Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

__________________________________________________________________

HiN                                                     II, 3 (2001)
 
__________________________________________________________

Gerhard Kortum: Humboldt der Seefahrer und sein Marinechronometer
Ein Beitrag zur Geschichte der Nautik und Meereskunde

 

2. Über Zeitmessung, Chronometer und das Längenproblem

Ein zentrales, aber wenig beachtetes Instrument in HUMBOLDTs Arbeiten ist der Chronometer. Dieser nautische Zeitmesser ist weit mehr als eine genau gehende Uhr, er wird von HUMBOLDT und seiner Zeit als wichtiges astronomisches und geodätisches Gerät verwendet.

Wir alle leben mit und in der Dimension Zeit, die die Stunden, Tage, Monate, Jahreszeiten und Jahre zählt. HUMBOLDT lebte ein sehr langes Leben, schon die chronologische Übersicht füllt ein kleines Buch (BIERMANN, JAHN, LANGE 1983). Er blieb bis ins hohe Alter wissenschaftlich produktiv. Dennoch kämpfte er zuletzt gegen die Zeit, die er für sich ablaufen sah. Er konnte wesentliche Werke, wie den "Kosmos" und auch die Beschreibung seiner Südamerika-Expedition (1799-1804), nicht abschließen. Sein Manuskript über Meeresströmungen blieb ebenfalls bis heute unveröffentlicht (ENGELMANN 1969, KORTUM 1990). Zeit ist ohne Anfang und Ende und bestimmt den Takt unseres Lebens. Nicht die Zeit an sich, sondern die Methoden der Zeitgliederung und Zeitmessung sind kosmische Größen und sind durch astronomische Abläufe bedingt, insbesondere die Bewegung der Erde um sich selbst und die Jahresreise unseres Planeten um die Sonne. Die Geschichte der Astronomie ist auch die Geschichte der Kalenderentwicklung und Zeitmessung. Diese ist wiederum einmal als physikalisches Meßproblem, andererseits in den mechanisch-instrumentenkundlichen und auch handwerklichen Aspekten zu sehen (Chronometrie, Horologie).

Zeit verrinnt, wie im Stundenglas. Das Stundenglas war auf Schiffen bis zur Einführung von Seeuhren das wichtigste Gerät zur Zeitmessung. Pendeluhren, die im 17. Jahrhundert aufkamen, sind für den Gebrauch auf See wegen der ständigen Schiffsbewegungen nicht gut tauglich, von Sonnenschein ganz zu schweigen. Man konnte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zwar auf See die geographische Breite sehr gut durch Beobachtung des Sternenhimmels, konnte aber nicht die geographische Länge bestimmen. Sie wurde über den Kurs und das Log abgeschätzt (dead reckoning), wobei die Stromversetzungen durch Meeresströmungen zu erheblichen Fehlern in der Positionsbestimmung auf See führten. Diese Unsicherheiten haben zu vielen Schiffsverlusten geführt. Gleichzeitig war die Beobachtung und großräumige Erfassung von Meeresströmungen lange Zeit abhängig von der Analyse von sog. "Besteckversetzungen" nach Logbuchaufzeichnungen der Schiffskapitäne, die nicht nur ihre geographische Breite, sondern insbesondere ihre Länge hinreichend exakt festlegen konnten.

Dies war noch bis Ende des 18. Jahrhunderts ein ganz erhebliches Problem (vgl. SOBEL 1995). Die Lösung ergab sich schließlich in Abwendung von den zunächst favorisierten astronomischen Methoden (insbesondere der Methoden der Beobachtung der Monddistanzen und Stellung der Jupitermonde) durch die Entwicklung präziser mechanischer Zeitmesser, denn Längenbestimmung ist Zeitbestimmung gegenüber einer mitgenommenen Referenzzeit, für die sich bald auf Grund der überlegenen englischen Seekarten diejenige der 1675 gegründeten Sternwarte von Greenwich durchsetzte (Nullmeridian). Ein weiterer Grund für die Dominanz von Greenwich war die langjährige Tätigkeit von Nevil MASKELYNE (1732-1811) als Königlicher Astronom auf der Sternwarte. Er hielt nicht viel von mechanischen Uhren, sondern vertrat die Methode der Monddistanzen und gab zur genauen astronomischen Längenbestimmung auf See jährlich den auf die Zeit von Greenwich bezogenen Nautical Almanac heraus. - Diesen hat HUMBOLDT auf seiner Reise ebenfalls benutzt, er war auch mit diesem Verfahren wohl vertraut. Jeder Besucher von London sollte sich die Zeit nehmen, sich mit dem Problem der Zeitmessung durch Besuch des historischen Sternwartenkomplexes auf dem Hügel über der Themse vor den Toren der Stadt vertraut zu machen (mit National Maritime Museum an der Themse).

