Überlegungen zur Naturbetrachtung.(3) Einige Wissenschaftler haben im 19. Jahrhundert den Versuch unternommen, Humboldts Konzept näher zu charakterisieren. Der Physiologe Julius Victor Carus sprach vom "Totaleindruck" als ästhetischem Konzept,(4) einer Meinung, der sich auch Humboldts Biograph Karl Bruhns anschloß, nach dessen Auffassung der literarische Zweck des Werkes "Kosmos" hinter dem wissenschaftlichen verschwinde.

Die Einordnung des Humboldtschen Konzepts in die Kulturgeschichte hat der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme vorgenommen - er verdeutlichte, daß Humboldt an der das Denken des Abendlandes bestimmenden dreipoligen Denkfigur "Naturforschung, Ästhetik, Selbstreflexion" festhielt und sich im Spannungsfeld zwischen der "Unerschütterlichkeit seiner starken Überzeugungen" und der Zeitströmung bewegte, die nicht nur durch ein sich dynamisch entwickelndes empirisches Naturwissen gekennzeichnet war. Böhme äußerte nach Vergleich früher Schriften mit dem Alterswerk Humboldts die Idee von dessen konzeptioneller Stagnation, konstatierte "eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit" Humboldts.(5) Für den Wissenschaftshistoriker ist diese Idee sehr anregend und es kommt die Frage auf, ob diese "Entwicklungslosigkeit" am "Ganzheitskonzept" des "Kosmos" festzumachen sei, oder ob dieses Raster zu grob ist und feinere Bewertungskriterien zur Einschätzung konzeptioneller Entwicklung bei Humboldt eingeführt werden müßten, beispielsweise der seiner wissenschaftlichen Auffassungen und Arbeitsmethoden.

Mit der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, im Rahmen eines größeren Projekts einen kleinen Beitrag zur Untersuchung der Entwicklung des Humboldtschen Denkens zu leisten - immerhin liegen zwischen den ersten Publikationen Humboldts und dem Abschluß seines fünfbändigen Alterswerkes "Kosmos" etwa 60 Jahre. Bei der Analyse des "Kosmos" fällt auf, daß eine Reihe langjähriger Briefpartner Humboldts, die der Naturphilosophie nahestanden, mit ihren Arbeiten und Auffassungen in diesem 5-bändigen Werk nicht, beiläufig oder mit Distanz genannt werden. Dies hat nicht nur konzeptionelle Gründe. Sollte Humboldt eine "geistige Entwicklung" genommen haben, die ihn von der Naturphilosophie wegführte? Bereits 1969 sprach Mario Bunge bei Humboldt auch von einer "semiromantischen Periode",(6) Kristian Köchy rechnete ihn dem "empirischen und antispekulativen Ende des romantischen Spektrums" zu.(7) Für die philosophische Grundkonzeption der "romantischen Gemeinschaft" spielte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling eine große Rolle. Dies zu prüfen, ist für den Wissenschaftshistoriker besonders reizvoll, zumal der als Begründer der romantischen Naturphilosophie bekannt gewordene F. W. J. Schelling zu den langjährigen Briefpartnern A. v. Humboldts gehörte.

Die Untersuchung konzentriert sich auf die Auswertung des Briefwechsels zwischen Humboldt und Schelling sowie Humboldt und einer Reihe der romantischen Naturphilosophie nahestehenden Naturforschern und Ärzten.(8) Ich behaupte, daß sich in dem Briefwechsel mit dieser Gruppe, der große Kontinuität aufweist und sich oft über Jahrzehnte hinzog, von der Tendenz her ein inhaltlicher Wandel abzeichnet: wissenschaftlicher Austausch und Übereinstimmung in den Auffassungen, wurden mit den Jahren mehr und mehr durch soziale Kooperation in Berufungsfragen und Abstimmung in wissenschaftspolitischen Fragen ersetzt. Humboldt paßte Schelling und auch andere seiner Korrespondenzpartner sozusagen in ein Beziehungsgeflecht "gegenseitiger sozialer Unterstützung" ein. Hier überlagern sich mehrere Effekte - einerseits handelte es sich durchaus um ein "Rückzugsgefecht" Humboldts, da er nun andere Auffassungen als seine Briefpartner vertrat und an Diskussionen nicht mehr interessiert war, hing aber andererseits auch mit der Zunahme seiner wissenschaftsorganisatorischen und wissenschaftsfördernden Interessen zusammen. Hinzu kommt, daß einige dieser Korrespondenzpartner inzwischen durch ihre Funktionen größeren Einfluß im Wissenschaftsbereich hatten und Humboldt bei der Durchsetzung seiner Ideen und Ziele sehr nützlich sein konnten. Daß es sich bei Humboldt nicht um eine generelle Abwendung von der Wissenschaft hin zur Wissenschaftsorganisation handelte, wie bei vielen seiner Altersgenossen, belegt der Ausbau seiner Beziehungen zu jüngeren, experimentierenden Wissenschaftlern - mehr als 66 Gelehrte trugen zur Erweiterung seines mit den Bänden I und II skizzierten "Naturgemäldes" bei, wie sie sich in den Bänden III bis V darstellt. Dies, so wird zu zeigen sein, ist Ausdruck einer Entwicklung Humboldts als komplementäre Tendenz zu der von Böhme behaupteten Stagnation.

