Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     II, 3 (2001)
 
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Ulrike Leitner: Unbekannte Venezuela-Karten
Alexander von Humboldts

 

3. Eine Karte des Casiquiare

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Humboldts Karte zu seinem Artikel über die Verbindung zwischen Orinoko und Amazonas, in: Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmels-Kunde 26(1812) v. Sept., S. 230-235.

Diese Karte publizierte Humboldt als Anhang zu einem Artikel (16) im September 1812 in einer geographischen Zeitschrift. So bot sich ihm die Gelegenheit, vorab eines der wesentlichsten Ergebnisse seiner Amerikareise, das dann später ausführlich in der "Relation historique" beschrieben wurde, darzulegen. Humboldt hat damit die bis zu seiner Amerikareise immer wieder geäußerten Zweifel an der Verbindung der großen Flüsse Orinoko und Amazonas, die auch von wirtschaftlichem Interesse war, widerlegt und zweitens ein interessantes hydrographisches Phänomen, die Bifurkation, wissenschaftlich untersucht. Hören wir ihn selbst: "... ich habe den Lauf der Flüsse durch eine beträchtliche Anzahl astronomischer Beobachtungen bestimmt; ich bin mit Hrn. Bonpland den Atabapo, den Tuamini und den Terni hinaufgegangen; ich habe mein Canot von Javita über den Schlangenwald bis zum Canno Pimmichin tragen lassen; ich bin auf diesem Fluss in den Guainia eingelaufen, welchen die Europäer Río negro nenen; auf dem Guainia bin ich abwärts gefahren bis zu dem kleinen Fort San Carlos; alsdann bin ich den Cassiquiare aufwärts gegangen bis zu der Stelle, wo er sich vom Orinoco trennt; und auf diesem wieder herunter bis nach San Thomas de Guiana, und habe auf diese Weise die Gebirgskette, von welcher man wähnte, dass sie die Gewässer des Orinoko und Cassiquiare von einander trennte [das Haupargument der Verbindungsgegner] im Canot durchschnitten. Diese Fahrt, die bey niedrigem Wasserstande gemacht, und durch nichts als durch die Stelle bey Javita unterbrochen worden war, hat nicht den geringsten Zweifel über die Spaltung des Orinoco ganz nahe bey seinem Ursprung übrig gelassen." (17)

Im Kap. XXIII der Relation historique (erschienen erst 1821!) hat Humboldt später seine Beobachtungen zur Bifurkation verallgemeinert dargelegt. Er vergleicht hier die Gabelteilung des Orinoko mit denen verschiedener anderer Flußsysteme und geht auf Spekulationen ein, ob der Casiquiare durch Anschwemmungen allmählich verstopft werden könne. Dieses Kapitel ist ein typisches Beispiel für Humboldts genaue Beobachtungs- und Beschreibungsweise und der damit verbundenen Archiv- und Literaturstudien. Diese sind vermutlich während der Ausarbeitung der Relation historique geschrieben worden, wie ein Vergleich mit den Tagebüchern zeigt. Humboldt stellt damit seine eigenen Beobachtungen in einen größeren Zusammenhang, hier zuerst im Gebiet der vergleichenden Hydrologie und dann in der Geschichte der Entdeckungen dieser Erscheinung. Über mehrere Seiten beschreibt er schriftliche und mündliche Berichte über das Phänomen der Verbindung beider Flußsysteme: Die "seltsamsten und unwahrscheinlichsten Flußverbindungen" seien überliefert worden. "Es ließe sich auf den Orinoco anwenden, was der Pater Acuna vom Amazonenstrom, dessen Wunder er beschrieben hat, sagt: Nacieron hermanados en los cosas grandes la novedad y el descrédito." (18) Es folgt dann - auch dies typisch für Humboldt - eine optimistische Vision für die Entwicklung von Handel und Wirtschaft durch die Nutzung dieser Verbindung, vor allem nach den Unabhängigkeitsbewegungen der lateinamerikanischen Länder: "Seit ich die Gestade des Orinoco und des Amazonenstromes verlassen habe, hat eine neue Zeitrechnung für die Völker des Westens begonnen. Den Sturmgewittern bürgerlicher Zwiste werden die Segnungen des Friedens und eine freiere Entwicklung gewerbtreibender Künste folgen. Diese Gabelteilung des Orinoco, diese Landenge des Tuamini, welche ein künstlicher Kanal so leicht durchschneiden kann, werden die Blicke des handeltreibenden Europa auf sich ziehen."(19) Im Tagebuch war er sogar so weitgegangen, zu behaupten: "Der Orinoco ist der eigentliche Schlüssel von Süd-Amerika..."(20)