HUMBOLDT war zwischen 1790 und 1842 sechsmal in London. Am 31. Oktober 1816 führte er mit seinem Freund François ARAGO (1787-1853) auf dem Hügel der Sternwarte von Greenwich geomagnetische Messungen durch. 1842 bedauerte er, daß er wegen anderer Verpflichtungen während seines Aufenthaltes in London keine Zeit fand, die Sternwarte von Greenwich zu besuchen. Diese hatte bei der Entwicklung nautischer Uhren in England eine besondere Bedeutung und wurde schließlich internationaler Referenzpunkt (seit 1884, Internationale Meridiankonferenz in Washington, D.C.). Seitdem bestimmt Greenwich die Zeit der Welt. Die Franzosen verwendeten aber noch bis 1911 weiter ihren Pariser nationalen Bezugsmeridian und sprachen nicht von "Mittlerer Zeit von Greenwich" sondern "Mittlerer Zeit von Paris, verspätet um 9 Minuten, 21 Sekunden", dies ist der zeitliche Längenunterschied beider Sternwarten.

HUMBOLDT verwendete in seinem Reisewerk den Pariser Bezugsmeridian, bisweilen den von Cadiz, für Positionsangaben in der Neuen Welt. Der Vollständigkeit halber sei angefügt, daß auf älteren Kartenwerken auch oft der Meridian von Ferro (Kanarische Inseln) als Bezug gewählt wurde (17°40' westl. von Greenwich).

Über den mit dem Teleskop von Bord zu beobachtenden Fall des Stundenballs auf dem Dach dieser Sternwarte in Greenwich (seit 1833) und anderer "Zeitinstitute" in Überseehäfen anderer Länder konnte der Bordchronometer eingestellt und diese Zeit dann mit auf die Reise genommen werden.

Es ist hier noch zu erwähnen, daß das Problem der Längenbestimmung zwar schließlich durch die Weiterentwicklung der Chronometer, insbesondere durch John und William HARRISON in England eine Lösung fand, aber in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus auch andere Methoden diskutiert und erprobt wurden. Neben astronomischen Verfahren (Ermittlung der Monddistanzen und Ephemeriden-Tabellen, ferner Einbeziehung der Bewegungen der Jupiter-Monde) war auch die Isogonen-Methode im Gespräch. Hiernach können zur Längenbestimmung auch die Linien gleicher magnetischer Stärke und Abweichung herangezogen werden.