 

Anmerkungen:

(1) So beschrieb er 1799 seine Absicht, das Zusammen- und Ineinanderweben aller Naturkräfte untersuchen zu wollen. Vgl. Brief A. v. Humboldt an D. Friedländer v. 11. 4. 1799. In: Jahn/Lange 1973, S. 657-658.

(2) Sein Zeitgenosse Julius Ewald (vgl. J. Ewald 1872, S. 102-185), aber auch in neuerer Zeit Wolf von Engelhardt (vgl. W. v. Engelhardt 1999) bescheinigten ihm Lernfähigkeit, da er die unter dem Einfluß des Geologen Gottlob Abraham Werner gewonnenen Überzeugungen über Vulkanismus im Laufe des Lebens vollständig gegen andere ausgetauscht habe. August R. H. Grisebach (vgl. A. Grisebach 1872. In: Bruhns 1872, S. 232-268) nannte Wandel und Beharrung zugleich, indem er einerseits erwähnte, der Gelehrte habe über drei Menschenalter hinweg im Sinne seiner Zeit gelebt, deren Bestrebungen er in mehrfacher Hinsicht wissenschaftlich vertrat - zugleich habe er ihr aber auch als eine durchaus selbständige Natur den Stempel seines Geistes aufgedrückt. Der Physiologe J. V. Carus war noch vorsichtiger, indem er jede Beurteilung von Leistung und Entwicklung ablehnte - er wollte Humboldt nicht wie einen Zoologen vom Fach beurteilen, um ihn nicht auch kritisieren zu müssen. Vgl. J. V. Carus 1872. In: Bruhns 1872, S. 269-300.

(3) So zitierte J. V. Carus Humboldts Credo, das Grundprinzip seines Werkes Kosmos sei in dem Streben enthalten, die Welterscheinungen als Ganzes aufzufassen bzw. es enthalte die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen als eines Naturganzen. Zwar habe Humboldt, so Carus, sehr spät dieses Credo so explizit ausgedrückt, doch gehe derselbe Zug schon durch seine früheren Arbeiten. Unter Hinweis auf einige vor dem Alterswerk Kosmos veröffentlichte Arbeiten Humboldts, so z. B. Relation historique als auch Ansichten der Natur, betonte Carus, Humboldt habe die Verkettung der Tatsachen mehr angezogen als ihre isolierte Kenntnis. Vgl. J. V. Carus 1872.

(4) Indem er davon spricht, daß es eben dieser sei, welchen die Tierwelt teils in ästhetischer Beziehung, teils in Bezug auf ihre geographische Verschiedenheit mache.

(5) Vgl. Böhme 1999. Wesentliche Ideen äußerte Böhme bereits auf einer Tagung im Mai 1999.

(6) Vgl. Bunge 1969. In: Pfeiffer 1969, S. 18. Nach Bunges Meinung reichte die "semiromantische Periode Humboldts" von ca. 1790-1800.

(7) Köchy bezieht sich hier auf Äußerungen Humboldts aus dem "Kosmos" Band 1, vgl. Humboldt 1845, S. 68.

(8) Diese Arbeit soll bei anderer Gelegenheit fortgeführt werden.

 

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