Zur präzisen Klärung der Ursachen des Phänomens der Gabelteilung hat V. Vareschi während der Humboldt-Gedächtnis-Expedition 1958 zahlreiche Messungen durchgeführt.(21) Er zeigte, daß die Fastebene zwischen Orinoko und Amazonasstrom das Werden und Entstehen von Wasserscheiden begünstigt, wie es auch Humboldt schon 1812 formuliert hatte: "Die ungeheure Ebene, die sich zwischen den Missionen von San Fernando de Atabapo, Esmeralda, Maroa und San-Carlos del Río negro ausbreitet, zeigt uns die ausserordentliche Erscheinung von vier Flüssen, von denen zwey und zwey einander beynahe parallel, obwohl nach entgegengesetzten Seiten hin laufen. Der Orinoko fliesst nach N. W., der Guainia nach S. O., der Cassiquiare gegen S. und der Atabapo gegen N. [...] Das Innere von Guiana [...] ist so eben, dass die kleinsten Ungleichheiten des Bodens den Lauf der Flüsse daselbst bestimmen." (22) Die von Humboldt im Flußbett des Orinoko angenommene Wasserscheide, ein Sandrücken, hat Vareschi durch Messungen bewiesen und ihre Entstehung auf eine gewisse Düsenwirkung durch eine Flußtiefe oberhalb derselben zurückgeführt.

In seinem Schlußwort zum hier zitierten Artikel über die Ursachen und die Beschreibung der Gabelteilung betont Humboldt die Beziehungen zwischen Geographie und Geologie: "Ueberall bestimmt die Gestaltung des Bodens die Richtung der Flüsse, nach beständigen und gleichförmigen Gesetzen".

In diesem Satz sind die wichtigsten Grundaussagen des Humboldtschen naturwissenschaftlichen Schreibens enthalten: die Natur ist wohlgeordnet nach immerwirkenden Gesetzen, die der Naturforscher in der Fülle der Erscheinungen aufzuspüren hat, und die nicht ausschließlich aus der Sicht einer Disziplin, sondern in ihrer Verknüpfung und gegenseitigen Wechselwirkung, aus einem ganzheitlichen Blickwinkel gesehen werden sollten.

 

Anmerkungen:

(16) Humboldt, A. v.: Über die Verbindung zwischen dem Orinoko und dem Amazonenfluss. In: Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmels-Kunde 26(1812) v. Sept., S. 230-235. Diese Karte ist vorher schon im Journal de l’École Polytechnique 4(1810), Cahier 10, Nov., erschienen.

(17) Vgl. Fußn. 16. Man beachte den Fehler in der Richtungsangabe des Casiquiare auf der Karte - offensichtlich war der Stecher durch die der Natur scheinbar widersprechende Richtungsvielfalt verwirrt!

(18) Alexander von Humboldt. Die Forschungsreise in die Tropen Amerikas. Hrsg. u. komment. v. Hanno Beck u. a. Darmstadt 1997. (Studienausgabe in sieben Bänden. 1, 1-3.) Teilbd. 3, S. 80.

(19) Vgl. Fußn. 18, S. 81

(20) A. v. Humboldt. Reise durch Venezuela (vgl. Fußn. 8), S. 330.

(21) Vgl. Fußn. 14.

(22) Vgl. Fußn. 16.

 

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