Schiffsoffiziere wurden auf den Seefahrtsschulen quasi zu praktischen Astronomen ausgebildet. Die astronomische Navigation umfaßt nahezu den gesamten zweiten Band des "Lehrbuchs der Navigation" (herausg. vom Reichs-Marine-Amt in Berlin 1906). Die Beschreibung, Zweck und Gebrauch sowie Pflege des Chronometers nimmt hierbei einen sehr breiten Raum ein (S. 290-398). Erst langsam entwickelte sich die Chronometertechnik soweit, Instrumente von solcher Zuverlässigkeit zu konstruieren, daß eine Übereinstimmung ihrer Anzeigen mit der tatsächlichen Zeit von Greenwich bis auf wenige Minuten selbst nach mehrmonatigen Seereisen gegeben war. Dabei war eine wesentliche Voraussetzung für die Nautiker, daß die Chronometer vor der Ausreise sorgfältig geprüft und die Instrumente bei dem Transport, der Aufstellung an Bord sowie bei Benutzung auf See mit äußerster Sorgfalt behandelt wurden. Jeder Chronometer, selbst Wunderwerk der Feinmechanik, war auch bei Serienfertigung individuell in der Gangart und seiner Anhängigkeit von äußeren Einflüssen wie Temperatur, Feuchtigkeit u.a. Selbst Zeitpunkt und Art des Aufziehens war wichtig. Meist wurde diese Aufgabe deshalb nur einem bestimmten Offizier zugeteilt, der hierüber Eintragungen im Chronometerbuch zu machen hatte. Der Chronometer war zwar eine sehr genau gehende Uhr, er zeigte aber nicht die Uhrzeit auf dem Schiff an (Ortszeit), sondern trug die Greenwich-Zeit mit sich. Durch exakte Feststellung der Mittagszeit auf dem fahrenden Schiff und ihrer Inbeziehungsetzung zur Chronometerzeit errechnet sich die exakte geographische Länge, 1 Stunde später entspricht genau 15° West bez. 1 Stunde früher Mittagszeit auf dem Schiff (oder einem Ort auf dem Festland) vor der Greenwichzeit 15° östliche Länge. Eine volle Erdumdrehung von 360° ergibt 24 Stunden. Damit ist geographische Länge Zeit, und Zeitunterschiede entsprechen Längenunterschieden. Das weiß heute jeder, der mit dem Flugzeug den Atlantik von oder nach Amerika überquert, aus seiner eigenen Erfahrung des "jet lag". Damals im 18. Jh. war die Länge eines der größten wissenschaftlichen Probleme (Untertitel SOBEL 1996).

Navigationsschüler mußten aber bis vor kurzem im sachgemäßen Gebrauch des Sextanten und des Chronometers ausgebildet werden, ein guter und erfahrener Kapitän konnte mit diesen Grundinstrumenten seine Position bei günstigen Bedingungen bis auf etwa 2 Seemeilen genau feststellen.

Seeuhren, auch Längenuhren oder Bord- oder Marinechronometer genannt, waren somit eigentlich nautische Instrumente. Wenn sich zwei Schiffe auf dem Ozean begegneten, war es alter Seemannsbrauch, daß man im gegenseitigen Interesse den Chronometerstand verglich. Sicherheitshalber führte man auf längeren Reisen auf einem Schiff oft gleich mehrere gute "Zeithalter" mit, auf der Weltumsegelung von Charles DARWIN mit der "Beagle" (1831-1836) waren es zur Erprobung für Vermessungsarbeiten sogar 32. Aus diesen Gründen wird verständlich, daß gute Uhrmacher in allen seefahrtstreibenden Nationen gesucht wurden und diese in Kommandostäben der Flotten, aber auch in allen Häfen mit Überseehandel ein gutes Auskommen fanden. Das Mitführen von Schiffschronometern in der nautischen Grundausstattung ist seit etwa 15 Jahren nicht mehr von den Klassifizierungsbehörden vorgeschrieben. Mit Aufkommen der Radioübertragungen wurden zu bestimmten Tageszeiten über Jahrzehnte zur Unterstützung der Seefahrt bestimmte Zeitzeichen ausgestrahlt. Die Zeit des Chronometers ging zu Ende. Funkmessverfahren wie LORAN oder DECCA erlaubten seit den 60er Jahren des 20. Jhds. eine gute Standortbestimmung auf See. Heute kann man mittels DGPS (Differential Global Positioning System) mit Verfahren der Satellitennavigation auf jedem Teil der Ozeane den Schiffsort mit einer Genauigkeit von 10 m bestimmen, dies entspricht einem Bruchteil der Länge vieler Schiffe. Satellitennavigation und elektronische Seekarte sind heute auf allen Seeschiffen Standard, Sextanten und Chronometer gehören zur musealen Vergangenheit der Seefahrt, sie sind heute begehrte Nautiquitäten.

 

letzte Seite | Übersicht | nächste Seite